BVG Arbeiter hoffen auf eine Ausweitung des Streiks

Skepsis gegenüber Verdi

Seit vier Tagen befinden sich die Beschäftigten der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) in einem unbefristeten Streik. Die Streikenden fordern eine acht-bis-elf-prozentige Lohnerhöhung und damit eine Angleichung der Löhne von Alt- und Neubeschäftigten. Eingedenk einer Lohnkürzung von zwölf Prozent im Jahr 2005, ist diese Forderung mehr als moderat und läuft auf die Jahre gerechnet schließlich auf einen erheblichen Reallohnverlust hinaus.

Nichtsdestotrotz zeigte sich der rot-rote Senat völlig unnachgiebig. Er hielt an seinem zynischen Angebot fest, den neueingestellten Kollegen sechs Prozent mehr Lohn zu zahlen und den Altbeschäftigten eine Nullrunde zu verordnen. Während Berlins Regierender Bürgermeister Klaus Wowereit den Streik als irrational bezeichnete und die Beschäftigten aufforderte, "zur Besinnung zu kommen", erklärte sein Finanzsenator Thilo Sarrazin, dass die BVG-Beschäftigten schon jetzt mehr verdienten, als sie am Markt wert seien. Berichten zufolge soll Wowereit schon im Januar angekündigt haben zurückzutreten, sollten den öffentlich Beschäftigten irgendwelche Zugeständnisse gemacht werden.

"Wenn wir das gewusst hätten, hätten wir schon viel früher gestreikt", entgegnet darauf ein 45-jähriger Busfahrer, der aus Angst vor beruflichen Konsequenzen seinen Namen nicht nennen möchte. Reporter der WSWS sprachen mit ihm und seinen Kollegen an einem Streikposten am Busdepot in der Berliner Cicerostrasse. Er fährt seit 17 Jahren für die BVG. Angesichts des seit Jahren sinkenden Reallohns wisse er nicht mehr, wie er seine vier Kinder über die Runden bringen solle. "Die haben in den letzten Jahren immer mehr Lohn gestrichen. Wenn wir jetzt bei den steigenden Preisen nicht mehr herausholen können, weiß ich nicht mehr weiter. Gleichzeitig ist da auch immer die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren."

Alle Kollegen schauen erwartungsvoll zur Gewerkschaft der Lokführer (GDL), denn dort ist der Großteil der S-Bahnfahrer organisiert. "Es ist wichtig, dass die S-Bahnen am Montag mitstreiken, um den Druck gegenüber dem rot-roten Senat zu erhöhen." Das ist die einhellige Meinung an diesem Streikposten. BVG und S-Bahn hatten zum letzten Mal bei dem großen Streik im öffentlichen Dienst 1974 zeitgleich gestreikt. Der öffentliche Nahverkehr der Hauptstadt würde damit nahezu vollständig zum Erliegen kommen.

Ein anderer Busfahrer, der soeben sein 25-jähriges Dienstjubiläum gefeiert hat, erklärt gegenüber der WSWS die Bedeutung der Solidarität in der Bevölkerung: "Wir kämpfen nicht nur für unseren Lohn. Die Politik will die Schere zwischen arm und reich immer weiter auseinandertreiben. Unser Streik ist auch gegen diese Politik gerichtet. Wenn Sarrazin Arbeiter beleidigt und Unterernährung propagiert, ist das nicht hinzunehmen. Die Mehrheit der Bevölkerung ist mit den gesellschaftlichen Bedingungen nicht einverstanden und die Politik versucht, den Widerstand kleinzukriegen, um weitere Kürzungen durchzusetzen. In diesem Zusammenhang sehe ich unseren Streik."

Ein Kollege, 52, pflichtet ihm bei. "Vom Senat erwarte ich keine Unterstützung, wohl aber von der Bevölkerung. Die große Mehrheit, all jene, die immer weniger in der Tasche haben, müssen unseren Streik unterstützen. Wenn wir im öffentlichen Bereich Lohnerhöhungen durchsetzen, hat das auch Auswirkungen auf die Privatwirtschaft. Unser Streik kann den Leuten für einen größeren Kampf Mut machen."

Von solchen Perspektiven ist die zuständige Gewerkschaft Verdi weit entfernt. Obwohl sie in ganz Deutschland gerade Arbeitskämpfe organisiert, ist sie fest entschlossen, die einzelnen Tarifkämpfe voneinander zu isolieren und eine politische Bewegung gegen die rot-rote Regierung in Berlin und die große Koalition im Bund zu verhindern. Das Zusammenfallen der BVG- und S-Bahn Streiks bezeichnete die Verdi-Zenrale in Berlin daher als "unglücklich".

Verdi hatte 2005 zusammen mit den Senatsparteien SPD und Linkspartei beispiellose Kürzungen im öffentlichen Dienst und bei der BVG durchgesetzt. BVG-Beschäftigte mussten auf bis zu zwölf Prozent ihres Gehaltes, sowie auf Urlaubs- und Wehnachtsgeld verzichten. Dafür wurde ihnen Arbeitsplatzsicherheit bis 2020 garantiert, die aber jetzt schon wieder zur Disposition steht. Verdis Rolle bestand damals darin, die Kürzungen, die zwischen Verdi-Chef Bsirske und dem Wirtschaftssenator Harald Wolf (Linkspartei) auf einem mittlerweile berühmten "Waldspaziergang" ausgehandelt worden waren, gegen die Beschäftigten durchzusetzen. "2005 hatte uns Verdi einen Sieben-Punkte-Plan vorgelegt" berichtet ein Busfahrer an der Cicerostrasse, "über den wir abstimmen sollten. Angeblich hat der eine Mehrheit gefunden. Anschließend wurden aber noch Dutzende weiterer Punkte nachverhandelt, die alle auf Kosten der Arbeitnehmer gingen. Darauf hatten wir Mitarbeiter keinerlei Einfluss mehr."

"Verdi kann sich diesmal definitiv keinen solchen Deal mehr leisten." fährt er fort. "Die Kollegen haben längst bemerkt, dass wenn sie ihren Gewerkschaftsbeitrag jeden Monat auf ein extra Konto überweisen und ansparen, sie das Streikgeld locker raus hätten und unabhängig von der Gewerkschaft wären. Ich habe schon überlegt, das so zu machen. Trete ich jetzt aber innerhalb eines Jahres aus der Gewerkschaft aus, muss ich das Streikgeld vollständig zurückzahlen. Deshalb überlegen so viele Kollegen, in die GDL einzutreten." Tritt man in eine andere Gewerkschaft ein, gilt die Streikgeld-Regelung nicht.

Ein 23-jähriger Busfahrer, der erst seit einem Jahr dabei ist und im Monat nur 1650 Euro brutto verdient, unterstützt diese Auffassung. Er habe vom 2005er Abkommen nichts mitbekommen und habe noch ein gewisses Vertrauen in die Gewerkschaft. Viele Kollegen seien aber sehr skeptisch. "Wenn Verdi diesen Streik ausverkauft, werden Massen an Kollegen die Gewerkschaft verlassen und in die GDL eintreten."

Laut GDL-Angaben sind schon 500 Bus- und Bahnfahrer in Berlin zur Lokführergewerkschaft übergetreten. Die GDL hatte sich einen Namen gemacht, weil sie als Lokführergewerkschaft dem Tarifkartell der DGB-Gewerkschaften bei der Bahn AG entgegengetreten war und eigenständige Lohnforderungen gestellt hatte.

Die in der GDL organisierten BVG-Mitarbeiter haben einen Infopoint in einem Lokal am Ostbahnhof eingerichtet. Dort erklärte Gerd Rainer Giese, ein freigestellter Betriebsrat der BVG, der vor kurzem zur GDL übergetreten ist, gegenüber der WSWS, warum immer mehr Kollegen zur GDL kämen. "Die letzte Verräterei von Verdi 2005 war eindeutig eine zu viel. Da haben sich viele Kollegen gesagt - mit uns nicht mehr! Jetzt stellen Bsirske und Konsorten sich hin und organisieren einen Streik gegen genau das, was sie 2005 selbst durchgesetzt haben. Viele Kollegen, die noch bei Verdi sind, geben in diesem Streik Verdi eine letzte Chance; wenn diesmal wieder so ein Betrug herauskommt, dann werden sie zu uns wechseln."

Giese berichtet, wie Verdi systematisch versucht hat, die Unterstützung der GDL für den Streik zu torpedieren: "Wir haben sofort Solidaritätskomitees zu allen möglichen Gruppen von Streikenden geschickt und klargemacht, dass wir an der Seite der Verdi-Kollegen stehen - nur eben bei Verdi nicht mehr mitmachen. Das kam bei den Kollegen auch gut an. Die Führung aber hat getobt. Bei einer Kundgebung, wo zufällig das Fernsehen gleichzeitig mit unseren Leuten ankam, haben sie sofort einen Ring aus treuen Verdi-Mitgliedern um uns herum gebildet, damit bloß keiner sieht, dass wir auch da sind."

Giese ist seit seinem Übertritt zur GDL mit heftigen Attacken von Seiten Verdis konfrontiert. Er sagt: "Ich selber bin Betriebsrat; mir wollen sie jetzt meine Freistellung wegnehmen, also mit bürokratisch-organisatorischen Mitteln gegen mich vorgehen. Die Begründung ist, dass ich meine Stellung missbrauchen würde." Während er das sagt, erhält er einen Anruf von einem ehemaligen Verdi-Kollegen, der ihn wüst beschimpft, weil er in den Medien Stellung gegen Verdi bezogen hat.

"Wenn das so weitergeht, packe ich wirklich mal aus darüber, was bei Verdi so alles läuft. Da werden Gutachten zur Arbeitssicherheit im Panzerschrank versteckt gehalten - Gutachten, die Verdi in Auftrag gegeben hat! - weil sie die miserable Situation in Sachen Arbeitsschutz zu deutlich zeigen! Und das halten die unter Verschluss, das wollen sie nicht an der Öffentlichkeit haben! Ich war bei der Gründung eines Runden Tisches zu dem Thema dabei. Vor vier Jahren war das; seitdem haben wir uns nicht ein einziges Mal getroffen, das war einfach nicht erwünscht. Es sollte den Runden Tisch geben, mehr aber auch nicht. Und ich könnte noch viel mehr erzählen."

Siehe auch:
Die Streikbewegung im Öffentlichen Dienst erfordert eine neue politische Perspektive
(8. März 2008)
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