NS-Prozess gegen Heinrich Boere eröffnet

65 Jahre nach der Tat wurde am Mittwoch vor dem Landgericht Aachen der Prozess gegen den ehemaligen SS-Mann Heinrich Boere eröffnet. Dem 88-Jährigen wird vorgeworfen, 1944 als Mitglied eines Mordkommandos der SS drei Zivilisten in den besetzten Niederlanden erschossen zu haben.

Boere war wegen der Tat bereits 1949 von einem Amsterdamer Sondergericht in Abwesenheit zum Tode verurteilt worden. Später wurde das Urteil in lebenslange Haft umgewandelt. Die deutschen Behörden weigerten sich aber, ihn auszuliefern, und die deutsche Justiz verhinderte - wie auch im Fall zahlreicher anderer Nazi-Verbrecher - wiederholt, dass Boere wegen seiner Taten zur Rechenschaft gezogen wurde.

Der Prozess gegen Boere ist voraussichtlich eines der beiden letzten NS-Verfahren, die vor deutschen Gerichten verhandelt werden. Am 30. November soll in München der Prozess gegen den 89-jährigen John Demjanjuk beginnen, der der Beihilfe zum Mord an mindestens 27.900 Juden im Vernichtungslager Sobibor beschuldigt wird.

Boere wird zur Last gelegt, er habe am Abend des 14. Juli 1944 gemeinsam mit dem SS-Mann Petrus Besteman den Apotheker Fritz Bicknese im holländischen Breda erschossen. Am 3. September desselben Jahres soll er zusammen mit einem anderen Komplizen, Hendrik Kromhout, zwei Zivilisten in Voorschoten, Teunis de Groot und Frans Willem Kusters, ermordet haben.

Boere und seine beiden Komplizen waren Mitglieder eines 15-köpfigen Sonderkommandos der niederländischen SS, das unter der Leitung von Johannes Hendrik Feldmeijer Aktionen holländischer Widerstandskämpfer mit "Gegenterror" beantwortete. Für jeden von Widerstandskämpfern Getöteten sollte es drei Holländer ermorden, die im Verdacht standen, dem Widerstand nahe zu stehen. Insgesamt fielen dieser Aktion mit dem Codenamen "Silbertanne" in der Zeit von September 1943 bis Ende 1944 mehr als fünfzig Menschen zum Opfer.

Die Opfer wurden jeweils sorgfältig ausgesucht. Boere und seine Komplizen klingelten an der Haustür und überprüften die Ausweise, bevor sie ihre Opfer kaltblütig ermordeten oder mitnahmen, um sie unterwegs zu erschießen.

Die Aktion Silbertanne war Bestandteil des brutalen Besatzungsregimes unter dem von den Nazis eingesetzten Reichskommissar Arthur Seyß-Inquart. Unter seiner Verantwortung wurden über 100.000 Juden in Vernichtungslager deportiert und eine halbe Million niederländische Arbeiter zur Zwangsarbeit nach Deutschland oder in von Deutschland besetzte Gebiete gezwungen.

Kommissar für das Sicherheitswesen war SS-Obergruppenführer Hanns Albin Rauter, dem wiederum SS-Brigadeführer Erich Naumann als Befehlshaber der Sicherheitspolizei und des Sicherheitsdienstes unterstand. Naumann hatte vor seinem Einsatz in den Niederlanden an der Ostfront die berüchtigte "Einsatzgruppe B" geleitet, die für die Massenerschießung von Juden und Sinti verantwortlich war.

Als der Widerstand der holländischen Bevölkerung wuchs und Widerstandskämpfer vermehrt Angriffe auf die niederländische Nazipartei und auf Beamte und Politiker durchführten, die mit den Besatzern kollaborierten, befahl Rauter Naumann im September 1943 den Aufbau des Sonderkommando Feldmeijer.

Heinrich Boere war zu diesem Zeitpunkt bereits seit drei Jahren SS-Mitglied. Der Sohn einer deutschen Mutter und eines holländischen Vaters hatte sich im September 1940 mit 19 Jahren freiwillig der Waffen-SS angeschlossen. Während des Kriegs gegen die Sowjetunion wurde er im Kaukasus eingesetzt. Aufgrund einer schweren Erkrankung kam er schließlich zurück in die Niederlande, wo er dem "Sonderkommando Feldmeijer" zugeteilt wurde.

Nach dem Krieg wurden mehrere Verantwortliche für die Nazi-Verbrechen in den Niederlanden zur Rechenschaft gezogen. SS-Obergruppenführer Hanns Albin Rauter wurde in den Niederlanden vor Gericht gestellt, zum Tode verurteilt und hingerichtet. Erich Naumann, der Befehlshaber der Sicherheitspolizei, wurde im Nürnberger Einsatzgruppenprozess zum Tode verurteilt und gehängt.

Hendrik Feldmeijer, der Chef des Sonderkommandos, wurde ebenso wie die beiden Komplizen Boeres, Jacobus Besteman und Hendrik Kromhout, von einem niederländischen Sondergericht zum Tode verurteilt. Später wurden die Todesstrafen in langjährige Haftstrafen umgewandelt, wovon Besteman 13 Jahre und Kromhout zehn Jahre absaß.

Heinrich Boere war zunächst auch verhaftet worden, konnte aber 1947 über die deutsche Grenze nach Eschweiler (bei Aachen) fliehen, wo er nur wenige Klometer von der Grenze entfernt eine Arbeit als Bergmann aufnahm.

Obwohl er in den Niederlanden in Abwesenheit rechtmäßig verurteilt worden war, lebte er dreißig Jahre lang relativ ungestört in Eschweiler. 1980 beantragten die Niederlande seine Auslieferung und er saß zwei Monate in Auslieferungshaft. Das Oberlandesgericht Köln erklärte jedoch seine Auslieferung für unzulässig. Es berief sich auf einen Erlass Adolf Hitlers vom 19. Mai 1943, wonach alle "deutschstämmigen Ausländer" durch den freiwilligen Eintritt in die Waffen-SS die deutsche Staatsbürgerschaft erhielten. Und ein deutscher Staatsbürger durfte nicht ausgeliefert werden.

Bereits zum damaligen Zeitpunkt nahm die Dortmunder Zentralstelle für die Bearbeitung von NS-Verbrechen das Auslieferungsersuchen zum Anlass, ein Ermittlungsverfahren gegen Boere einzuleiten. Der damalige Leiter der Zentralstelle, Oberstaatsanwalt Hermann Weissing, kam aber zu dem Schluss, dass die "Silbertannen-Aktion" - das heißt, die heimtückischen Morde, die das Kommando Feldmeijer verübte - dem damals geltenden Völkerrecht entsprochen hätten und ihre "Anordnung und Durchführung" deshalb "zulässig und rechtmäßig" gewesen seien.

Boere konnte weitere zwei Jahrzehnte ruhig und unbehelligt in Eschweiler leben, die letzten Jahre in einer Seniorenresidenz. In der gesamten Zeit lebte er unter seinem richtigen Namen und auf Nachfrage leugnete er nicht, an dem ihm zur Last gelegten Verbrechen beteiligt gewesen zu sein.

Im Jahr 2003 beantragte das niederländische Justizministerium, das Amsterdamer Urteil aus dem Jahr 1949 gegen Heinrich Boere in Deutschland zu vollstrecken. Es dauerte weitere vier Jahre, bis das Landgericht Aachen im Februar 2007 diesem Antrag stattgab. Erneut rettete das Oberlandesgericht Köln Boere davor, seine Strafe antreten zu müssen. Diesmal lautete die Begründung, Boere sei in Amsterdam nicht angemessen verteidigt worden, und er (der sich dem Gerichtsverfahren durch Flucht entzogen hatte) habe auch keine Möglichkeit gehabt, Rechtsmittel einzulegen.

Zwischenzeitlich hatte die Leitung der Zentralstelle für die Bearbeitung von NS-Verbrechen in Dortmund gewechselt. Der neue Leiter, Oberstaatsanwalt Ulrich Maaß, begann im August 2007 erneut in der Sache Heinrich Boere zu ermitteln. Gemeinsam mit den Nebenklägern, Tuin de Groot, dem inzwischen 76-jährigen Sohn von Teunis de Groot, und zwei Söhnen des Apothekers Fritz Bickensee erreichte er schließlich, dass der Prozess gegen Heinrich Boere doch noch eröffnet wird.

Anfang dieses Monats gab auch das Bundesverfassungsgericht grünes Licht, indem es einen Antrag von Boeres Verteidigern ablehnte, ihr Mandant sei aus gesundheitlichen Gründen nicht verhandlungsfähig.

Am ersten Verhandlungstag kam es allerdings noch nicht einmal zur Verlesung der Anklageschrift, weil Boeres Verteidiger einen Befangenheitsantrag gegen Oberstaatsanwalt Maaß stellten. Sie warfen ihm vor, er habe ihren Mandanten durch öffentliche Äußerungen vorverurteilt, so dass ein faires Verfahren nicht gegeben sei.

Das Gericht zog sich zunächst zu Beratungen zurück und entschied dann, den Prozess auf nächste Woche zu vertagen. Tuin de Groot, der zu dem Prozess angereist war und eine persönliche Erklärung über die lebenslange Auswirkung der Ermordung seines Vaters auf seine Familie verlesen wollte, zeigte sich enttäuscht.

Selbst wenn der Prozess bis zur Urteilsverkündung fortgeführt wird, ist es eher unwahrscheinlich, dass Boere aufgrund seines hohen Alters noch eine Strafe antreten muss. Dennoch erklärte der Rechtsanwalt von Teunis de Groot, Detlef Hartmann gegenüber spiegelonline : "Wir wollen, dass ein deutsches Gericht endlich feststellt: Es war Mord." Sein Mandant habe den Vater "sehr geliebt und geachtet" und bewahre die Kugeln, mit denen dieser 1944 getötet wurde, bis zum heutigen Tag auf. Was sie aber vor allem verlangten, sei Klarheit. Deshalb sollte in dem Verfahren auch deutlich werden, "was Boere im Krieg alles gemacht hat... Bis hinein in den Kaukasus."

Siehe auch:
Deutsche Kriegsverbrechen in den Niederlanden: Später Prozess gegen ehemaligen SS-Mann Herbertus Bikker
(6. Januar 2004)
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