Lettland von Protesten erschüttert

Am Dienstag, den 13. Januar, kam es in der Hauptstadt der baltischen Republik Lettland zu Auseinandersetzungen mit der Polizei, in deren Verlauf bei zum Teil gewalttätigen Protesten 36 Menschen verletzt wurden. Die Polizei nahm etwa 106 Festnahmen vor.

Etwa 10.000 Menschen hatten sich am Dienstag in Riga zu einer Protestdemonstration auf dem historischen Domplatz versammelt. Zur Kundgebung hatten Oppositionsparteien, Gewerkschaften und Nicht-Regierungsorganisationen aufgerufen. Der Protest richtete sich dagegen, dass die Regierung die gesamten Lasten der Wirtschaftskrise in Lettland den breiten Schichten der Bevölkerung aufbürdet. Die Demonstranten beklagten auch die Korruption und Inkompetenz der Regierung.

Die lettische Regierung besteht aus einer instabilen Koalition aus sechs rechten, wirtschaftsfreundlichen und zum Teil extrem nationalistischen Parteien. Die Parteien sind: TP/LPP/LC/ZZS/TB/LNNK (Volkspartei, Erste Partei Lettlands, Lettlands Weg, Lettische Allianz der Grünen und der Bauern Union, Für Vaterland und Freiheit, Lettische Nationale Unabhängigkeisbewegung).

Am Ende der Demonstration warfen einige Demonstranten Schneebälle und Steine auf Regierungsgebäude und zerstörten mehrere Fenster. Die Polizei reagierte mit einem gewaltsamen Einsatz.

Am Mittwoch verurteilte der lettische Präsident Valdis Zatlers die Proteste in einer öffentlichen Erklärung, musste aber eingestehen, dass das Vertrauen in die Regierung und in ihre Fähigkeit, mit der wachsenden Wirtschaftskrise des Landes umzugehen, einen "katastrophalen Einbruch" erlitten habe.

Zatlers forderte "neue Gesichter in der Regierung”, um den Unmut in der Öffentlichkeit zu besänftigen. Er sagte, die Regierungsumbildung solle bis zum 31. März erfolgen, andernfalls werde er ein Referendum über die Auflösung des Parlaments ansetzen.

Krisjanis Karins, Abgeordneter im lettischen Parlament und ehemaliger Führer der Oppositionspartei Neue Ära, erklärte, die Proteste seien ein klares Anzeichen für eine Radikalisierung von Teilen der Bevölkerung. Er zog eine Parallele zu den jüngsten Ereignissen in Griechenland, wo es zahlreiche Proteste und Demonstrationen gegen wirtschaftliche Stagnation, zunehmende Armut, verbreitete Korruption und den Zerfall des Bildungssystems gegeben hatte.

In der Vergangenheit, sagte Karins, wären Proteste in Lettland üblicherweise nach dem Muster "Herumstehen, singen und dann nach Hause gehen" abgelaufen, aber die jungen Demonstranten vom Dienstagabend "scheinen zu glauben, die griechische oder französische Art, seinen Zorn auszudrücken, sei wirkungsvoller", sagte er.

"Wir waren überzeugt, dass so etwas bei uns nicht passiert”, sagte er. "Aber diesmal ist es passiert … und wenn wir in sechs Monaten zurückschauen, werden wir feststellen, dass gestern ein Wendepunkt war", schloss er.

Lettischer Währung und Wirtschaft droht Zusammenbruch

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion wurde Lettland jahrelang als einer der führenden "baltischen Tiger" angesehen. Seit 2000 wies das Land mehrfach zweistellige Zuwachsraten auf. Die internationale Finanzkrise hat jetzt aber die Verwundbarkeit Lettlands und anderer baltischer und osteuropäischer Volkswirtschaften bloß gelegt.

Wie bei den anderen baltischen Staaten Estland und Litauen hing der wirtschaftliche Erfolg der letzten Jahre auch in Lettland vom Zufluss ausländischen Kapitals ab. Das plötzliche Versiegen dieser Kapitalzuflüsse im Zusammenhang mit der internationalen Finanzkrise hat die lettische Wirtschaft in große Probleme gestürzt und die Regierung zu Notmaßnahmen gezwungen, um den Zusammenbruch des Lat, der lettischen Währung, zu verhindern.

Ein Zusammenbruch des Lat würde dazu führen, dass die feste Koppelung seines Wechselkurses an den Euro nicht mehr zu halten wäre. Das wiederum hätte eine außerordentlich destabilisierende Wirkung auf das Vertrauen von Investoren in ganz Osteuropa und würde alle anderen Volkswirtschaften in der Region destabilisieren, die an den Euro gebunden sind.

Um ein solches Szenario zu verhindern, wendete die lettische Zentralbank in den vergangenen Monaten ein Fünftel ihrer Devisenreserven auf und beantragte internationale Hilfen, um die Wirtschaft zu stützen.

Im Dezember sagten die Europäische Kommission, der IWF, die Weltbank, die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) und mehrere EU-Mitgliedsstaaten Lettland einen Stabilisierungskredit über 7,5 Mrd. Euro zu.

Aus Furcht vor einem Domino-Effekt für ganz Osteuropa im Falle eines Zusammenbruchs der lettischen Währung und Wirtschaft trugen sogar Tschechien, Polen und Estland insgesamt 400 Mill. Dollar zu dem Kreditpaket bei, obwohl sich deren Wirtschaften selbst in einem prekären Zustand befinden.

Trotz der umfassenden Finanzhilfe der EU und des IWF stufte die Rating-Agentur Moody’s Lettlands Kreditwürdigkeit nur zwei Wochen nach der Vereinbarung über das Kreditpaket herunter. Die Agentur erwartet ein starkes Ansteigen der Staatsverschuldung Lettlands in den nächsten drei Jahren von zehn Prozent des BIP auf etwa 50 Prozent in 2011. Der Rückgang der Steuereinnahmen und das eigene Rettungsprogramm der lettischen Regierung für die Banken des Landes werden das Defizit im Staatshaushalt unvermeidlich in die Höhe treiben.

Einige Experten erwarten jetzt für 2009 einen zweistelligen Einbruch des Bruttoinlandsprodukts. Die Gehälter werden wahrscheinlich deutlich sinken und die Arbeitslosigkeit beträchtlich ansteigen. Einer Analyse der Working Day Latvia Staffing Company zufolge könnte die Arbeitslosigkeit angesichts der aktuellen Arbeitsplatzverluste 2009 zwanzig Prozent erreichen.

Angesichts des heraufziehenden Wirtschaftszusammenbruchs und einer wachsenden Radikalisierung der Bevölkerung tun die Gewerkschaften in den baltischen Ländern alles, um die aktuelle Krise zu dämpfen. Auch in der Nachbarrepublik Litauen planten die Gewerkschaften für Donnerstag in Vilnius eine Demonstration gegen die Politik der Regierung. Dabei machten die Gewerkschaften von vorneherein klar, dass es ihnen nicht darum ging, die unpopuläre Regierung von Ministerpräsident Ivars Godmanis in Frage zu stellen.

Auf einer Pressekonferenz erklärte der Vorsitzende des litauischen Gewerkschaftsverbandes, Arturas Cerniauskas, am 14. Januar vor Journalisten: "Wir hoffen, dass sich das Szenario von Riga nicht wiederholt."

Cerniauskas betonte: "Wir erheben nur ökonomische Forderungen. Wir versuchen nicht, die Regierung zu stürzen, weil wir einige ihrer Entscheidungen durchaus akzeptieren. Andere Entscheidungen können wir dagegen nicht akzeptieren. Wir wollen, dass die Regierung aufwacht und mehrere Entscheidungen ändert." Er machte auch deutlich, dass seiner Organisation nicht an einer großen Mobilisierung gelegen sei.

Zunehmende Spannungen in Europa

Die Proteste in Lettland stehen beispielhaft für wirtschaftliche, soziale und politische Spannungen überall in Europa. Nur einen Tag nach der Demonstration in Riga endete eine Demonstration von 2.000 Studenten und Bauern vor dem Parlamentsgebäude der bulgarischen Hauptstadt Sofia in gewaltsamen Zusammenstößen mit der Polizei.

Verbreiteter Ärger über die Korruption und Inkompetenz der bulgarischen politischen Elite ist durch die akute Gaskrise noch verschärft worden. Der Balkanstaat leidet aufgrund dieser Krise unter schwerwiegendem Heizungs- und Strommangel, weil er zu fast 100 Prozent von russischer Energie abhängig ist.

Diese jüngste Entwicklung zeigt, wie schnell die internationale Finanzkrise in ganz Europa zu gewaltsamen Zusammenstößen führen kann.

Die politische Krise zeigte sich schon, als in Island ganz normale Sparer mehrere Banken belagerten und die isländische Bevölkerung Ende November jeden Tag auf die Straße ging. Dann wurde Griechenland den ganzen Dezember über von Demonstrationen und Protesten erschüttert. Seitdem ist als direkte Folge der Finanzkrise der belgische Ministerpräsident zurückgetreten, und die Regierung wurde umgebildet.

In den kommenden Wochen wird es ohne Zweifel in ganz West- und Osteuropa zu weiteren politischen Unruhen kommen.

Siehe auch:
Wirtschaft in osteuropäischen Ländern vor dem Bankrott
(28. Oktober 2008)
Rumänische Lehrer streiken für höhere Gehälter
(22. Oktober 2008)
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