Obamas Schlagabtausch mit Cheney und die Gefahr von Diktatur in Amerika

Eine ungewöhnlich offene Konfrontation zwischen Präsident Barack Obama und dem ehemaligen Vizepräsidenten Dick Cheney hat am Donnerstag vergangener Woche gezeigt, wie zerbrechlich die verfassungsmäßige Regierung ist, und wie tief die Krise der amerikanischen Demokratie.

Obama hielt im Nationalarchiv von Washington, D.C., eine öffentliche Rede, in der er die Vorgängerregierung des Verfassungsbruchs beschuldigte. Die Obama-Rede, die im Wesentlichen der Verteidigung seiner Entscheidung dienen sollte, das Gefangenenlager Guantánamo zu schließen, war erst im letzten Moment anberaumt worden. Offensichtlich sollte sie einem Angriff von Cheney zuvor kommen. Der Präsident war vor einer solchen bevorstehenden Attacke gewarnt worden.

Cheneys Angriff erfolgte nur Minuten nach Ende der Präsidentenrede. Dick Cheney, der vor Mitgliedern eines rechtslastigen Geheimdienstgremiums sprach, zog in provokanter und erbitterter Weise über den Präsidenten her. Hohn und Spott goss er über Obamas Kritik an der Politik Bushs der "verschärften Verhörtechnik" - sprich Folter. Der frühere Vizepräsident ging beinahe so weit, den Präsidenten der Unterstützung und Begünstigung der Feinde der USA zu beschuldigen.

Cheney selbst ist der Drahtzieher einer immer gehässigeren Kampagne gegen die Obama-Regierung. Er wiegelt Opposition im Kongress auf, und - was noch bedrohlicher ist - unter seinen politischen Verbündeten und Anhängern im Militär und in der Central Intelligence Agency (CIA). Diese Kampagne beginnt zu greifen, was man daran sehen kann, dass am Mittwoch Obamas Schließungspläne für Guantánamo bei der Abstimmung im Kongress eine überwältigende Niederlage erlitten. FBI-Direktor Robert Mueller III warnte vor der Gefahr, die Guantánamo-Häftlinge darstellten, wenn sie in amerikanische Gefängnisse überführt würden. Durch diesen Bericht angestachelt, lehnte der Senat, darunter die meisten Demokraten, die Guantánamo-Schließungsvorlage ab.

Um die Politik seiner Regierung zu verteidigen, stellt Obama seine politischen Entscheidungen als eine Art alternativloses Rückzugsgefecht dar, das nötig sei, um nach acht Jahren wuchernder Illegalität unter seiner Vorgängerregierung in den Vereinigten Staaten wieder eine verfassungsmäßige Regierung herzustellen.

Er unterstrich die ernste Gefahr für die Verfassungsmäßigkeit der Verhälnisse mit dem Hinweis auf den Ort seiner Rede: Das Nationalarchiv beherbergt die Gründungsdokumente der amerikanischen Demokratie, die Unabhängigkeitserklärung, die Verfassung und die Bill of Rights. Obama erinnerte seine Zuhörer daran, dass er "einen Eid abgelegt [habe], die Verfassung zu schützen und zu verteidigen", und erklärte: "Zu keinem Zeitpunkt dürfen wir im Interesse der Zweckdienlichkeit unsere dauerhaften Prinzipien aufgeben."

Obama erklärte, seine Vorgängerregierung habe "Entscheidungen getroffen, die eher von Furcht als von Weitsicht geprägt waren, und nur zu oft hat unsre Regierung die Tatsachen und Beweise verdreht, um sie den ideologischen Prämissen anzupassen".

Obama forderte eine Wiederherstellung von "Recht und Gesetz" und erklärte: "Die Entscheidungen, die in den vergangenen acht Jahren getroffen wurden, haben im Kampf gegen den Terrorismus zu einer juristischen Ad-hoc-Haltung geführt, die weder wirkungsvoll noch tragbar war, ein Rahmen, der sich nicht auf unsere juristischen Traditionen und erprobten Einrichtungen stützen konnte, und der nicht unsre Werte als Kompass nutzte." Die Politik der Bush-Regierung, sagte er, habe "die Herrschaft des Rechts" untergraben.

Im wichtigsten Teil seiner Rede, der Rückschlüsse auf das Wesen des politischen Kampfs zulässt, der in den höchsten Staatskreisen tobt, erklärte Obama, dass Gegner seiner Politik "eine Ansicht vertreten, die in zwei Worten zusammen gefasst werden kann: ‚Alles ist erlaubt. Ihre Argumente gehen davon aus, dass das Ziel der Terrorismusbekämpfung jedes Mittel rechtfertige, und dass der Präsident eine Blanko-Autorität haben müsse, um zu tun, was immer er wolle - vorausgesetzt, es ist ein Präsident, mit dem sie übereinstimmen."

Obama bediente sich beschönigender Ausdrücke, die über den ernsten Hintergrund seiner Erklärung hinwegtäuschten. Doch er warnte vor der Existenz mächtiger Kräfte, die bereit seien, sich über die Verfassung hinwegzusetzen. "Es kommt immer wieder vor", sagte er, "dass Leute die Meinung vertreten, Amerikas Sicherheit und Erfolg verlangten von uns, von den geheiligten Prinzipien abzugehen, die in diesem Gebäude bewahrt werden. Gerade heute hören wir solche Stimmen."

Er meinte dabei im Wesentlichen die Stimme Cheneys. Obama hätte sich nicht zu einer Antwort auf den früheren Vizepräsidenten bemüßigt gefühlt, hätte er in ihm nur einen erbosten rechten Exzentriker gesehen. In der Tat weiß Obama, dass Cheney - der wahre Entscheidungsträger der Bush-Regierung, der Mann, der eine Geheimregierung leitete - nach wie vor gewaltigen Einfluss im Pentagon, in der CIA und in anderen, weniger bekannten Abteilungen der militärisch-geheimdienstlichen Bürokratie genießt, einer Bürokratie, die eine große, unkontrollierte Macht ausübt.

Cheney setzte in seinen Ausführungen vor dem American Enterprise Institute seine Offensive gegen Obama fort und behandelte die Regierung und den Präsidenten persönlich mit unverhüllter Verachtung.

Obamas Kritik an den Verhörmethoden "fügen den Geheimdienstlern und Rechtsanwälten wirklich Unrecht zu, die für ihren ergebenen Dienst wesentlich Besseres verdient hätten", erklärte Cheney. "Hier besteht die Gefahr, dass der Fokus auf die nationale Sicherheit und alles dazu Erforderliche verloren geht."

Ominös fügte Cheney hinzu: "Ich würde der Regierung raten, sich über den bevorstehenden Kurs sorgfältig zu besinnen."

Der ehemalige Vizepräsident verstieg sich nachgerade dazu, Obama der Unterstützung von Terroristen und des Verrats zu beschuldigen.

"Die Verhör-Memos zu veröffentlichen, haben den nationalen Sicherheitsinteressen der Vereinigten Staaten eindeutig geschadet", erklärte er. "Der angerichtete Schaden fängt damit an, dass hochgeheime Informationen jetzt in der Hand der Terroristen sind, die soeben eine ausführliche Beilage für ihr Trainings-Manual erhalten haben. Regierungen, die uns auf der ganzen Welt geholfen haben, Terroristen zu fangen, müssen befürchten, dass sensible gemeinsame Operationen kompromittiert werden. Und in der CIA werden sich Agenten fragen, ob sie sich auf das Weiße Haus und den Kongress verlassen können, und ob sie unterstützt werden, wenn es hart auf hart kommt."

Diese Worte waren besonders provokativ und bedrohlich, da sie bewusst die Erinnerung an die Zeit wachriefen, als die gescheiterte Invasion in der Schweinebucht 1961 Ressentiments unter CIA-Agenten gegen die Kennedy-Regierung auslöste.

Cheney wies hämisch darauf hin, dass auch prominente Mitglieder der Obama-Regierung, wie CIA-Direktor Leon Panetta und der Direktor der Nationalen Geheimdienstbehörde, Dennis Blair, die Veröffentlichung der Verhör-Memos missbilligt hatten.

Cheney machte sich über den "geheuchelten Zorn" jener lustig, die Kritik an den von der Bush-Regierung eingeführten Verhörmethoden üben. "In meiner langen Erfahrung in Washington haben wenig Dinge so viel gekünstelte Entrüstung und falsches Moralisieren ausgelöst, wie die Verhörmethoden, die an einigen wenigen gefangenen Terroristen zur Anwendung kamen." Er fügte hinzu, dass die Kritiker jener Methoden "keineswegs in der Position sind, irgendjemanden über ‚Werte’ zu belehren".

Der frühere Vizepräsident verteidigte unzweideutig die Foltertechniken der Bush-Regierung und erklärte kategorisch: "Es wäre extrem unklug, verschärfte Verhörmethoden in Zukunft ganz zu verbieten."

Dann kritisierte er Obamas Entscheidung, Guantánamo zu schließen, und warnte: "Ich glaube, wenn der Präsident sich besinnt, wird er auch zu dem Schluss kommen, dass es sehr gefährlich wäre, die Schlimmsten der schlimmen Terroristen in die Vereinigten Staaten zu bringen, und dass wir es in den kommenden Jahren noch bedauern würden."

Man kann ohne Übertreibung sagen, dass dieser öffentliche Schlagabtausch zwischen Obama und Cheney in der modernen amerikanischen Geschichte ohne Beispiel ist. Es wäre der Gipfel der Selbstgefälligkeit, diesen erbitterten Wortwechsel zwischen dem Präsidenten und dem ehemaligen Vizepräsidenten nicht ernst zu nehmen. In der Tat wirft er weit reichende Fragen über die Lebensfähigkeit der amerikanischen Demokratie auf.

Täuschen wir uns nicht: Cheney spricht für ein mächtiges Segment der herrschenden Klasse, hinter dem einflussreiche und Demokratie-feindliche Kreise von Armee und Geheimdienst stehen.

Was Obama betrifft, so ist seine eigene Haltung durch tiefe und unlösbare politische Widersprüche geprägt. Sein Aufruf, verfassungsmäßige Werte zu respektieren, ist vollkommen hohl, denn seine Regierung hat ohne Zögern die Grundprämissen und Grundlagen der Außenpolitik der Bush-Regierung akzeptiert, die davon ausging, dass die Vereinigten Staaten einen verzweifelten Krieg gegen den "Terror" führten.

Zwar lehnt Obama gewisse Taten der Bush-Administration ab, doch vermeidet er es sorgfältig, die wesentliche politische Lüge aufzudecken, aus der diese Verbrechen abgeleitet wurden.

"Al-Qaida plant eine neue Attacke auf uns", erklärte Obama in der gleichen Rede vom vergangenen Donnerstag. "Wir wissen, dass diese Gefahr uns noch lange begleiten wird, und dass wir alle Elemente unserer Macht nutzen müssen, um sie zu besiegen." In der Tat führe seine Regierung, behauptete Obama, diesen Kampf viel systematischer, weil sie "den Kampf zu den Extremisten in Afghanistan und Pakistan trägt, die uns am 11. September angegriffen haben".

Wenn es wahr ist, was Obama sagt - dass die Politik der Vorgängerregierung darin bestand, dass "alles erlaubt" sei - dann müssen die Verantwortlichen als politische Verbrecher vor Gericht gestellt werden. Stattdessen verteidigte Obama ihrer Taten, als seien sie im Übereifer für eine edle Sache begangen worden. "Mit einer ungewissen Gefahr konfrontiert", sagte er, "traf unsre Regierung eine Reihe überhasteter Entscheidungen. Und ich glaube, dass jene Entscheidungen durch den aufrichtigen Wunsch motiviert waren, das amerikanische Volk zu schützen."

Zweimal betonte Obama, es werde keine gerichtliche Aufarbeitung der Politik der letzten acht Jahre geben. Er widersprach der Bildung einer unabhängigen Kommission und verlangte, "sich nicht auf die Vergangenheit zu konzentrieren".

Wenn Obama den Verschwörern um Cheney einen Freibrief ausstellt, setzt er im Wesentlichen die Politik der Feigheit und Anpassung fort, die seine Regierung von Anfang an bestimmt hat. Dabei hat jedes einzelne Zugeständnis den rechten Flügel im Staat noch mehr ermutigt und die Verschwörung gegen demokratische Grundrechte erleichtert.

Obamas Taktieren und sein ständiges Einknicken sind von den Klasseninteressen bestimmt, für die er steht. Was auch immer seine Kritik an der Politik der Bush-Administration sein mag, Obama verteidigt deren grundlegende Ziele. In der Innenpolitik setzt er die enormen Geschenke an die Banken und an Wall-Street-Investoren fort. Im Militärbereich führt er die Irak-Besatzung weiter, und den Krieg in Afghanistan und Pakistan dehnt er noch weiter aus. Sein Ruf nach Legalität wird durch die Tatsache unterhöhlt, dass seine Regierung Militärkommissionen wieder aufleben lässt, dass sie sich weigert, Folterfotos zu veröffentlichen, und dass sie die undemokratischen Maßnahmen der Vorgängerin beibehalten hat.

Obama mag in Worten vor der Unterhöhlung der Demokratie in den Vereinigten Staaten warnen, doch die Taten seiner Regierung erleichtern und beschleunigen ihre Zerstörung. Es ist unmöglich, imperialistischen Krieg mit Demokratie zu vereinbaren. Letztere kann nicht bestehen, ohne erstere zu bekämpfen.

Obama ist nicht in der Lage, den wahren gesellschaftlichen und politischen Inhalt von Cheneys Angriff zu entlarven, denn dies würde die Entlarvung der politischen Ziele und reaktionären Klasseninteressen erfordern, die von Anfang an hinter dem "Krieg gegen den Terror" steckten. Außerdem müsste er dazu die amerikanische Bevölkerung zur Verteidigung demokratischer Rechte mobilisieren. Doch solange die Obama-Regierung eine Innenpolitik verfolgt, die die Interessen der Finanzelite vertritt, will sie natürlich keine öffentliche Unzufriedenheit schüren.

Keine Fraktion der herrschenden Klasse kann die demokratischen Grundrechte verteidigen. Der Zerfall der Einrichtungen der amerikanischen Demokratie ist bereits weit fortgeschritten.

Die Verteidigung demokratischer Rechte hängt von der unabhängigen politischen Organisation der Arbeiterklasse ab.

Siehe auch:
Amerikas Demokratie in der Krise
(8. Februar 2005)
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