George Eliot:

Zum 150. Jahrestag der Veröffentlichung ihres Romans Adam Bede

2009 jährte sich zum 150. Mal die Erstveröffentlichung des bahnbrechenden Werkes Die Entstehung der Arten von Charles Darwin. Zu Recht wurde dieser Jahrestag weithin festlich begangen.

George Eliot George Eliot

Marx, der die Bedeutung dieses Buches sofort erkannte, veröffentlichte im selben Jahr seine Schrift Zur Kritik der Politischen Ökonomie. Das Vorwort dazu enthält die berühmte Zusammenfassung der materialistischen Geschichtsauffassung, die mit den Worten beginnt: "In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen..."

Auch Charles Dickens’ Eine Geschichte von zwei Städten und Iwan Gontscharows Oblomow erschienen in diesem Jahr. Gustave Courbet war der anerkannte, wenn auch umstrittene Kopf der damaligen Malerei des Realismus. Er organisierte ein Großes Fest des Realismus in seinem Pariser Studio und schrieb zwei Monate später einem Freund, der "Realismus wird derzeit sehr angegriffen ... wir müssen neue Kräfte sammeln und alles tun was uns möglich ist."

Anfang 1859 wurde auch der Roman Adam Bede der Schriftstellerin George Elliot veröffentlicht und wir wollen, bevor das Jahr 2009 zu Ende geht, diesen verdientermaßen würdigen.

Die zahlreichen Eliot-Biografien sind ebenso wie der Adam Bede [1] leicht verfügbar, aber manche Details über die Autorin und ihren ersten Roman möchte ich besonders betonen.

Anatoli Lunatscharski, ein bemerkenswerter Literaturkritiker und nach der Oktoberrevolution Volkskommissar für Bildung, bemerkte einst, es sei natürlich eine gute Sache, als Genie geboren zu werden, "das Wichtigste jedoch ist es, zur richtigen Zeit geboren zu werden" und fügte Goethes Bemerkung hinzu: "zwanzig Jahre früher oder später geboren worden, wäre ich ein ganz anderer Mensch geworden."

Karl Marx Karl Marx

Eliot (1819-1880) lebte zur selben Zeit wie Marx (1818-1883). Beider Leben wurde - auf verschiedene Weise und unter verschiedenen Bedingungen - durch bedeutende Entwicklungen der Naturwissenschaft, der technologischen Grundlagen der Gesellschaft, der Herausbildung der großen Industrie und durch bedeutende Entwicklungen in der Kultur und Kunst jener Zeit beeinflusst.

Eliot, deren bürgerlicher Name Mary Ann oder Marian Evans lautete, wurde in Englands West Midlands, in Warwickshire, geboren. Ihr Vater war ein für seine gewissenhafte Arbeitsweise und seine feste konservative politische Haltung bekannter Gutsverwalter. Mary Anns Intelligenz fiel früh auf und sie erhielt Zugang zur Gutsbibliothek. Als Jugendliche stand es ihr in der Schule weitgehend frei zu lesen, was sie wollte - sie verschlang Bücher, unter anderem Sir Walter Scotts Romane.

In ihren späten Teenagerjahren war sie stark vom evangelikalen Protestantismus beeinflusst und widmete mehrere Jahre ernsthaften, religiösen Studien. Sie lehnte in jenen Jahren Unterhaltung ab, auch das Lesen und Theaterbesuche versagte sie sich. Ihre religiöse Begeisterung nahm schließlich jedoch ab und sie las dann unter anderem alles von Byron, Shelley, Coleridge, Southey und vor allem Wordsworth.

Nachdem Mary Ann mit ihrem Vater 1841 in ein Haus bei Coventry gezogen war, eröffneten sich ihr vielfältigste intellektuelle Einflüsse. Es lag infolge der Depression von 1841 - 1842 und durch den Einfluss der Chartisten spürbar etwas in der Luft der Gesellschaft. Mary Ann war dadurch empfänglich für neues Ideengut, darunter jenes von Charles und Caroline Bray, die zu ihren engen Freunden wurden. Charles Bray war Textilfabrikant und ein unabhängig denkender Mensch. Er war unter anderem mit dem utopischen Sozialisten Robert Owen bekannt und mit dem amerikanischen Philosophen Ralph Waldo Emerson. Beiden stellte er Mary Ann vor, die inzwischen ihre Kirchenbesuche eingestellt hatte. Ihr Biograph, Gordon S. Haight, schrieb, sie sei rasch "aus provinzieller Isolierung in die Welt der Ideen" eingetaucht.

David Friedrich Strauss David Friedrich Strauss

Ihre intellektuelle Entwicklung war schnell und außergewöhnlich. Als gewissenhafte Studentin fremder Sprachen begann sie 1843 das im Deutschen 1835 erschienene Buch Das Leben Jesu von David Friedrich Strauß zu übersetzen. Dieses damals bahnbrechende, linkshegelianische Werk lehnte die übernatürlichen und wundertätigen Elemente des christlichen Evangeliums ab und bezeichnete sie als Mythologie. Das Buch half Friedrich Engels (1820-1895) seine christliche Haltung abzulegen und gab ihm, wie er sagte, den "ersten Anstoß" für den zeitgenössischen, philosophischen Kampf gegen die Religion.

"Zwei Jahre lang", so Haight, "arbeitete Mary Ann an der Übersetzung der fünfzehnhundert auf Deutsch verfassten und mit Zitaten aus dem Lateinischen, Griechischen und Hebräischen versehenen Seiten ... für ihre Arbeit erhielt sie 20 Pfund. Wenige Bücher des neunzehnten Jahrhunderts hatten einen tiefgehenderen Einfluss auf das religiöse Denken Englands."

Inzwischen las Eliot alles Mögliche, französische Schriftsteller - wie beispielsweise Rousseau, den utopischen Sozialisten Saint-Simon und die "skandalöse" Autorin George Sand -, die sogar einige ihrer progressiv denkenden Freunde schockierten. Im März 1848 begrüßte sie den Beginn der Revolution in Frankreich und drückte ihre Verachtung für den gestürzten Louis-Philippe aus. Sie weigerte sich, gefühlsduselig über einen "verzärtelten alten Mann" zu schreiben, wo es auf der Erde "Millionen hungriger Seelen und Körper" gibt.

Für England hatte sie jedoch keine Hoffnung auf eine Revolution. Hier wäre "eine revolutionäre Bewegung nur destruktiv - nicht konstruktiv. Außerdem würde sie niedergeschlagen werden ... Es gibt in unserer Verfassung nichts, wodurch das allmähliche Voranschreiten der politischen Reform behindert wird. Das ist alles was gegenwärtig möglich ist ... wir Engländer sind langsame Schnecken."

1851 zog sie um nach London mit dem Ziel, dort unter dem Namen Marian Evans eine professionelle Schriftstellerin zu werden. Beruflich und privat machte sie die Bekannschaft von John Chapman, der bald darauf Inhaber der Westminster Review wurde, eines führenden Journals für Politik und Kultur. Evans wurde Redakteurin dieses Blattes, redigierte Artikel und veröffentlichte darin viele ihrer eigenen Essays und Kritiken. Das Journal publizierte maßgebliche Betrachtungen über politische und soziale Reformen, über die britische Politik und die Weltpolitik, über Geschichte, Philosophie, Wissenschaft und Literatur. In jeder der 10 Ausgaben der Westminster Review, die Evans herausgab, rezensierte sie annähernd 100 Bücher.

In das Londoner Büro der Westminster Review kamen verschiedenste Persönlichkeiten des intellektuellen und kulturellen Lebens. Der Naturforscher Edward Forbes, der Biologe und Paläontologe Richard Owen auch der Biologe Thomas Huxley, der sich später entschlossen auf die Seite Darwins stellte. Unter den amerikanischen Besuchern befanden sich der Verleger Horace Greeley und der Dichter Cullen Bryant.

Haight schreibt weiter, dass es "in London von Flüchtlingen der Revolution von 1848 wimmelte, viele von ihnen wurden durch dieses Zentrum des aufgeklärten Radikalismus angezogen. Karl Marx kam durch Chapmans Freund Andrew Johnson ins Büro ... es gibt keine Aufzeichnungen über ein Zusammentreffen mit Marian. Aber sie traf einen weiteren Freund Johnsons, den revolutionären Dichter Ferdinand Freiligrath, der nach London kam, um Marx zu treffen." Evans sprach auch mit dem exilierten französischen reformistischen Sozialisten Louis Blanc und dem italienischen nationalistischen Führer Giuseppe Mazzini. Unter anderem hatte sie auch mit Charles Dickens, Herbert Spencer und Wilkie Collins Kontakt.

George Henry Lewes George Henry Lewes

Anfang der 1850-er Jahre hatte "George Eliot" das Glück George Henry Lewes ( 1817-1878 ) kennenzulernen. Haight schreibt über den ehemaligen Chemiestudenten, Gelegenheitsschauspieler, Amateurnaturforscher und Comteschen Positivisten, dass "keiner seiner Zeitgenossen so vielseitig war wie er. 1850 hatte er bereits eine populäre Geschichte der Philosophie, zwei Romane, eine Biografie Robespierres [zur Rehabilitierung des französischen Revolutionsführers], eine Tragödie in Blankversen ... neben etlichen periodisch erscheinenden Artikeln zu verschiedensten Themen, die er seit seinem siebzehnten Lebensjahr geschrieben hatte, veröffentlicht." 1855 erschien seine Goethe- Biografie, die in Deutschland ein breites Publikum fand und mehrmals aufgelegt wurde. Auch seine wissenschaftlichen Arbeiten fanden Beachtung; manche seiner darin enthaltenen Anregungen wurden später von Physiologen übernommen.

Lewes war verheiratet und konnte sich aus verschiedenen rechtlichen Gründen nicht scheiden lassen. Er lebte mit Marian 24 Jahre, bis zu seinem Tod 1878, unverheiratet zusammen, und sie betrachteten sich als Eheleute. Es heißt, dass es eine außergewöhnliche Verbindung war, obwohl sie ihnen die Ausgrenzung aus der honorigen Gesellschaft eintrug.

1854 unternahmen sie eine Art Hochzeitsreise nach Deutschland, während der sie Franz Liszt besuchten und verschiedene andere Wissenschaftler und Künstler kennenlernten. Sie reisten später häufiger nach Deutschland, und die sich daraus ergebende intellektuelle Anregung trug beträchtlich dazu bei, Eliot zu einer bedeutenden Schriftstellerin werden zu lassen.

Ludwig Feuerbach Ludwig Feuerbach

Zu dieser Zeit begann Eliot mit der Übersetzung eines weiteren bedeutenden deutschen Werkes, Ludwig Feuerbachs Das Wesen des Christentums, das in Deutschland 1841 erschienen war. Ihre englische Übersetzung blieb die allgemein anerkannte. Jahrzehnte später stellte Engels zu diesem Buch fest, dass "es den Materialismus ohne Umschweife wieder auf den Thron erhob... außer der Natur und den Menschen existiert nichts, und die höhern Wesen, die unsere religiöse Phantasie erschuf, sind nur die phantastische Rückspiegelung unsers eignen Wesens....Man muss die befreiende Wirkung dieses Buchs selbst erlebt haben, um sich eine Vorstellung davon zu machen. Die Begeisterung war allgemein: Wir waren alle momentan Feuerbachianer."[2]

Heinrich Heine Heinrich Heine

Während ihrer Deutschlandreise von 1854 begann Marian auch mit der Übersetzung der Ethik Spinozas. Allerdings wurde dieses Werk zu ihren Lebzeiten nie veröffentlicht. Zwei Jahre später veröffentlichte sie eine ausführliche und aufschlussreiche Arbeit über den großartigen deutschen Dichter und politischen Radikalen Heinrich Heine, den sie als einen "der bemerkenswertesten Menschen unserer Zeit" bezeichnete. Über diese Arbeit hieß es noch im zwanzigsten Jahrhundert, dass sie "vermutlich mehr als jede andere Arbeit dazu beitrug, der englischsprachigen Welt den Genius Heines nahezubringen."

In Evans/Eliot begegnet uns ein außergewöhnlicher Geist, der zudem von tiefer Menschlichkeit geprägt ist. Der körperlich eher reizlosen, "und stillen Mrs. Evans", die Mitte der fünfziger Jahre den Namen Lewes annahm, gelang es, die meisten für sich einzunehmen, die ihre Intelligenz und Liebenswürdigkeit kennenlernen konnten. Sie war in der Lage, so ist es von Menschen überliefert, die sie kannten, ungeschminkte, bisweilen unangenehme Wahrheiten auszusprechen, ohne zu verletzen. Eine ihrer Bekannten bemerkte einmal: "Die Verbindung von Ehrlichkeit und Empathie ist bei Marian außergewöhnlich stark. Sie verschweigt nichts, sondern sagt stets mit größter Offenheit ihre Meinung, sei sie zustimmend oder ablehnend, und doch scheint sie fähig zu sein, Schwächen wahrzunehmen, ohne ihr Feingefühl zu verlieren."

Nachsicht und Liebenswürdigkeit zeichnete sie in ihren persönlichen Beziehungen aus. Aber sie war keineswegs zurückhaltend, wenn es um Kommentare zu künstlerischen Arbeiten ging, die sie als falsch oder nichtssagend empfand. In ihrem zupackenden Essay Silly Novels by Lady Novelists (Alberne Romane von Romanschriftstellerinnen), der im Oktober 1856 in der Westminster Review veröffentlicht wurde, schrieb sie über die geistlosen Autorinnen und ihre Werke: "Wenn ihre adeligen Herren und Damen schon unwahrscheinlich sind, dann sind ihre Literaten, Kaufleute und Häusler geradezu unmöglich und ihr Verstand scheint die Besonderheit zu haben, sowohl das gleichermaßen unzutreffend wiederzugeben, was sie gesehen und gehört haben, als auch das, was sie nicht gesehen und gehört haben."

Charles Dickens Charles Dickens

Evans begann ihre Karriere als Autorin fiktionaler Literatur 1856/57 mit den Scenes of Clerical Life, einer Sammlung dreier Kurzgeschichten über das Leben in Pfarrhäusern, die erstmalig im Verlauf des Jahres 1857 im Blackwood’s Magazine veröffentlicht wurden. Die Geschichten zogen beträchtliche Aufmerksamkeit auf sich. Charles Dickens bewunderte sie und schrieb an "George Eliot" - ihren männlichen Vornamen hatte sie zu Ehren von Lewes angenommen - einen entsprechenden Brief. "Etwas von so außerordentlicher Wahrhaftigkeit und Köstlichkeit sowohl was den Humor als auch was das Pathos der Geschichten angeht, ist mir noch nicht begegnet und ich bin in einer Weise beeindruckt, die ich Ihnen kaum beschreiben kann." Dickens ließ sich durch den männlichen Namen des Autors nicht täuschen. Er merkte an, dass die Geschichten, "sollten sie nicht von einer Frau stammen", von einem Mann geschrieben wurden, dessen Gabe zu fühlen und sich künstlerisch auszudrücken wie eine Frau "seit dem Beginn der Welt" einzigartig sei.

Damit sind wir bei Eliots erstem Roman, Adam Bede. Die Handlung des Romans spielt im ländlichen England des Jahres 1799. Eliot gibt der Beschreibung der Landschaft, mit der sie sich offenbar sehr verbunden fühlte und die sie vor dem Schreiben des Romans genauestens studierte, viel Raum. Die Titelfigur, Adam Bede, ist ein aufrechter Zimmermann, der mit seiner Mutter und seinem Bruder zusammenlebt. Adam liebt Hetty Sorrel, eine verwaiste Nichte der Poysers, die die beste Farm des Gutsbesitzes Donnithorne gepachtet hatten. Dinah Morris, eine methodistische Wanderpredigerin, ist ebenfalls eine Nichte der Poysers.

Die schöne, etwas eigennützige Hetty sehnt sich, das eintönige Leben auf der Farm hinter sich zu lassen. Sie wirkt anziehend auf Arthur Donnithorne, den jungen Adligen, der den Grundbesitz bald von seinem alten Großvater übernehmen wird. Heimlich beginnen Arthur und Hetty sich im Wald zu treffen, wo Adam Bede sie eines Abends bei einem Kuss antrifft. Adam schlägt sich mit Arthur und zwingt ihn, Hetty eine Nachricht zur Beendigung dieser Beziehung zu schreiben, wodurch "ihre kleine Traumwelt" in Scherben fällt. Nach Arthurs Abfahrt zu seinem Regiment verlobt Hetty sich mit Adam. Als ihr bewusst wird, dass sie schwanger ist, bricht sie auf, um Arthur zu suchen.

Als es ihr nicht gelingt, ihren früheren Liebhaber ausfindig zu machen, entschließt sie sich aus Furcht vor der Ächtung zuhause, ihr Baby mit Hilfe einer Frau, die sie auf ihrer Reise kennenlernt, unterwegs zu entbinden,. Überwältigt von ihrer Situation und unfähig den ernsthaft erwogenen Suizid zu begehen, lässt Hetty ihr Baby in einem Feld zurück, wo es schließlich stirbt. Sie wird aufgegriffen, wegen Kindsmords angeklagt und zum Tod durch Erhängen verurteilt. Dinah tröstet sie im Gefängnis und auch der Seelenqualen leidende Adam besucht sie. Im letzten Augenblick wird ihr Urteil auf Verbannung in eine Strafkolonie umgewandelt. Adam and Dinah, die allmählich Gefühle füreinander entwickeln, heiraten und leben gemeinsam.

Das Buch sollte man gelesen haben, aber es hat verschiedene Aspekte, die es wert sind hier besonders hervorgehoben zu werden. Zunächst gilt es, den Adam Bede gegen eine besondere Spezies "linker Kritiker" zu verteidigen, die sich herablassend über Eliots "liberalen Humanismus" und den "traditionellen Realismus" verbreiten. Man muss uns nicht darauf hinweisen, dass in gesellschaftlicher und künstlerischer Hinsicht seit der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts eine Menge Wasser die Themse hinabgeflossen ist.

Künstler schaffen ihre Werke nicht in einem Umfeld ihrer Wahl. Objektive Umstände stellen sich ihnen in den Weg und der gewissenhafteste Künstler muss seinen Weg finden, sie zu bewältigen oder zu unterlaufen. Wir bewerten Künstler nicht nach abstrakten, unhistorischen Kriterien, sondern danach, wie sie auf die spezifischen Herausforderungen ihrer Zeit reagierten.

Als Eliot in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ihre Romane schrieb, war England die "Werkstatt der Welt" und befand sich mitten in einer historisch einzigartigen, industriellen Entwicklung. Dieses Wachstum und die beispiellose Anhäufung von Reichtum, wirkten sich auf das intellektuelle und kulturelle Leben und auf jede soziale Schicht aus.

Engels bemerkte 1885: "Solange Englands Industriemonopol dauerte, hat die englische Arbeiterklasse bis zu einem gewissen Grad teilgenommen an den Vorteilen dieses Monopols. Diese Vorteile wurden sehr ungleich unter sie verteilt; die privilegierte Minderheit sackte den größten Teil ein, aber selbst die große Masse hatte wenigstens dann und wann vorübergehend einen Anteil daran. Und das ist der Grund, warum es seit dem Aussterben des Owenismus in England keinen Sozialismus gegeben hat."[3]

Es war höchst unwahrscheinlich, dass in dieser Zeit, in der es nicht einmal in den führenden Schichten der Arbeiterklasse solcherart Bestrebungen gab, aus Eliot eine revolutionäre Gegnerin des Kapitalismus hätte werden können. Es ist im Gegenteil sehr außergewöhnlich, dass Eliot in diesem konservativen Klima ihre in hohem Maße eindringlichen und kritischen sozialen Ansichten entwickelte.

Realismus

Der Realismus ist ein umfassendes Thema, das hier nur gestreift werden kann. Es scheint berechtigt, unsere "linksliberalen" Kritiker zu fragen, von welchem Standpunkt sie Eliots angeblich "traditionellen" und "naiven" Auffassungen kritisieren, besonders ihre Darlegungen im Kapitel 17 mit der Überschrift: In welchem die Geschichte eine kleine Pause macht. Bevorzugen sie reichhaltigere und genauere Annäherungen an das Leben, als Eliot sie zu schaffen vermochte und berücksichtigen sie dabei den künstlerischen Fortschritt und die gesellschaftlichen Erfahrungen der letzten 150 Jahre? Oder ist ihre Kritik nicht vielmehr ein Rückschritt, der damit zusammenhängt, dass sie jegliches Vermögen ablehnen, die Wahrheit über die objektive Welt künstlerisch nachzuvollziehen?

Gustave Courbet Gustave Courbet

Eliots Ansichten zum Realismus entsprachen der radikalen Umorientierung der Künstler infolge einer neuen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Realität, der neuen philosophischen und politischen Theorie und des wissenschaftlichen Fortschritts. Die Erhebungen der Arbeiterklasse Frankreichs von 1830 und 1848 stellten neue Herausforderungen dar. Courbets Bilder von Bauern, kleinbürgerlichem Stadtvolk, Arbeitern und Dorfmädchen wurden als "Verherrlichung der gewöhnlichen Hässlichkeit", als "demokratisch" und "materialistisch" verschrien. 1851 sagte der Maler von sich, er sei ein "Anhänger jeder Revolution und vor allem Realist ... ‚Realist‘ bedeutet, ein aufrichtiger Freund der Wahrheit" zu sein.

Lewes schrieb in seinem Artikel Realism in Art: Recent German Fiction (Realismus in der jüngsten deutschen Literatur) von 1858, dass die Kunst "eine Abbildung der Wirklichkeit" sei. "Realismus ist ... die Grundlage aller Kunst und sein Gegensatz ist nicht der Idealismus, sondern die Verfälschung. Wenn unsere Maler Bauern mit regelmäßigen Gesichtszügen und tadelloser Kleidung darstellen,... so versuchen sie zu idealisieren - das Ergebnis ist jedoch eine Verfälschung und schlechte Kunst ...Entweder malt ihr uns wirkliche Bauern, oder lasst es ganz sein; entweder malt ihr überhaupt keine Textilien, oder malt sie mit größter Genauigkeit; entweder lasst ihr die Menschen schweigen, oder so reden, wie es in ihrer Klasse üblich ist."

Der russische Literaturkritiker Wissarion Grigorijewitsch Belinsky schrieb 1847, dass Gogol seinen Beitrag zur russischen Literatur nur dadurch erreichen konnte, weil er ausschließlich das "wirkliche Leben" zur Grundlage seiner Kunst machte und "jedes Wunschbild" vermied. Um das zu erreichen, sei ein "besonderes Studium des Volkes, der Massen" notwendig gewesen. So sei es möglich gewesen, das gewöhnliche Volk - und nicht liebenswürdige Ausnahmen davon - darzustellen, was die Dichter stets zur "Idealisierung geführt hat und verfälschte Abbilder hervorbrachte" Gogols Werk sei "die Kunst als Repräsentation der Wirklichkeit in höchster Genauigkeit".

Im Kapitel 17 des Adam Bede tritt Eliot für die wirklichkeitsgetreue Darstellung des unvollkommenen und fehlbaren Menschen ein. Man müsse alle Menschen so akzeptieren, wie sie sind, und sie schreibt, die Künstler müssten ihre Aufmerksamkeit auf "die wirklich atmenden Männer und Frauen" richten; "die durch ihre Gleichgültigkeit frösteln und von deinem Vorurteil verletzt werden können; die ermuntert und unterstützt werden können durch dein Mitgefühl, deine Nachsicht, deine ausgesprochene, unerschrockene Gerechtigkeit."

Eliot schreibt weiter: "Falschheit ist so einfach, Wahrheit ist so schwierig... Man prüfe seine Worte gut, und man wird feststellen, dass, selbst wenn man keinen Beweggrund hat, unehrlich zu sein, es sehr schwer ist, die genaue Wahrheit zu sagen, selbst über unsere eigenen unmittelbaren Empfindungen - viel schwerer, als etwas Schönes über sie zu sagen, dass nicht die exakte Wahrheit ist."[4] Einige Jahre später schließt Tolstoi sich diesem Gedanken in Krieg und Frieden mit den Worten an, "es ist so schwer die Wahrheit zu sagen".

Die Autorin des Adam Bede rühmt im Besonderen die niederländischen Maler des siebzehnten Jahrhunderts für ihre Hinwendung zum gemeinen Volk und zu den "billigen, gewöhnlichen Dingen, die für sie kostbare Lebensnotwendigkeiten sind." Sie besteht darauf, dass das "gemeine, ungehobelte Volk" nicht "aus der Kunst verbannt" sein dürfe. "Jene alten Frauen, die mit ihren abgearbeiteten Händen Möhren schaben, jene ungeschlachten Bauerntölpel, die in einer schmuddeligen Schenke einen Feiertag halten, jene gerundeten Rücken und stumpfsinnigen, wettergegerbten Gesichter, die sich über den Spaten gebeugt und die grobe Arbeit der Welt getan haben - diese Wohnungen mit ihren Blechpfannen, ihren braunen Krügen, ihren struppigen Kötern und ihren Zwiebelbüscheln."

In einem weiteren Artikel in der Westminster Review machte Eliot 1856 deutlich, wie ernst sie die genaue Darstellung der "schwerer beladenen Leute", der arbeitenden Klasse nahm: "Kunst ist dem Leben am nächsten, ist eine Möglichkeit zu vertiefter Erfahrung und intensiveren, über die Grenzen unseres persönliches Schicksals hinausreichenden Kontakts zu unseren Mitmenschen. Umso erhabener ist die Aufgabe des Künstlers, das Volk darzustellen. Hier ist Verfälschung weitaus verderblicher als in den verfeinerten Bereichen des Lebens." (The Natural History of German Life)

Es wäre natürlich heutzutage undenkbar, einfach zu Eliots Auffassung von Realismus zurückzukehren. Nach den dramatischen, welterschütternden Ereignissen des zwanzigsten Jahrhunderts und den neuen Strömungen im Geistesleben, wie dem Kubismus, Surrealismus, Imagismus, Expressionismus, Futurismus und anderen, kann man die Welt keinesfalls mehr so sehen, wie ein Schriftsteller um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts. Die Photographie und der Film, um nur zwei technologische Entwicklungen zu nennen, haben die Art, Bilder zu erzeugen, für immer verändert.

Außerdem haben die Künstler, trotz aller Schwierigkeiten und Rückschläge im vergangenen Jahrhundert alle möglichen lebendigen, spontanen und schnellen Methoden zur Abbildung des Lebens entwickelt. Die relative Stabilität der englischen Gesellschaft, in der Eliot ihren Adam Bede schuf, gehört unzweifelhaft der Vergangenheit an. Heute ist daher eine Kunst notwendig, die auf dramatische und abrupte Veränderungen, Massenbewegungen, Katastrophen und große Siege eingestellt ist, auch wenn all dies nur im Leben eines Individuums oder in einem lyrischen Gedicht repräsentiert wird.

Die Positionen Eliots, Lewes, Belinskys, Courbets und anderer galten als intellektuelle Errungenschaften, als absolute "Perlen der Wahrheit", genau so wahr, wie die Errungenschaften der Wissenschaft. Darwins Arbeit konnte und musste weiterentwickelt werden, aber es gab - ohne katastrophale Folgen - kein Zurück mehr hinter Die Entstehung der Arten. Und ebenso gibt es kein Zurück in eine Kunstperiode, in der die Idealisierung der Vergangenheit oder des Menschen vorherrschte und der Schwerpunkt auf die pathetische und sentimentale Behandlung der Elite gesetzt wurde und das "Schöne" die Welt dominierte, während die "gewöhnlichen" Tatsachen des Lebens in den Hintergrund gedrängt wurden. Die Feststellung, dass die Kunst wahrhaftig und vollständig die Wirklichkeit abbilden müsse - mit welchem besonderen Stil oder Ansatz auch immer - kann nicht mehr umgestoßen werden.

Friedrich Engels Friedrich Engels

Mit demselben Tenor äußerten Marx und Engels sich 1859 auf fesselnde Weise in ihren Briefen an den Sozialistenführer Ferdinand Lassalle, der seinen Franz von Sickingen, eine Tragödie um die Revolte schwäbisch-rheinländischer Ritter im sechzehnten Jahrhundert, veröffentlicht hatte . Engels drückte freundlich aber bestimmt seine Haltung gegen den Idealismus und für den Realismus in der Kunst aus: "Für meine Ansicht vom Drama, die darauf besteht, über dem Ideellen nicht das Realistische über Schiller den Shakespeare nicht zu vergessen.... Welch wunderlich bezeichnende Charakterbilder gibt nicht diese Zeit der Auflösung der Feudalverbände in den vegirenden Bettlerkönigen, brotlosen Landsknechten -& Abenteurern aller Art - ein Fallstaffscher Hintergrund...." [5]

Auch Marx umriss in seinem Brief an Lassalle, dass er Shakespeare gegenüber Schiller vorziehe: "Im einzelnen muss ich hier und da übertriebenes Reflektieren der Individuen über sich selbst tadeln, was von Deiner Vorliebe für Schiller herrührt."[6]

George Eliot George Eliot

Bestimmte Abschnitte in George Eliots Adam Bede (1859) und die Art und Weise ihrer Gestaltung durch die Autorin sind besonders bemerkenswert. Der Roman besticht in den ersten zwei Dritteln durch die Darstellung des ländlichen Lebens, die ausgeprägten Charaktere, wie beispielsweise der Mrs. Poysers; die Entwicklung der Beziehung zwischen Arthur und Adam; die Abfolge der Predigten Dinahs und Weiteres. Mancher Leser mag aber erschrocken innehalten, wenn er das Kapitel 35, Die verborgene Furcht, liest, in dem sich die Tragödie Hettys entfaltet.

Der Roman nimmt hier unvermittelt einen anderen Verlauf, wird schärfer und verstörender, wendet sich den schmerzvollen Seiten des Lebens zu, die vielen Schriftstellern jener Zeit nicht in den Sinn kamen oder denen sie sich nicht stellten. Die Metaphorik verändert sich gleichermaßen. Wir sind nicht länger in diesem "freundlichen Hochland", dessen natürliche Schönheit, seine "schwellenden Hügel...eingebettet in Heckenzäune und hohes Wiesengras und dichtes Korn" Eliot zuvor beschreibt, wo der Reisende "an jeder Biegung einen schönen alten Landsitz findet, der sich ins Tal schmiegte oder einen Hang krönte." [7]

Plötzlich sehen wir Hetty an einem "dunklen umwachsenen Teich" unter einer alten Eiche. "Sie hat oft an diesen Teich gedacht in den Nächten des Monats, der gerade vergangen ist, und jetzt endlich ist sie hier, um ihn zu sehen. Sie umfasst mit den Händen ihre Knie und beugt sich vor und betrachtet ihn ernsthaft, als versuche sie zu erraten, was für eine Art Bett er für ihre jungen, runden Glieder abgeben würde." [8] Diese Person, das unbedeutende, schwangere Mädchen vom Lande, eine Milchmagd, die am "dunklen kalten Wasser" sitzt und mit dem Gedanken an Selbstmord spielt, dürfte eine neuartige Figur in der englischen Romanliteratur sein.

Nachdem es ihr nicht gelang, Arthur zu finden, wird die Stimmung im Kapitel 37, "Reise in Verzweiflung", noch düsterer und bedrohlicher. Hetty beschließt "sie würde aus dem Gesichtskreis aller wandern und sich dort ertränken, wo man ihre Leiche nie finden würde, und niemand sollte wissen, was aus ihr geworden war." [9] Sie suchte und fand einen Teich, "schwarz unter dem dunkler werdenden Himmel - keine Bewegung, kein Laut in der Nähe." [10] Es ist bemerkenswert, dass Eliots üblicherweise kunstvoll ausgefeilte, viktorianische Prosa in diesen Passagen schlichter und nüchterner wird.

"Der Teich hatte jetzt seine winterliche Tiefe. Bis er seicht wurde im Sommer, wie sie es von den Teichen in Hayslope wusste, könnte niemand mehr herausfinden, dass es ihre Leiche war. Doch da war noch ihr Korb - sie musste ihn ins Wasser werfen - erst mit Steinen beschweren und dann hineinwerfen. Sie stand auf um nach Steinen zu suchen, brachte bald fünf oder sechs herbei, die sie neben ihren Korb legte und setzte sich dann wieder. Sie brauchte sich nicht zu beeilen - sie hatte die ganze Nacht, um sich zu ertränken."

Theodore Dreiser Theodore Dreiser

Eliots Fähigkeit sich in Hetty hinein zu versetzen, ist in diesen Kapiteln sehr überzeugend. Man fühlt sich erinnert an Theodore Dreisers Darstellung der Vorbereitung des Mordes auf dem See durch seine Romanfigur Clyde Griffith in Eine amerikanische Tragödie. Dreiser selbst gab einmal zu, dass zu den Autoren, aus deren Werken er gelernt habe, auch Eliot gehörte. [11]

Wie Dreiser sechzig Jahre nach ihr in seinem Meisterwerk und Georg Büchner 1837 im aufgrund seines frühen Todes unvollendet gebliebenen Drama Woyzeck, diente Eliot ein tatsächlicher Mordfall als Inspiration für die Darstellung des traurigen Schicksals ihrer Hetty. Die "Anregung zum Adam Bede ", so erklärte Eliot einmal, sei eine Jahrzehnte zuvor von ihrer methodistischen Tante erzählte Geschichte gewesen. Diese berichtete, sie habe eine "verurteilte Verbrecherin - ein sehr unwissendes Mädchen namens Mary Voce", die ihr Kind umgebracht hatte, am Vorabend ihrer Hinrichtung 1802 im Gefängnis besucht. Die Tante verbrachte die ganze Nacht bei diesem Mädchen und begleitete sie danach im Karren auf dem Weg zum Richtplatz. Diese Geschichte, so Eliot, habe sie "zutiefst" berührt und sie habe sie nie vergessen.

Die oben erwähnten Episoden und später die erschütternden Szenen von Hettys Gerichtsverfahren, [12] sind die stärksten des Romans. Kritiker, die in Eliots Haltung gegenüber ihrer Figur Hetty kleinbürgerliches Moralisieren sehen, gehen meines Erachtens gänzlich fehl. Die zitierten Passagen sollen das verdeutlichen. (Der britische Kritiker Terry Eagleton findet zum Beispiel, dass Eliot Hetty gewissermaßen aus dem Roman "entfernt" oder "verbannt" habe. Sie habe ihren unglücklichen Charakter "von oben herab und stiefmütterlich behandelt". Man möchte "die Hände hilflos vor den Augen zusammenschlagen".) Das Gegenteil ist der Fall: Obwohl die Autorin Hettys Selbstbezogenheit und gefühlsmäßige Härte betont, bergen diese Szenen doch eine tiefe Sympathie für das verzweifelte Mädchen.

Eliot konnte ihrer Haut allerdings auch nicht entschlüpfen. Sie war, obwohl unverheiratet, auf dem Weg, mit ihren offensichtlich respektablen, wenn auch liberalen und "humanistischen" politischen Ansichten im viktorianischen England eine prominente Persönlichkeit zu werden. (Die Queen selbst, besonders jedoch ihre Tochter, Prinzessin Louise, bewunderten sie.) Der Focus liegt aber nicht auf Eliots begrenzten gesellschaftlichen Schlussfolgerungen und dem Ende des Romans mit glücklicher Ehe, neuem Leben und weitgehender Aussöhnung aller sozialen Elemente, sondern auf dem Ausmaß, in dem Szenen herausragen wie die am "dunklen Teich" (und vor Gericht) mit ihrem Hintergrund der Klassenausbeutung und der Unterdrückung der Frau in der Darstellung ihrer verunsichernden und psychologisch intensiven Qualität.

Diese Verbindung "objektiver", relativ kühler und unsentimentaler und doch tief bewegender Beschreibung allgemeiner Erfahrung - die auf starken Emotionen beruht - mit einem ausgeprägten Gesellschaftsverständnis führt ein neues oder ganz anderes Element in die englischsprachige Literatur ein. Hettys eigentlicher Name Hester ist wohl eine Bezugnahme auf Hester Prynne in Nathaniel Hawthornes The Scarlet Letter, einer einige Jahre früher veröffentlichten Geschichte um Ehebruch und ungewollte Schwangerschaft.

Man müsste ins elisabethanische Zeitalter, zu Shakespeare, den Volksmärchen und Volksliedern, zu Samuel Coleridge und William Wordsworths Lyrische Balladen, zu Scott’s Das Herz von Midlothian zurückkehren, um eine realistische Bildsprache wie bei Eliot zu finden. (Eines der wenigen literarischen Werke, das in Adam Bede namentlich erwähnt wird ist Wordsworth´ Der Dorn, ein Poem über einen mutmaßlichen Kindsmord. Eliots Roman erscheint ein Jahr nach dieser lyrischen Dichtung. [13] Aber obwohl Eliot die Handlung des Adam Bede 1859 in die Vergangenheit verlegt, behandelt der Roman doch die historisch neu entstandenen sozialen Interessen und Konflikte.

"Deutsche Einflüsse"

Abschließend sollte ein Punkt betrachtet werden, der vor allem das künstlerisch Innovative bei Eliot betrifft, ihre "deutschen Einflüsse". Wie bereits gesagt, hat sie Strauss und Feuerbach übersetzt, half Heine der englischsprachigen Welt zugänglich zu machen, lebte mit einem Mann zusammen, der Goethes Leben erforschte, reiste oft nach Deutschland und verkehrte dort mit führenden intellektuellen Persönlichkeiten. Tatsächlich schrieb sie beträchtliche Teile des Adam Bede während ihres Aufenthaltes in Deutschland, und eine wichtige Szene für ihren Roman, so sagte sie, sei ihr während einer Aufführung von Rossinis Wilhelm Tell in der Münchner Oper eingefallen.

Georg Büchner Georg Büchner

Gelehrte haben der Beziehung Eliots zu Goethe und Schiller etliche Bücher gewidmet. Es fällt aber schwer, die Szenen der Hetty Sorrel "am dunklen Teich" und vor Gericht zu lesen, ohne an einen weiteren bereits erwähnten deutschen Schriftsteller zu denken, der zu den außergewöhnlichsten Vertretern der deutschen Literatur des 19. Jahrhunderts zählt und bereits mit 23 Jahren an Typhus starb, Georg Büchner. Er veröffentlichte 1834 eine revolutionäre Schrift und musste aufgrund dessen aus Deutschland fliehen. Ihm drohte eine Verurteilung wegen Landesverrats. Danach schrieb er drei für den Leser verstörende aber gleichzeitig tiefere Wahrheiten enthüllende Werke, das Drama Dantons Tod, die Novelle Lenz und den Woyzeck.i

Sheila Stern veröffentlichte 2001 einen erstaunlichen Artikel in der Modern Language Review, mit dem Titel Truth so difficult: George Eliot and Georg Büchner, a shared time (Schwierige Wahrheit: George Eliot und Georg Büchner, Zeitgenossen). [14] Darin legt sie dar, dass Eliot Büchners Werk gekannt haben könnte, möglicherweise durch ihre und Lewes Bekanntschaft mit Justus Liebig, dem bekannten deutschen Chemiker und früheren politischen Dissidenten, der zu Georg Büchners Studentenzeit an der Universität Gießen eine Professur innehatte. (Stern hätte ebenfalls erwähnen können, dass Lewes und Eliot auch zu dem aus den Niederlanden stammenden Arzt und Physiologen Jakob Moleschott freundschaftliche Beziehungen unterhielten, dem oft das Etikett "Vulgärmaterialist" angeheftet wurde, der seine naturwissenschaftlichen und philosophischen Ansichten auch mit Georgs jüngerem Bruder Ludwig Büchner teilte.)

J. M. R. Lenz J. M. R. Lenz

Stern bezieht sich, um Eliots mögliche Vertrautheit mit Büchners Werk zu beweisen, auf Passagen seiner brillanten Novelle Lenz von 1836. Der Sturm-und-Drang-Dramatiker Jakob Michael Reinhold Lenz [ Der Hofmeister; Die Soldaten ] lebte von 1751 bis 1792. Büchners Novelle behandelt fiktiv den Aufenthalt von Lenz bei dem als Philanthropen bekannten Pfarrer Johann Friedrich Oberlin im Elsass 1778, wo der Dramatiker dem Wahnsinn verfällt.

In Büchners Novelle leidet Lenz unter religiösen ideologischen Wahnvorstellungen. "Das All war für ihn in Wunden; er fühlte tiefen, unnennbaren Schmerz davon." Nach dem gescheiterten Versuch des kranken Schriftstellers, ein verstorbenes Mädchen mit Gebeten wieder zum Leben zu erwecken, flieht er in die Berge. Büchner schreibt über Lenz "Es war ihm, als könnte er eine ungeheure Faust hinauf in den Himmel ballen und Gott herbeireißen und zwischen seinen Wolken schleifen; als könnte er die Welt mit den Zähnen zermalmen und sie dem Schöpfer ins Gesicht speien; er schwur, er lästerte ... Lenz musste laut lachen, und mit dem Lachen griff der Atheismus in ihn und fasste ihn ganz sicher und ruhig und fest." [15]

Stern verweist besonders auf eine Szene die zum realistischen Credo in Eliots Kapitel 17 des Adam Bede beigetragen haben könnte. In dieser Szene kommt es zu einem Gespräch zwischen Lenz und seinem Freund Kaufmann, der ihn in dem abgeschiedenen Bergdorf besuchen kam. Das Gespräch drehte sich um die Literatur und Lenz wandte sich gegen Idealisierung in der Kunst. " Ich verlange in allem Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist's gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es hässlich ist. Das Gefühl, dass, das was geschaffen sei, Leben habe, stehe über diesen beiden und sei das einzige Kriterium in Kunstsachen. Übrigens begegne es uns nur selten: In Shakespeare finden wir es, und in den Volksliedern tönt es einem ganz, in Goethe manchmal entgegen; alles Übrige kann man ins Feuer werfen."

Im Verlauf des Gespräches fügte Lenz hinzu: "Man muss die Menschheit lieben, um in das eigentümliche Wesen alles Existierenden einzudringen; es darf einem keiner zu gering, keiner zu hässlich sein, erst dann kann man sie verstehen; das unbedeutendste Gesicht macht einen tiefern Eindruck, als die bloße Empfindung des Schönen, und man kann die Gestalten aus sich heraustreten lassen, ohne etwas vom Äußern hineinzukopieren, wo einem kein Leben, keine Muskeln, kein Puls entgegenschwillt und pocht." [16]

Es ist durchaus möglich, dass Eliot auf Büchners Schriften stieß. Aber hätte sie diese gebraucht, um ihren Weg zu gehen? Wie wir bereits sahen, wurde der Gedanke, dass Kunst das Leben so umfassend und wahrhaftig wie möglich widerspiegeln sollte und dass außerdem das Leben der Armen und Unterdrückten ernsthaft behandelt werden müsse, damals von vielen Künstlern und Kritikern befürwortet. In jedem Falle ist Eliots Beeinflussung durch deutsche Schriftsteller und Intellektuelle beträchtlich, die zu jener Zeit die Tradition Shakespeares ernsthafter als irgendjemand sonst in Europa aufnahmen. [17]

Vincent van Gogh Vincent van Gogh

Für die abschließende Bemerkung über Eliot möchte ich einen weiteren wahrhaftigen und über vieles nachdenkenden Künstler des neunzehnten Jahrhunderts zitieren, den Maler Vincent van Gogh.

Van Gogh las Eliot in einer Übersetzung und schrieb daraufhin im März 1884 einem Freund: "Meine größte Sympathie in der Literatur, in der Kunst überhaupt, gehört jenen Künstlern, bei denen ich die lebendige Seele am klarsten erkenne ... was ich sagen will ist, dass Eliot nicht nur handwerklich meisterhaft ist, sondern darüber hinaus eine ganz besondere Begabung, ich würde sagen, dass ihre Bücher den Leser besser machen oder dass sie eine solche Stärke entfalten, dass man aufhorcht... Es gibt nicht viele Schriftsteller die so vollkommen wahrhaftig und gut sind wie Eliot."

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Anmerkungen:

1. Eine deutsche Ausgabe erschien 1987 bei Reclam in Stuttgart, ist aber zur Zeit vergriffen.

2. Friedrich Engels: Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie " in: Karl Marx/Friedrich Engels - Werke. Berlin. Band 21, 5. Auflage 1975, S. 273

3. Karl Marx/Friedrich Engels - Werke, Berlin. Band 22, 3. Auflage 1972, S. 316 ff.

4. George Eliot : Adam Bede, Stuttgart 1987, S. 239

5. Walter Hinderer (Hrsg.): Sickingen-Debatte, Darmstadt, 1974, S. 50

6. ebd. S. 39f.

Die Haltung des sowjetischen Literaturkritikers Alexander Woronski (der ein Opfer Stalins wurde) und Leo Trotzki stehen ebenfalls in dieser Tradition.

Woronski forderte:"Der Künstler muss endlich aufhören, uns statt der Wirklichkeit seine Eindrücke von dieser zu präsentieren. Die Welt muss in seinem Werk so erscheinen, wie sie wirklich ist, damit das Schöne und das Hässliche, das Liebenswerte und das Abscheuliche, das Freudige und das Traurige uns nicht deshalb als solches erscheint, weil der Künstler es so will, sondern weil es im wirklichen Leben so vorkommt, so existiert." Alexander Woronski: Die Kunst, die Welt zu sehen, Essen 2003, S. 404

In Literatur und Revolution definiert Trotzki "Realismus als "einen gewissen und nicht unwichtigen Zug des Weltgefühls: den Drang zum Leben, so wie es ist; kein Ausweichen vor der Wirklichkeit, sondern ihre künstlerische Bejahung, aktives Interesse an ihr, an ihrer konkreten Beständigkeit oder Veränderlichkeit." Trotzki betont, "immer gerade dieses Leben in unseren drei Dimensionen als ausreichende, vollwertige und eigenwertige Materie für die schöpferische Gestaltung anzuerkennen. In diesem weiten philosophischen, nicht aber im schulmäßig literarischen Sinne kann man aus Überzeugung sagen, dass die Kunst realistisch sein wird.

Leo Trotzki: Literatur und Revolution, Essen, 1994, S. 233

7. George Eliot: Adam Bede, Stuttgart 1987, S. 23

8. ebd. S. 492

9. ebd. S. 518

10. ebd. S. 521

11. Was den Romancier Thomas Hardy (1840-1928) betrifft, war Eliots Einfluss so offensichtlich, dass viele Kritiker bei der anonymen Publikation seines Erstwerkes Far from the Madding Crowd im Jahr 1874 Eliot als dahinterstehende Autorin zu erkennen glaubten.

12. Im Kapitel 43, "Das Urteil", erscheinen zwei Zeugen bei Hettys Verhandlung. Eliot stellt ihre furchtbaren Aussagen zur Geburt von Hettys Baby in einem Feld und des darauffolgenden Fortgehens der Mutter in mildem, sachlichen Tonfall dar. Die erste Zeugin beginnt mit den Worten: "Mein Name ist Sarah Stone. Ich bin Witwe und führe einen kleinen Laden mit der Lizenz zum Verkauf von Tabak, Schnupftabak und Tee in der Church Lane in Stoniton. Die Angeklagte ist dieselbe junge Frau, die am Samstag den 27. Februar, krank und müde aussehend, mit einem Korb am Arm zu mir und um ein Nachtquartier in meinem Hause bat..." Etwas später schreibt Eliot schlicht: "Die Zeugin sagte dann aus, dass in der Nacht ein Kind geboren wurde und sie identifizierte Säuglingskleidung, dir dann gezeigt wurde, als diejenige, mit der sie selbst das Kind gekleidet habe." (S. 584)

Der zweite Zeuge begann: "Mein Name ist John Olding. Ich bin Arbeiter und wohne in Tedds Hole, zwei Meilen von Stoniton. Letzten Montag gegen ein Uhr mittags ging ich zum Hettoner Gehölz und etwa eine Viertelmeile vor dem Gehölz, sah ich die Angeklagte in einem roten Mantel wie sie unter einem kleinen Heuschober saß, nicht weit vom Zaunübertritt. Sie stand sie auf, wie sie mich sah und schien in anderer Richtung weiterzugehn. Es war ein richtiger Weg durch die Felder und darum war´s nichts Ungewöhnliches, dort eine junge Frau zu sehen, doch sie fiel mir auf, weil sie bleich und verängstigt aussah ...." Und so weiter.

Die künstlerische Behandlung von Hettys Gerichtsverhandlung ist eines Büchners, Brechts oder Döblins Berlin Alexanderplatz).würdig.

13. Aus William Wordsworth’s The Thorn (Der Dorn): "XI ...’Tis now some two and twenty years, Since she (her name is Martha Ray) Gave with a maiden’s true good will Her company to Stephen Hill; And she was blithe and gay, And she was happy, happy still Whene’er she thought of Stephen Hill.

"XII And they had fix’d the wedding-day, The morning that must wed them both; But Stephen to another maid Had sworn another oath; And with this other maid to church Unthinking Stephen went— Poor Martha! on that woful day A cruel, cruel fire, they say, Into her bones was sent: It dried her body like a cinder, And almost turn’d her brain to tinder.

"XIII They say, full six months after this, While yet the summer leaves were green, She to the mountain-top would go, And there was often seen. ’Tis said, a child was in her womb, As now to any eye was plain; She was with child, and she was mad, Yet often she was sober sad From her exceeding pain. Oh me! ten thousand times I’d rather, That he had died, that cruel father!"

Aus der Einleitung zu Lyrical Ballads, von Wordsworth (1770-1850) und Coleridge (1772-1834), veröffentlicht 1798:

"Die hier vorgestellten Poeme sind überwiegend als Versuche anzusehen. Sie wurden hauptsächlich geschrieben, um herauszufinden, inwieweit die Sprache der mittleren und unteren Klassen der Gesellschaft poetisches Vergnügen bereitet. Leser die den Prunk und die fade Phraseologie vieler gegenwärtiger Schriftsteller gewohnt sind und daran festhalten, dieses Buch bis zum Schluss zu lesen, werden wohl häufig mit Gefühlen wie Befremdung und Verlegenheit zurechtkommen müssen: Sie werden die Poesie vermissen und sich veranlasst sehen zu fragen, durch wessen Wohlwollen diese Versuche sich als solche bezeichnen dürfen."

14. Georg Lukács schrieb 1937 zum einhundertsten Todestag Büchners, der Schriftsteller sei ein "plebejischer Revolutionär" gewesen, der begonnen habe die ökonomischen Grundlagen der Befreiung der Arbeiterklasse mit Deutlichkeit zu erkennen. Er sei eine bedeutende Figur in der von Gracchus Babeuf bis Blanqui (im Juniaufstand von 1848) reichenden Linie.

Weiter heißt es: "Mit einer an Shakespeare erinnernden Klarheit und Vehemenz wird dieses Problem gleich in den ersten Szenen des Dramas [ Dantons Tod ] exponiert....Büchner ist also dichterisch durchaus konsequent, wenn er diese Volksszene mit einem grotesk-realistischen an Shakespeare geschulten bitteren Humor gestaltet."

"Daraus entsteht Büchners bedeutender an Shakespeare und Goethe geschulter Realismus. Seine politische Sehnsucht begehrt den bewusst gewordenen, zur politischen Aktivität erwachten "Armen". Als großer Realist gestaltet aber den ausgelieferten, ausgebeuteten, ruhelos hin und her gejagten, von jedem getretenen Woyzeck, die großartigste Gestalt des damaligen "Armen" in Deutschland." (Der faschistisch verfälschte und der wirkliche Büchner, in: Georg Lukács: Literatursoziologie, Neuwied, 1961S. 476ff)

Büchner lässt Woyzeck sagen: "Wir arme Leut ... Sehn Sie Herr Hauptmann: Geld, Geld! Wer kein Geld hat ... Da setz einmal eines seinesgleichen auf die Moral in die Welt! Man hat auch sein Fleisch und Blut. Unsereins ist doch einmal unselig in der und der andern Welt. Ich glaub, wenn wir in Himmel kämen, so müssten wir donnern helfen."

Woyzeck ist das Werk, welches der Hetty Sorrel im Adam Bede am nächsten steht, wenn er in einer der Schlussszenen "an einem Teich" sitzt und die Mordwaffe, ein blutiges Messer hineinwirft: "Es taucht in das dunkle Wasser wie ein Stein!" Aber Eliot konnte dieses Werk nicht gekannt haben, denn es wurde erst Jahrzehnte nach dem Tod des Autors 1879 veröffentlicht.

15. http://findarticles.com/p/articles/mi_7026/is_1_96/ai_n28124937/?tag=content;col1

16. Georg Büchner: Lenz, in: Gesammelte Werke, München 1960, S.97

17. ebd. S. 90

Aus einer Einführung William E. Yuills zu einer englischsprachigen Ausgabe von Lenz` Der Hofmeister und Die Soldaten (University of Chicago Press, 1972): "Hinsichtlich seines Werks Die Soldaten ging Lenz so weit, sich selbst, eine Formulierung Shakespeares nutzend, als den "stinkenden Atem des Volkes" zu bezeichnen... Sein durchgehendes Streben ist darauf gerichtet, die Übel der Gesellschaft auszumachen, in der er lebt, ‘die sozialen Klassen so darzustellen, wie sie wirklich sind, nicht wie sie den Menschen der höheren Schicht erscheinen, die mitfühlenderen, sensibleren und barmherzigeren und mildtätigeren Herzen in dieser Schicht zu öffnen und so neue Möglichkeiten und Quellen für Menschlichkeit zu erschließen.’... alles in allem hatte Lenz ein grundlegendes Interesse am Leben der armen Klasse und zeigte Anteilnahme an ihren Problemen in einer für die damalige Zeit untypischen Weise. Seine Bewunderung für den Frohsinn, Fleiß und gesunden Menschenverstand der arbeitenden Menschen ist ein Merkmal seines unvollendeten Dramas Die Kleinen Leute."

18. Auch bei Heinrich Heine (1797-1856) gibt es ein derbes, unsentimentales, "shakespearisches" Element beispielsweise in "Ein Weib" - einem Gedicht über eine Prostituierte und einen Dieb. In der letzten Strophe heißt es:

"Um sechse des Morgens ward er gehenkt, Um sieben ward er ins Grab gesenkt; Sie aber schon um achte Trank roten Wein und lachte."

Der deutsche Dramatiker Bertold Brecht setzt diese Tradition in seinen Dramen vielfach fort. Seine frühen Werke, insbesondere Baal, Trommeln in der Nacht und Im Dickicht der Städte, wie auch seine Adaption des Edward II von Christopher Marlowe, belegen diesen Einfluss.

In seinen Bemerkungen Über den Realismus (1940) bezieht sich Brecht auf die "deutschen Realisten der Bühne, Lenz, der junge Schiller, Büchner, der Kleist des Kohlhaas... der junge Gerhart Hauptmann, der Wedekind von Frühlings Erwachen". Bertolt Brecht Gesammelte Werke, Frankfurt 1967, Bd. 19, S. 364).

Und in einer Notiz in seinem Tagebuch heißt es 1950, zu Lenz Der Hofmeister, den er selbst in der DDR am Berliner Ensemble inszeniert hatte, "Der Hofmeister scheint gut gewählt für die Übung der Schauspieler im realistischen und zugleich großen Stil. Das ist der Weg zum Shakespeare, der Rückweg, soviel ist im Deutschen von ihm begriffen worden. Brecht: Arbeitsjournal 1942-1955, Bd. 2 Frankfurt 1974

Brecht behandelte die Kindstötung selbst auf bewegende Weise in Von der Kindesmörderin Marie Farrar (1920). Die Schlusszeilen lauten:

"Marie Farrar, geboren im April

Gestorben im Gefängnishaus zu Meißen

Ledige Kindesmutter, abgeurteilt, will

Euch die Gebrechen aller Kreatur erweisen.

Ihr, die ihr gut gebärt in saubern Wochenbetten

Und nennt "gesegnet" euren schwangeren Schoß

Wollt nicht verdammen die verworfnen Schwachen

Denn ihre Sünd war schwer, doch ihr Leid groß.

Darum, ich bitte euch, wollt nicht in Zorn verfallen

Denn alle Kreatur braucht Hilf von allen."

i Georg Lukács schrieb 1937 zum einhundertsten Todestag Büchners, der Schriftsteller sei ein "plebejischer Revolutionär" gewesen, der begonnen habe die ökonomischen Grundlagen der Befreiung der Arbeiterklasse mit Deutlichkeit zu erkennen. Er sei eine bedeutende Figur in der von Gracchus Babeuf bis Blanqui (im Juniaufstand von 1848) reichenden Linie. Weiter heißt es: "Mit einer an Shakespeare erinnernden Klarheit und Vehemenz wird dieses Problem gleich in den ersten Szenen des Dramas [Dantons Tod] exponiert....Büchner ist also dichterisch durchaus konsequent , wenn er diese Volksszene mit einem grotesk-realistischen an Shakespeare geschulten bitteren Humor gestaltet." "Daraus entsteht Büchners bedeutender an Shakespeare und Goethe geschulter Realismus. Seine politische Sehnsucht begehrt den bewusst gewordenen, zur politischen Aktivität erwachten "Armen". Als großer Realist gestaltet aber den ausgelieferten, ausgebeuteten, ruhelos hin und her gejagten, von jedem getretenen Woyzeck, die großartigste Gestalt des damaligen "Armen" in Deutschland." (Der faschistisch verfälschte und der wirkliche Büchner, in: Georg Lukács: Literatursoziologie, Neuwied, 1961S. 476ff) Büchner lässt Woyzeck sagen: "Wir arme Leut ... Sehn Sie Herr Hauptmann: Geld, Geld! Wer kein Geld hat ... Da setz einmal eines seinesgleichen auf die Moral in die Welt! Man hat auch sein Fleisch und Blut. Unsereins ist doch einmal unselig in der und der andern Welt. Ich glaub, wenn wir in Himmel kämen, so müssten wir donnern helfen." Woyzeck ist das Werk, welches der Hetty Sorrel im Adam Bede am nächsten steht, wenn er in einer der Schlussszenen "an einem Teich" sitzt und die Mordwaffe, ein blutiges Messer hineinwirft: "Es taucht in das dunkle Wasser wie ein Stein!" Aber Eliot konnte dieses Werk nicht gekannt haben, denn es wurde erst Jahrzehnte nach dem Tod des Autors 1879 veröffentlicht.

Siehe auch:
Heinrich Heine 1797-1856
(24. Februar 2006)

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