Europa stürzt in eine Rezession

Die Europäische Zentralbank EZB hat zum zweiten Mal innerhalb von weniger als einem Monat den Leitzins gesenkt. Die EZB senkte den zentralen Zinssatz bei ihrem Treffen in Frankfurt von 3,75 auf 3,25 um ein halbes Prozent. Es wird erwartet, dass der Satz bis April auf 2,5 Prozent sinken wird.

Vor dem Schritt der EZB hatte schon die Bank von England in einer überraschenden Entscheidung die Zinsen in Großbritannien um 1,5 auf 3,0 Prozent gesenkt, den niedrigsten Satz seit 1955.

Die Zinssenkungen sind ein weiterer Versuch, die europäischen Volkswirtschaften zu stimulieren. Der Kontinent bewegt sich Berichten zufolge auf eine Rezession zu und hat schon jetzt den schlimmsten Rückgang seit fünfzehn Jahren erlitten.

Alle bisherigen Versuche, die Banken dazu zu bewegen, mehr Kredite zu vergeben, um die Wirtschaft wieder in Fahrt zu bringen, sind gescheitert. Die Länder der Eurozone haben zusammen 1,3 Billionen Euro bereitgestellt, um ihre Banken zu schützen. Darin nicht enthalten sind Maßnahmen wie das britische 500 Mrd. Pfund Paket und andere Konjunkturprogramme, wie zum Beispiel der Plan von Kanzlerin Angela Merkel, die Wirtschaft mit 50 Mrd. Euro zu stützen. Selbst als den Banken Hunderte Milliarden Euro an Steuergeldern zugesteckt wurden, sind Zinssenkungen von den Banken oft nicht weitergegeben worden, sondern sie haben über Nacht Rekordsummen bei der EZB angelegt, anstatt sie untereinander zu verleihen.

In ihrem halbjährigen Bericht vom Dienstag gestand die Europäische Kommission ein, dass die fünfzehn Mitglieder der Eurozone, die zusammen ein Bruttoinlandsprodukt von 9,5 Billionen Euro haben, wahrscheinlich schon in der Rezession stecken - zum ersten Mal seit der Einführung der Währung im Jahre 1999.

Die Wirtschaft der Eurozone schrumpfte in den Monaten Mai, Juni, Juli um 0,2 Prozent - sowohl im industriellen Bereich wie bei den Dienstleistungen - und wird wahrscheinlich auch in den nächsten beiden Quartalen noch schrumpfen. Die Kommission erklärte dazu: "In 2009 wird das Wachstum in der EU zum Stillstand kommen."

Der europäische Wirtschafts- und Währungskommissar Joaquin Almunia warnte: "In dieser Vorausschau ist es Dunkel am Horizont."

Der Vorsitzende der Eurozone, Jean-Claude Juncker, gab vor dem Europäischen Parlament in Brüssel in erstaunlicher Offenheit seine Inkompetenz und Verwirrung zu. Er sagte: "Wir stehen vor einer Rezession. Wir haben das nicht erwartet. Wir haben ziemlich daneben gelegen, was die verschiedenen Stadien der Krise angeht.... Der Wind, der uns ins Gesicht bläst, hat sich zu einem ausgewachsenen Sturm verstärkt."

Der EU zufolge werden die Volkswirtschaften Irlands, Spaniens und Großbritanniens nächstes Jahr schrumpfen, während die deutsche Wirtschaft, die größte Europas, stagnieren wird. Die OECD erwartet für Deutschland sogar einen besonders drastischen Rückgang der Wirtschaftsleistung um 0,8 Prozent. Das Wachstum wird im nächsten Jahr in der gesamten EU wahrscheinlich nur 0,1 Prozent betragen. Für 2010 erwartet die Kommission für die Eurozone ein Wachstum von nur 0,9 Prozent.

Angesichts einer rückläufigen Nachfrage und strengerer Kreditkriterien wird es weniger Investitionen geben. Die Arbeitslosigkeit wird in der Eurozone von 7,5 Prozent im September auf 8,4 Prozent im nächsten Jahr steigen und 2010 weiter zunehmen. Haushaltsdefizite werden ebenso steigen. Unternehmens- und Konsumklima-Index sind auf ein 15-Jahres-Tief gefallen.

Wirtschaftsexperten der BNP Parisbas und der Citigroup sagten, die EU sei immer noch zu optimistisch. Für das nächste Jahr sagten sie ein Schrumpfen der Wirtschaft der Eurozone voraus. Jacques Cailloux, Chefökonom der Royal Bank of Scotland für die Eurozone, erklärte in London: "Die heutige BIP-Schätzung der Europäischen Kommission für 2009 von 0,1 Prozent Wachstum scheint uns immer noch zu optimistisch.... Eine Rezession scheint für 2009 unvermeidlich zu sein."

Neville Hill, Ökonom bei der Credit Swiss in London, wurde noch konkreter. Er sagte ein Schrumpfen der Wirtschaft um 0,3 Prozent im nächsten Jahr voraus. "Die Erwartung, dass die Eurozone im Jahresvergleich kein negatives Wachstum hinnehmen müsse, scheint allen Daten zu widersprechen", sagte er. "Wir stecken in einer besonders weit greifenden globalen Rezession, wie wir sie nie zuvor gesehen haben."

Auch der französische Ministerpräsident François Fillon gab zu, dass die zweitgrößte Volkswirtschaft der Eurogruppe "praktisch vor einer Rezession steht".

Auf dem heutigen EU-Gipfeltreffen hofft man, einen Plan für die Wiederbelebung der Wirtschaft zu formulieren und eine gemeinsame Position für den Weltgipfel zu finden, zu dem Präsident George W. Bush für den 15. November eingeladen hat. Wirtschafts- und Währungskommissar Joaquin Almunia sagte für die EU: "Wir brauchen auf EU-Ebene eine ähnliche koordinierte Aktion für die Unterstützung der Wirtschaft wie vorher für den Finanzsektor."

Was jedoch starke Zweifel hervorruft, ist die Tatsache, dass die EU bisher nicht in der Lage ist, eine koordinierte Antwort auf die Finanzkrise zu geben, nicht einmal jetzt, wo die Rezession schon in der Realwirtschaft ankommt. Bisher sind sämtliche Maßnahmen rein national und führen zu einem Konkurrenzkampf um Märkte und Investitionen. Insbesondere Deutschland, das als einziges Land noch keinen Anstieg der Arbeitslosigkeit zu verzeichnen hat, will seine ökonomische Stärke gegen die Konkurrenten ausspielen und hat sich gegen grenzüberschreitende Schritte gewandt.

In der Eurozone ist die Produktion im Oktober auf Rekordtiefstände gesunken. Produktion, Auftragseingänge und Verkäufe sind so stark zurückgegangen wie seit elf Jahren nicht mehr. Dies ist der fünfte Monat in Folge mit schrumpfender Produktion.

Der Einkaufsindex von Markit für den Produktionssektor der Eurozone ist auf den Rekordwert von 41,1 gefallen. In allen Ländern der Eurozone sind Auftragseingang und Ausstoß zurückgegangen. Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Irland erlitten Rekordrückgänge. Auch der Markit-Index für den Dienstleistungsbereich zeigt, dass die Wirtschaftstätigkeit im Oktober auf den tiefsten Stand seit der Einführung des Index’ vor zehn Jahren zurückgefallen ist.

"Erhebungen zeigen weiter Pessimismus auf Rekordniveau", sagte Guillaume Meneut von Merrill Lynch.

Auch der Einzelhandelsumsatz ging von August auf September um 0,2 Prozent und im Vergleich zum September des letzten Jahres um 1,6 Prozent zurück. In den fünfzehn Ländern der Eurozone erlebte Deutschland mit 2,3 Prozent Rückgang beim Einzelhandelsumsatz gegenüber August den stärksten Einbruch. Den größten Rückgang im Jahresvergleich gab es in Spanien mit 7,1 Prozent.

Kfz-Zulassungen, ein wichtiger Indikator für den Zustand der Wirtschaft, sind in Deutschland, Frankreich, Spanien und Großbritannien rückläufig. Die Zulassung neuer Autos ging in Deutschland im Oktober um acht Prozent zurück, Neubestellungen um 12 Prozent. Der Export von Autos ging im vergangenen Monat um zehn Prozent zurück, die Auftragseingänge aus dem Ausland sogar um 24 Prozent. Die Autoverkäufe in Frankreich brachen um sieben Prozent ein. Der Neuwagenverkauf in Großbritannien brach gegenüber Oktober letzten Jahres um 23 Prozent ein, der stärkste Einbruch seit siebzehn Jahren. Autokäufe in Spanien gingen sogar um 40 Prozent zurück.

Europäische Firmen vernichten Arbeitsplätze in einer Geschwindigkeit wie seit Januar 2002 nicht mehr. Die Lagerbestände von Fertigprodukten sind so hoch wie nie. Vor dem Hintergrund noch stärkerer Wertverluste in Asien und den Vereinigten Staaten fallen die Aktien in Europa weiter.

Die Wirtschaftskrise führt zu massiven Arbeitsplatzverlusten. Die Arbeitslosigkeit in Irland ist im Oktober mit 6,7 Prozent auf den höchsten Stand seit zehn Jahren gestiegen. In Spanien hat sie mit 11,9 Prozent ein Zwölf-Jahres-Hoch erreicht. Damit ist die Zahl der Arbeitslosengeldempfänger um 37,5 Prozent angestiegen.

In Großbritannien wird ein Anstieg der Arbeitslosigkeit auf 7,1 Prozent vorausgesagt. Die EU erwartet, dass die britische Wirtschaft in Europa am stärksten getroffen wird. Die Arbeitslosigkeit wird 2006 um 25 Prozent auf 2,25 Millionen ansteigen. Die Kommission erwartet im Vereinigten Königreich ein Schrumpfen der Wirtschaft um ein Prozent und revidierte ihre Erwartungen bezüglich der Arbeitslosigkeit um fast 1,5 Prozent nach oben. Nur Estland und Lettland werden im nächsten Jahr vermutlich eine schärfere Rezession erleben.

Der Kommissionsbericht sprach von einer "Haushaltsdefizit- und Schuldenspirale". Das Haushaltsdefizit soll nächstes Jahr auf etwa 80 Mrd. Pfund oder 5,6 Prozent des BIP ansteigen und 2010 auf 94 Mrd. Pfund oder 6,5 Prozent des BIP. Neue Zahlen der Halifax-Bank zeigen, dass die Preise für Häuser im Oktober um weitere 2,2 Prozent gefallen sind. Damit hat der Preisverfall inzwischen 13,7 Prozent erreicht. Geschäftsaktivitäten im Dienstleistungsbereich gingen im Oktober den sechsten Monat in Folge zurück. Dienstleistungen sind das Rückgrat der britischen Wirtschaft. Sie tragen mehr als die Hälfte zum Bruttoinlandsprodukt bei. Auch die Industrie ist im letzten Quartal um 1,3 Prozent zurückgegangen und erlitt damit den siebten Monat hintereinander Einbußen.

Siehe auch:
Finanzkrise trifft Industrieproduktion
(10. Oktober 2008)
Europäische Reaktionen auf die Finanzkrise: Die eigenen Spuren verwischen und Distanzierung von den USA
( 25. September 2008)
Europa fürchtet globalen Crash
( 19. September 2008)
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