Frankreich

Was ist das Programm der Demonstration vom 19. März?

Der folgende Text wird heute auf den gewerkschaftlichen Protestdemonstrationen in Frankreich als Handzettel verteilt.

Für den heutigen 19. März ruft die französische Gewerkschaftsbürokratie zu Demonstrationen gegen die globale Wirtschaftskrise auf. Dabei stellt sich die Frage nach einer Klassenperspektive besonders scharf.

Ungeachtet des berechtigten Zorns vieler Millionen Arbeiter, die daran teilnehmen, sind die Demonstrationen ein politischer Betrug der Gewerkschaften und linken Parteien an den Arbeitern. Ihr vorrangiges Ziel besteht darin, ein harmloses Ventil für die weit verbreitete Opposition gegen die Krise und die Politik von Präsident Nicolas Sarkozy zu schaffen.

Den eintägigen Streik, den die Gewerkschaften organisieren und die bürgerlichen und kleinbürgerlich linken Parteien unterstützen, trennt ein Klassenabgrund vom sozialen Zorn der Arbeiterklasse. Selbst wenn Millionen Arbeiter daran teilnehmen, ist ein isolierter, eintägiger Streik für die Bourgeoisie vollkommen akzeptabel, solange sie sich darauf verlassen kann, dass die Gewerkschaften politisch das Heft in der Hand behalten.

Wenn andrerseits "die Menschen generell die Nase voll haben", wie es der CGT-Gewerkschaftsführer Bernard Thibault ausdrückte, dann zeigt sich darin die tiefe Feindschaft der Arbeiter gegen jeden Versuch, die Krise auf ihre Kosten zu lösen. Dutzende Millionen Arbeiter verlieren weltweit ihren Arbeitsplatz, Jahresindustrieproduktion und Handel fallen in jeder großen Volkswirtschaft um zehn bis vierzig Prozent, und weltweit sind durch den Zusammenbruch der Aktien- und Hypothekenmärkte bereits Werte in Höhe von fünfzig Billionen Dollar vernichtet worden. Ohne Zweifel stehen Arbeiter vor einer epochalen Krise des Kapitalismus. Wenn sie sich weigern, für die Krise zu bezahlen, geraten sie unweigerlich in Konflikt mit den insolventen Banken, den Vorstandsvorsitzenden, die in Erwartung eines Wirtschaftszusammenbruchs Arbeitsplätze streichen, und mit ihren Repräsentanten in den bürgerlichen Parteien.

In den vergangenen zehn Jahren wurden die systematischen staatlichen Eingriffe in das soziale Gefüge immer wieder mit dem Zwang zum Sparen begründet, und auch die CGT und andere Gewerkschaften haben dem nicht widersprochen. Dieser Darstellung hat die Krise jetzt einen vernichtenden Schlag versetzt.

Sarkozys hastiger Bankenrettungsplan über 360 Milliarden Euro entlarvt die Klassengrundlage dieser ganzen Politik, die nicht einem Mangel an Geld, sondern den Profitinteressen des Kapitals entsprang. Dies war indessen nur eine vielen Provokationen gegen die arbeitende Bevölkerung. Die letzte war die Ankündigung des Ölkonzerns Total, trotz eines Reingewinns von vierzehn Milliarden Euro wegen der erwarteten rückläufigen Wirtschaftsaktivitäten in Frankreich 500 Raffineriearbeiter zu entlassen.

Wie stark die Klassenspannungen sind, zeigt sich an den Generalstreiks, die in den französischen Überseedepartements ausgebrochen sind und schon mehrere Wochen andauern. Besonders in Martinique und Guadeloupe wird gegen hohe Gaspreise und fallende Kaufkraft und gegen die anhaltende Kontrolle ehemaliger Sklavenhalterfamilien, den so genannten Béké, über die Wirtschaft gestreikt.

Im Gegensatz zu den Zornesausbrüchen der Arbeiterklasse vertreten die Gewerkschaften eine zutiefst pro-kapitalistische Politik. Dies brachte Thibault in einem Fernsehinterview mit Christophe Barbier vom Sender TF1 am 11 März zum Ausdruck. Trotz der offenkundig rücksichtslosen und unverantwortlichen Vorgehensweise der Banken und Kredithäuser im Vorfeld der Finanzkrise weigerte sich Thibault, die Frage zu beantworten, ob er eine Verstaatlichung der Banken und anderer Unternehmen, die Geld von staatlichen Rettungsplänen erhalten, befürworte. Er sagte auch, es gebe keinerlei Vorbereitungen auf einen Generalstreik, sondern es handle sich bloß um eine "Bewegung".

Der Grund für die reaktionäre Politik der Gewerkschaften ist ihre enge Zusammenarbeit mit dem Staat. Nachdem die Gewerkschaften seit Sarkozys Machtantritt 2007 schon in vertraulichen Runden mit ihm verhandelt hatten, einigten sie sich schließlich im April 2008 mit Sarkozy auf eine Gemeinsame Plattform. Im Austausch gegen Garantien für ihre Finanzen stimmten die CGT und andere große Gewerkschaften zu, die Renten zu kürzen, die 35-Stundenwoche abzuschaffen und andere unsoziale "Reformen" einzuführen, die vergangenen Juli verwirklicht wurden. Bei den Gewerkschaftswahlen vom letzten Dezember reagierten die Arbeiter darauf mit einer Rekordenthaltung von 74 Prozent.

Erst nach dem "Sozialgipfel vom 18. Februar, der auf den letzten Aktionstag vom 29. Januar folgte, riefen Die Gewerkschaften zum Streik für den 19. März auf. Auf dem Sozialgipfel beurteilten die Gewerkschaften den Regierungsplan für den Mindestlohn und die Beschäftigung im Öffentlichen Dienst als "zu fragmentarisch".

Die Bourgeoisie weiß genau: Ihre Haupttrumpfkarte, die Krise heil zu überstehen, ist die Weigerung der Gewerkschaften, einen politischen Streik gegen die Regierung zu organisieren. Michel Noblecourt, Kommentator der Tageszeitung Le Monde, nannte die CGT einen "Riesen auf tönernen Füßen" und fügte hinzu: "Vor dem 19. März waren alle [Gewerkschaften] gegen eine Übertragung der Ereignisse von Guadeloupe auf Frankreich. Um den allgemeinen Überdruss zu organisieren und zu kanalisieren, wollen die Gewerkschaften der politischen Versuchung widerstehen, eine anti-Sarkozy-Front zu bilden, um die Feindschaft gegen die Politik - und manchmal gegen die Person - des Präsidenten der Republik aufzufangen, der Demonstrationen geradezu provoziert."

Die Kollaboration der Gewerkschaften mit der Bourgeoisie ist nicht nur eine politische Entscheidung, oder eine Widerspiegelung ihrer engen Verflechtung mit der französischen Staatsmaschinerie, von der sie finanziell abhängig sind. Sie ist vor allem Ausdruck ihres Reformismus, der darin besteht, Löhne oder Arbeitsplätze nicht durch den revolutionären Kampf gegen den Kapitalismus zu verteidigen, sondern durch Einflussnahme auf die Politik des französischen Staats.

Diese Orientierung drückte sich in seltsamer und abstoßender Weise in dem gemeinsamen Aufruf zu der Demonstration vom 19. März aus. Dieser Appell ging von einer Parteienkoalition aus, der die Sozialistische Partei (PS), die Kommunistische Partei Frankreichs (KPF), die Linke Partei (PG) und die neu gegründete Neue Antikapitalistische Partei (NPA) von Olivier Besancenot angehören. Die Erklärung lobt den "Sieg der Menschen von Guadeloupe", die eine monatliche Lohnerhöhung von 200 Euro erkämpft haben - obwohl die Unternehmervereinigung von Guadeloupe dem noch gar nicht offiziell zugestimmt hat.

Weiter wird darin an Sarkozy appelliert: "Während der Streik auf Guadeloupe schließlich erhört wurde, so sind der Präsident und der Medef [französischer Unternehmerverband] immer noch taub für die Forderungen, wie sie im einheitlichen Aktionstag vom 29. Januar und in den Streiks auf den übrigen französischen Inseln Westindiens und auf Réunion erhoben wurden."

Diese Erklärung enthüllt die objektive politische Bedeutung der Gründung der NPA, die an die Stelle der Ligue Communiste Révolutionnaire (LCR) getreten ist und deren frühere Verbindungen zum Trotzkismus gekappt hat. Die Gründung der NPA bildet den Abschluss der Transformation der LCR in eine links-bürgerliche Partei. Ihr "antikapitalistisch" Etikett soll der NPA lediglich bei ihren Manövern helfen, wenn sie mit der PS und anderen Elementen des französischen Establishments gemeinsam Lohnerhöhungen von Sarkozy erbittet und gleichzeitig der Opposition aus der Arbeiterklasse gegen das Krisen geschüttelte kapitalistische System die Spitze bricht.

Eine solche Perspektive kann nicht vor der Geschichte bestehen. Besonders die französische Geschichte ist reich an bitteren Erfahrungen, die beweisen, dass es für die Arbeiterklasse nicht darum geht, einen utopischen Kampf um höhere Löhne zu führen, sondern darum, auf einer sozialistischen und internationalistischen Grundlage die Arbeiterkontrolle über die Wirtschaft herzustellen.

Auf die Lohnerhöhungen, durch welche die französische Bourgeoisie mit Hilfe der Verrätereien der Sozialisten und der KPF revolutionäre Krisen in den Griff bekam, folgten jedes Mal gewaltige Niederlagen der Arbeiterklasse. Auf den Zusammenbruch der Volksfront von 1936-38 folgte nach der Niederlage der letzten Streikwelle 1938 die Kapitulation der französischen Bourgeoisie und ihre Kollaboration mit den Nazis.

Die Lohnerhöhungen von 1968 führten zu einer inflationären Spirale, als die Unternehmer die Preise anhoben, um ihre Profite zu schützen. Das Ende vom Lied war 1983 die Sparpolitik von PS-Präsident François Mitterrand, die den Boden für die Deindustrialisierung des Landes bereitete.

Protestdemonstrationen werden keinen neuen Wirtschaftsaufschwung herbeiführen, selbst wenn sich breite Arbeiterschichten daran beteiligen, und selbst wenn ihre Lohnerhöhungen teilweise erfüllt werden sollten. Arbeiter müssen auf der Grundlage von trotzkistischen, d.h. marxistischen Prinzipien eine politische Partei aufbauen und für die Überwindung des kapitalistischen Systems eintreten. Das Internationale Komitee der Vierten Internationale ruft Arbeiter, Intellektuelle und Jugendliche in Frankreich auf, die World Socialist Web Site zu lesen und für den Aufbau einer Sektion des IKVIs in Frankreich zu kämpfen.

Siehe auch:
Frankreich: Gründungskongress der Neuen Antikapitalistischen Partei NPA
(18. Februar 2009)
Für den Kampf gegen die Wirtschaftskrise brauchen französische Arbeiter eine sozialistische Perspektive
( 30. Januar 2009)
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