SPD in der Krise

Zum SPD-Zukunftskonvent in Nürnberg

Der so genannte Zukunftskonvent der SPD, der am vergangenen Samstag in Nürnberg stattfand, hat die tiefe Krise verdeutlicht, in der sich die Sozialdemokraten nach zehn Regierungsjahren befinden. Angestrengt versucht die ehemalige "Volkspartei" zu verhindern, dass sie aufgrund der sozialen Polarisierung und wachsenden Armut weiter an Unterstützung verliert. Aktuellen Umfragen zufolge würden derzeit nur noch 20 Prozent der Wähler der SPD ihre Stimme geben.

Der Zukunftskonvent wurde als Bühne inszeniert, um den angeschlagenen SPD-Vorsitzenden Kurt Beck in der Öffentlichkeit wieder aufzubauen. Zuvor hatte es im Partei-Vorstand Auseinandersetzungen darüber gegeben, ob nicht auch Außenminister Steinmeier ein gleich langes Referat halten solle. Steinmeier steht, wie fast alle Außenminister vor ihm, aufgrund seiner Distanz zur Innen- und Sozialpolitik in den Umfragewerten deutlich günstiger da als Beck. Er gilt daher neben Beck als möglicher Kanzlerkandidat für die Bundestagswahl im nächsten Jahr. Man einigte sich schließlich im SPD-Vorstand darauf, Beck in Nürnberg eine letzte Chance zu geben und Geschlossenheit vorzutäuschen.

So zog er mit einem Tross von Leuten in den Saal, die rund 3.000 Anwesenden brachten stehende Ovationen und der Moderator rief über Mikrofon: "Die Zukunft der SPD kann ab sofort wieder beginnen." An der Wand prangte das Motto des Konvents: "Aufstieg und Gerechtigkeit" - in dieser Reihenfolge. Vor etwa eineinhalb Jahren hatte Beck noch die so genannte "Unterschichtdebatte" losgetreten, indem er Arbeitslosen und Armen "mangelnden Aufstiegswillen" - einfacher ausgedrückt: Faulheit - vorwarf.

Nach seinem Einzug in den Saal sprach er. "Viel, viel zu viel", kommentierte die Presse. "Ohne Orientierung" sei seine Rede dahin "mäandert" und habe über 170 Jahre deutscher Geschichte umrissen.

Beck übte zu Beginn Selbstkritik und gab nichtssagende Bekenntnisse zum Mindestlohn, zum Atomausstieg und zu Investitionen in Bildung, Forschung und Familie ab. Gleichzeitig wollen er und die SPD - sehr zur Freude von Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) - bis 2011 zunächst den Bundeshaushalt sanieren, d.h. an der bisherigen Sozialpolitik festhalten. Dann - also frühestens in drei Jahren - könne man über die Entlastung geringer Einkommen sprechen.

Laut dem elfseitigen Papier zum Konvent, das den Titel "Aufstieg und Gerechtigkeit" trägt, soll die Sozialbeitragsquote bis 2018 um 4 Prozent auf dann 36 Prozent sinken. Aufgrund der hälftigen Finanzierung durch Unternehmen und Beschäftigte bedeutet dies eine Entlastung der Einkommen um zwei Prozent in zehn Jahren. Diese schlägt erfahrungsgemäß durch entsprechende Kürzungen bei den Kassenleistungen in mehrfacher Höhe auf den Geldbeutel der Betroffenen zurück. Das nennt die SPD "Aufstieg und Gerechtigkeit"!

SPD-Chef Beck betonte auch, dass er die von der CSU ausgelöste "Steuersenkungshysterie" nicht mitmache. Die CSU, die Gefahr läuft, bei den bayerischen Landtagswahlen im September nach Jahrzehnten ihre absolute Mehrheit zu verlieren, hatte kürzlich aus wahltaktischen Gründen ein 28 Milliarden Euro umfassendes Steuersenkungsprogramm vorgestellt.

Die Presse hat Becks Rede, die aus leeren Bekenntnissen und Durchhalteparolen bestand, mit einer Mischung aus Spott und Mitleid kommentiert. Zeit Online beschreibt sie mit den Worten: "Beck kämpft, er redet engagiert und verheddert sich nur selten in Nebensätzen und falschen Bildern. Für Becksche Verhältnisse ist das eine ordentliche Rede."

Vor allem eine Szene haben mehrere Zeitungen aufgegriffen. Nach der Rede übernahm der Moderator und rief ins Mikro: "Kurt Beck: 78 Minuten Dynamik." Spiegel Online nennt dies "Realsatire". Zum Schluss lieh sich auch noch SPD-Generalsekretär Hubertus Heil den Schlachtruf des demokratischen Präsidentschaftswahlkandidaten Barack Obama und rief ins Mikrofon: "Sprecht mir nach: Yes we can." Da kaum einer der anwesenden Sozialdemokraten sich mitreißen ließ, folgerte die Süddeutsche Zeitung : "No they can’t."

Das Dilemma der SPD

Es wäre allerdings falsch, den Parteichef allein für den Zustand der SPD verantwortlich zu machen. Der rheinland-pfälzische Ministerpräsident Beck und seine Rede auf dem Zukunftskonvent sind vielmehr Ausdruck und Symptom einer unheilbaren Krise der Partei.

Die SPD hält an ihrem bisherigen Kurs der Sozialkürzungen fest, will diesen aber 15 Monate vor der nächsten Bundestagswahl in sozialreformerische und "linke" Worte kleiden. Das ist schlicht unmöglich. 1998 hatte sie die Bundestagswahl gewonnen, weil es ihr gelungen war, sich nach 16 Oppositionsjahren wieder als Partei der "kleinen Leute" darzustellen. Nach zehn Regierungsjahren - sieben im Bündnis mit den Grünen und drei mit der Union - wird sie von breiten Bevölkerungskreisen mit den sozialen Einschnitten bei den Armen, Arbeitslosen und Arbeitern bei gleichzeitiger Umverteilung der eingesparten Milliarden an Unternehmen und Reiche identifiziert.

Ihr Versuch, sich wieder den Mantel der sozialen Gerechtigkeit umzuhängen, gleicht der Quadratur des Kreises. Wer nimmt der SPD noch ab, für "Aufstieg und Gerechtigkeit" zu stehen? Die Agenda 2010, an der die meisten führenden Sozialdemokraten wie Bundesfinanzminister Peer Steinbrück, Außenminister Frank-Walter Steinmeier, Ex-Bundeswirtschaftsminister Wolfgang Clement sowie Ex-Bundesarbeitsminister Franz Müntefering festhalten, hat für den größten sozialen Kahlschlag seit dem Zweiten Weltkrieg gesorgt.

"Wir sind die Partei der Mitte", beschwor Kurt Beck die SPD in Nürnberg. Doch diese Mitte bricht weg. Immer weniger Leute in Deutschland haben ein gesichertes und ausreichendes Einkommen. Das "Unten" und das "Oben" driften auseinander.

Dieses Dilemma wiederspiegelt sich auch im gespaltenen Verhältnis der SPD zur Linkspartei. In dieser Frage vollzieht Beck seit Wochen einen Schwenk nach dem andern, wobei ihm jede Kehrtwende weitere Verluste in den Umfragen einträgt.

Die Linkspartei, geführt vom ehemaligen SPD-Vorsitzenden Oskar Lafontaine, versucht, die sozialreformistischen Illusionen neu zu beleben, die die SPD mit der Agenda 2010 zu Grabe getragen hat. Da sie zur Zeit mit Ausnahme des Landes Berlin keine Regierungsverantwortung trägt, ist ihr dies teilweise gelungen. Sie ist als fünfte Partei in den Bundestag und mehrere Landesparlamente eingezogen.

Hält diese Entwicklung an, wird die SPD für lange Zeit keinen Regierungschef mehr stellen können, wenn sie nicht mit der Linkspartei koaliert. Eine Koalition mit FDP und Grünen ist eher unwahrscheinlich, solange Guido Westerwelle an der Spitze der Liberalen steht. Zur Zeit führt die SPD nur noch in fünf von 16 Bundesländern die Regierung: In Rheinland-Pfalz alleine, in Berlin im Bündnis mit der Linkspartei, in Bremen mit den Grünen und in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern mit der CDU.

Lehnt die SPD eine Koalition mit der Linkspartei kategorisch ab, begibt sie sich in die babylonische Gefangenschaft der Union, der neben der SPD auch die FDP und neuerdings die Grünen als mögliche Koalitionspartner zur Verfügung stehen. Befürwortet sie eine Koalition mit den Linken oder hält sie sich diese Option offen, provoziert sie den Aufschrei der Parteirechten, die im Antikommunismus des Kalten Krieges verhaftet sind.

Vor der Hessenwahl im Januar hatte SPD-Chef Beck erklärt, er lehne jegliche Zusammenarbeit mit der Linkspartei ab. Als er diese Aussage nach der Wahl zurückzog und der Tolerierung einer rot-grünen Regierung durch die Linkspartei das Wort redete, gab es heftige Konflikte innerhalb der SPD. Der rechte Flügel ließ lieber den CDU-Ministerpräsidenten Roland Koch im Amt, als sich dem Wählervotum zu beugen.

Mit der Nominierung von Gesine Schwan zur SPD-Kandidatin für das Bundespräsidentenamt schien sich Beck dann wieder in Richtung Linkspartei zu öffnen. Schwan kann in der Bundesversammlung nur mit den Stimmen von Grünen und Linkspartei gewählt werden, da Union und FDP den amtierenden Präsidenten Horst Köhler unterstützen. Schwan kündigte an, sie werde sich um die Unterstützung der Linkspartei bemühen.

Erneut erfolgte der Aufschrei der Parteirechten, diesmal in Person von Becks Amtsvor-vorgänger Franz Müntefering. Er forderte einen bindenden Parteibeschluss, der nach der Bundestagswahl 2009 jede Zusammenarbeit mit den Linken ausschließt. Beck gab wiederum nach. In Nürnberg verkündete er: Auf keinen Fall mit der Linkspartei.

Viele Kommentatoren betrachten diesen Zickzackkurs Becks als Hauptgrund für den Niedergang der SPD. Die Partei, schreiben sie, habe jede Verlässlichkeit eingebüsst. Doch diese Analyse bleibt an der Oberfläche. Becks Schwanken gegenüber der Linkspartei ist ein Ergebnis der Tatsache, dass unmöglich geworden ist, eine Politik im Interesse der arbeitenden Bevölkerung mit der Verteidigung der kapitalistischen Marktwirtschaft zu verbinden.

Die Globalisierung hat den alten reformistischen Konzepten den Boden entzogen. Nicht die nationale Regierung bestimmt die Politik im jeweiligen Land, sondern transnationale Konzerne und internationale Finanzinstitute. Sie sind in der Lage, ein Land gegen das andere auszuspielen und mit den Niedriglöhnen in China und anderswo Löhne und Sozialstandards weltweit zu senken.

Unter diesen Bedingungen hat sich die SPD unter Kanzler Gerhard Schröder mit der Agenda 2010 und den Hartz IV-Gesetzen von einer Partei des sozialen Ausgleichs in eine Partei der sozialen Konfrontation verwandelt. Die Bundesregierung mutierte ab 1998 mit ihrer Politik der Steuersenkungen für Unternehmen und Reiche zum verlängerten Arm der Finanzoligarchie. Dieselbe Entwicklung hat die Linkspartei in Berlin durchgemacht, wo sie seit sieben Jahren Regierungsverantwortung trägt. Nirgendwo sonst ist im öffentlichen Dienst und im sozialen Bereich so drastisch gekürzt worden.

Diese Wahrheit ist stärker als alle Medieninszenierungen und Wahlkampagnen. Kurt Becks Auftritt in Nürnberg steht stellvertretend für die Krise der SPD und des gesamten bürgerlich-parlamentarischen Systems.

Siehe auch:
SPD stellt Gesine Schwan zur Wahl der Bundespräsidentin auf
(29. Mai 2008)
Klinisch tot — Ein Kommentar zum SPD-Parteitag in Bochum
(28. November 2003)
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