Leserbrief zur Schließung der Nokia-Fabrik in Bochum

Der folgende Brief erreichte die World Socialist Web Site von einem Leser aus Rumänien. Er bezieht sich auf den Artikel "Nokia kündigt Schließung des Werks in Bochum an: Der Kampf zur Verteidigung der Arbeitsplätze erfordert eine internationale Strategie".

Ich habe diesen Artikel mit großem Interesse gelesen, weil ich mich gegenwärtig in der Stadt Cluj-Napoca (Rumänien) befinde, wohin Nokia nach der Schließung seiner Fabrik in Bochum einen Teil seiner Handy-Produktion verlagern will. Von den letzten fünfeinhalb Jahren habe ich dreieinhalb Jahre in diesem Teil der Welt gelebt, d.h. in Rumänien und Moldawien. Auch wenn ich in den letzten zehn oder elf Monaten nicht sehr lange in Cluj gewesen bin, habe ich mich in dieser Stadt doch länger als an irgendeinem anderen Ort dieser Weltregion aufgehalten.

Politisch kann man Rumänien vielleicht mit dem Amerika der 1950er Jahre, auf dem Höhepunkt der McCarthy Ära, oder mit den 1980ern der Reagan-Ära vergleichen. Die politische Debatte in allen wichtigen Parteien (und ich glaube, man kann sieben Parteien unter die Rubrik "von Bedeutung" fassen), gar nicht zu reden von den wichtigsten Zeitungen und elektronischen Medien, ist vollkommen von primitivem und dummem Antikommunismus geprägt. Deswegen sind linksorientierte Publikationen und Bücher, die eine auch nur ansatzweise kritische Einstellung gegenüber dem US-Imperialismus und dem Kapitalismus einnehmen, kaum zu finden. Wirklich sozialistische Publikationen existieren schlicht und einfach nicht. Bunte Plakate und Bücher offen faschistischer Gruppierungen sind dagegen unschwer zu finden. Und unverhüllte Pro-Nazi-Gruppen, deren Mitglieder grüne Hemden tragen, treffen sich im Zentrum der Hauptstadt in noblen Konferenzsälen.

Trotz alledem, wenn man mit den einfachen Leuten spricht, die dreizehn Jahre oder älter waren, als das stalinistische Regime von Nicolae Ceausescu Ende Dezember 1989 stürzte, sagen siebzig Prozent von ihnen, dass das Leben für sie heute schlechter ist. Das sagt wirklich einiges darüber aus, wie hart das Leben heute für die Mehrheit der Bevölkerung ist, weil schon unter Ceausescu seit 1981 eine ständige Verschlechterung der Lebensqualität für die Bevölkerung stattfand, als das Regime versuchte, die Auslandsschulden zurückzuzahlen.

Die Jugend (d.h. all jene, die nach 1989 geboren wurden oder damals erst Kinder waren) tendiert eher zu der Auffassung, dass die Lage heute besser sei. Rechte Konzeptionen haben einen relativ großen Einfluss unter ihnen. Zum Beispiel denken viele, der Wechsel vom Stalinismus zum Kapitalismus sei gleichbedeutend mit einer Entwicklung von Diktatur zu "Demokratie". Diese Vorstellung wird von dem Establishment des Landes systematisch propagiert.

Von 1990 bis 2000 hatte sich die Lage der Arbeiter, Bauern, Rentner und der armen Mehrheit der Roma dramatisch verschlechtert. In den letzten sieben Jahren (2001 bis 2007) hat es allerdings ein Wirtschaftswachstum von etwa sechs Prozent pro Jahr gegeben. Zweifellos sind die schmale Schicht von Superreichen und die habgierigen oberen Mittelschichten die Hauptnutznießer dieser Entwicklung, aber eine leichte Verbesserung (nach einem historisch beispiellosen ökonomischen Desaster) war auch für die übrigen Mittelschichten und die Arbeiterklasse festzustellen.

Mitte 2007 schien der Boom auf seinen Höhepunkt zuzusteuern. Der Lei [rumänische Währung] stieg auf 3,11 Lei für einen Euro, während er 2004 und Anfang 2005 noch bei 4,16 Lei für einen Euro gestanden hatte. Der Wechselkurs gegenüber dem Dollar war noch stärker gestiegen, und zwar von 3,46 auf 2,25 Lei für einen Dollar. Die Aufwertung der Währung fand statt, obwohl das Zahlungsbilanzdefizit enorm anstieg: Im Jahr 2007 stieg es auf 14 Prozent des BIP. Dieser Boom (der auch mit dem Beitritt des Landes zur Europäischen Union am 1. Januar 2007 zusammenfiel) führte zu einer Situation, die stark an Francis Fukuyamas Hypothese vom "Ende der Geschichte" - übertragen auf hiesige Verhältnisse - erinnerte: Es schien, als ob das Wirtschaftswachstum immer weiter gehen, und Rumänien dem Klub der relativ wohlhabenden Demokratien Westeuropas beitreten werde - bürgerlichen Staaten eben, obwohl dieser Ausdruck in der Presse oder den Medien nie auftaucht.

Nun, in den letzten sieben Monaten hat sich die Lage verändert - und zwar zum Schlechten.

Inzwischen ist der Lei wieder von 3,11 auf 3,66 pro Euro gefallen. Das hat den Inflationsdruck noch zusätzlich erhöht, der sich schon seit dem Sommer aufgebaut hat. Grund war zumindest teilweise eine schwere Dürre, die zu schlechten Ernten führte, und dadurch zu höheren Preisen für alle möglichen landwirtschaftlichen Produkte.

In Gesprächen mit verschiedenen Leuten - Jugendlichen, Arbeitern - zeigt sich in der letzten Zeit eine wachsende Unzufriedenheit. Die Leute sprechen über starke Preiserhöhungen bei Lebensmitteln und darüber, wie schwierig das Leben hierzulande ist. Die relativ guten Zeiten haben sich wieder verschlechtert (und die Pläne der rumänischen Zentralbank, die Zinsen deutlich zu erhöhen, werden die Lage ziemlich sicher noch verstärken). Das spüren die Leute.

Nokia ersetzt seine Fabrik in Bochum mindestens zum Teil durch eine neue hier in Cluj-Napoca. Diese Stadt liegt in einer der besser entwickelten Gegenden des Landes. In den letzten Monaten sind hier einige neue Einkaufsstraßen entstanden. Es gibt Berichte, dass DaimlerChrysler hier ein Werk aufbauen will (wahrscheinlich als Ersatz für ein anderes Werk in Westeuropa, wo die Arbeiter besser bezahlt sind). Daher kommt es, dass einige Leute optimistisch sind, was die Entwicklung der örtlichen Wirtschaft, den Lebensstandard in einigen Regionen usw. betrifft.

In Rumänien beträgt das durchschnittliche Nettoeinkommen im Monat etwa 300 Euro. Weil die Preise hier kaum niedriger sind als in Westeuropa, finden die meisten Rumänen solche Löhne ziemlich niedrig. Einen Nettolohn von 500 Euro, so scheint mir, würde den meisten Rumänen schon ganz ordentlich vorkommen.

Mal abgesehen von dem antikommunistischen Schwachsinn, mit dem sie tagtäglich bombardiert werden, und auf den ein beachtlicher Teil der Bevölkerung auch hereinfällt, scheint mir ein weiteres Problem in der Art und Weise zu bestehen, wie viele Menschen an die drängenden politischen, ökonomischen und sozialen Fragen herangehen: Sie konzentrieren sich nur auf die unmittelbare Lage vor Ort und sehen nicht, wie diese mit globalen Fragen zusammenhängt. Außerdem sind viele hier so an ein extrem schwieriges Leben gewöhnt, dass schon ein Nettolohn von 500 Euro oder ein bisschen mehr dazu führen würde, sie ihrem Boss gegenüber "dankbar" zu stimmen. Sie würden leicht die Tatsache aus den Augen verlieren, dass selbst solche relativ niedrigen Löhne (sowohl verglichen mit den Lebenshaltungskosten im Land, wie auch mit den Löhnen im übrigen Europa) nur dadurch zustande kommen, dass ihre etwas besser bezahlten Klassenbrüder und -schwestern in Westeuropa ihre Arbeitsplätze verlieren.

Für mich, der ich versuche, die Idee des internationalen Sozialismus in Ländern wie Rumänien und Moldawien zu verbreiten, liegt der Schlüssel für eine wirkliche Verbesserung der Lage der Massen der ärmeren Regionen darin, Solidarität mit Arbeitern in anderen Ländern und Nationalitäten zu üben. Unabhängig davon, woher sie kommen, müssen Arbeiter verstehen, dass der einzige Weg vorwärts darin besteht, sich im Kampf für eine neue globale Orientierung und Strategie zusammenzuschließen. Nur so können sie gegen die multinationalen Konzerne bestehen, die ständig versuchen, sie gegeneinander auszuspielen. Das ist die unabdingbare Voraussetzung für den Kampf, eine neue demokratische, gleiche und friedliche Weltordnung - d.h. den wirklichen (den internationalen) Sozialismus - aufzubauen.

AW

Rumänien

Siehe auch:
IG Metall und Nokia-Betriebsrat verkünden endgültiges Aus für Bochumer Werk
(15. Februar 2008)
Treffen der europäischen Nokia-Betriebsräte - Gewerkschaften stellen sich offen auf die Seite der Konzernleitung
( 2. Februar 2008)
Loading