Perspektive

Diplomatische Geheimnisse und imperialistische Verbrechen

Die Veröffentlichung der ersten von etwa 250.000 klassifizierten Dokumenten von amerikanischen Botschaften in aller Welt durch WikiLeaks hat in Washington und bei seinen Verbündeten Empörung und die Forderung nach Vergeltung ausgelöst.

US-Justizminister Eric Holder bekräftigte am Montag, dass das Justizministerium mit Unterstützung der militärischen Abwehr aktiv die Untersuchung einer strafbaren Handlung eingeleitet habe“, die sich vermutlich gegen WikiLeaks und seinen Gründer Julian Assange richtet.

Sowohl die Demokratische, wie auch Republikanische Politiker fielen in den Chor der Verurteilungen und Drohungen ein. Einige gingen so weit, die Anklage des Gefreiten Bradley Manning wegen Hochverrats und seine Hinrichtung zu fordern. Manning wird beschuldigt, WikiLeaks das so genannte „Kollateraler Mord“-Video zugespielt zu haben, das das Massaker an irakischen Zivilisten durch einen amerikanischen Kampfhubschrauber im Jahre 2007 dokumentiert.

Im Zusammenhang mit den nachfolgenden Enthüllungen wird Manning als darin “verwickelte Person” bezeichnet. Im Juli wurden 92.000 Gefechtsberichte aus Afghanistan offengelegt, die die Tötung von mehr als 20.000 afghanischen Zivilisten dokumentieren, und im Oktober weitere 400.000 Dokumente über den Irak, die die Tötung Tausender Zivilisten sowie Folter und ihre Verschleierung belegen.

Der Republikanische Abgeordnete Peter King aus New York forderte, WikiLeaks als „ausländische Terrororganisation“ zu bezeichnen. Das würde ihre Mitarbeiter wahrscheinlich zu Zielpersonen für Mordanschläge der Geheimdienste und militärischer Todesschwadronen machen.

Senator Joseph Lieberman, der Vorsitzende des Senatsausschusses für Heimatschutz hatte eine der bizarreren Verdammungen von WikiLeaks auf Lager. Er nannte die jüngsten Enthüllungen „ein Vergehen gegen unsere Demokratie und das Prinzip der Transparenz“, weil die Organisation den „demokratischen Prozess ausschaltet“, indem sie Dokumente öffentlich macht, die die Regierung als geheim einstuft.

Eine ähnliche Position nahm ein französischer Minister im Namen des Élysée-Palasts ein. „Wir unterstützen die amerikanische Regierung in ihrem Bemühen, Schaden von der Autorität von Staaten und der Qualität ihrer Dienste abzuwenden und Bedrohungen von Männern und Frauen abzuwenden, die ihrem Land dienen“, sagte der Sprecher, Francois Beroin. „Ich war immer der Meinung, dass eine transparente Gesellschaft eine totalitäre Gesellschaft ist.“

Dieser perverse Versuch, Staatsgeheimnisse mit Freiheit und Demokratie gleichzusetzen – und die Entlarvung von Staatsgeheimnissen als anti-demokratisch und totalitär zu brandmarken -, spricht Bände über den Charakter der “Scheindemokratie” in den USA und der übrigen kapitalistischen Welt und den zutiefst reaktionären Charakter der Angriffe auf WikiLeaks.

Die offizielle Antwort auf die Internetveröffentlichung der neuen Dokumente durch WikiLeaks gab Außenministerin Hillary Clinton, die ebenfalls eine Strafverfolgung der Verantwortlichen forderte.

Clinton betonte, dass es in der Vergangenheit schon Beispiele „für Enthüllungen im Namen der Entlarvung von Missetaten offizieller Stellen gegeben hat, aber das ist hier nicht der Fall.“ Die veröffentlichten Depeschen, behauptete sie, zeigen lediglich, dass amerikanische Diplomaten, tun, was von ihnen erwartet wird“ und „das sollte uns stolz machen“.

Offensichtlich verlässt sich Clinton darauf, dass niemand die Depeschen liest und dass gefällige Medien das meiste unterdrücken. Die bisherigen Enthüllungen umfassen:

  • · Eine Depesche vom Januar 2010 über eine Unterhaltung zwischen General David Petraeus und dem korrupten Diktator des Jemen, Präsident Ali Abdullah Saleh, in der ein Deal ausgehandelt wurde, dass das jemenitische Regime die Verantwortung für geheime Luftschläge des amerikanischen Militärs übernehmen sollte. Nur wenige Wochen vorher hatte eine amerikanische Cruise Missile ein jemenitisches Dorf verwüstet, 55 Menschen getötet, davon mindestens 41 Frauen und Kinder.
  • · Depeschen des Außenministeriums wiesen amerikanische Diplomaten an, persönliche Informationen, Kreditkartennummern, Nummern von Flugmeilenkonten, Internetpassworte, Terminpläne und selbst DNA-Proben von Vertretern ausländischer Regierungen und hohen UN-Mitarbeitern zu sammeln.
  • · Eine Depesche, die deutlich macht, wie die amerikanische Regierung Deutschland unter Druck setzte, den Haftbefehl gegen einen CIA-Agenten fallenzulassen, der in die Entführung, Inhaftierung und Folterung eines unschuldigen deutschen Bürgers verwickelt war.
  • · Eine Depesche der amerikanischen Botschaft in Tegucigalpa vom Oktober 2009, die erläuterte, dass der Sturz von Präsident Manuel Zelaya in Honduras ein illegaler und verfassungswidriger Putsch war. Die Depesche dokumentiert Washingtons Unterstützung und Abdeckung für den Putsch und die folgenden Repressionen.

Das ist die Ausbeute eines winzigen Teils der Dokumente, die WikiLeaks in den nächsten Monaten veröffentlichen wird. Wenn amerikanische Vertreter jetzt fordern, die Organisation und ihre Führer vor Gericht zu stellen – oder Schlimmeres -, dann nicht weil die Veröffentlichung der geheimen Depeschen „die Zusammenarbeit mit anderen Ländern bei der Lösung gemeinsamer Probleme“ stört, wie Ministerin Clinton am Montag behauptete, sondern weil sie Verbrechen der amerikanischen Regierung ans Licht zerren, die reale Opfer gefordert haben, von den Ermordeten jemenitischen Zivilisten bis zu eingesperrten, gefolterten und ermordeten Arbeiter und Bauern in Honduras.

Es ist im Interesse der arbeitenden Bevölkerung in den Vereinigten Staaten und in aller Welt, dass diese Geheimnisse offen gemacht werden.

In Medien wird die massive Enthüllung von Geheimmaterial durch WikiLeaks durchweg als “beispiellos“ bezeichnet. Es gibt aber einen historischen Vorläufer. Dazu kam es im Gefolge der Machteroberung der russischen Arbeiterklasse im Oktober 1917.

Einer der ersten Schritte der neuen Arbeiterregierung bestand darin, Geheimverträge und diplomatische Dokumente zu veröffentlichen, die in ihre Hände gefallen waren. Diese Verträge legten die räuberischen Kriegsziele Großbritanniens, Frankreichs und des zaristischen Russlands im Ersten Weltkrieg offen, die die Verschiebung nationaler Grenzen und die Neuaufteilung der Kolonien beinhalteten. Mit dieser Offenlegung versuchte die neue revolutionäre Arbeiterregierung Russlands ihr Ziel eines sofortigen Waffenstillstands zur Beendigung der Schlächterei zu erreichen.

Der damalige Volkskommissar für Äußeres, Leo Trotzki, erläuterte die Prinzipien, die der Offenlegung der Staatsgeheimnisse zugrunde lagen. „Geheimdiplomatie“, schrieb er, „ist das notwendige Mittel einer besitzenden Minderheit, die die Mehrheit betrügen muss, um sie ihren Interessen unterzuordnen. Der Imperialismus mit seinen dunklen Eroberungsplänen und seinen räuberischen Allianzen und Abkommen hat das System der Geheimdiplomatie aufs Höchste entwickelt. Der Kampf gegen den Imperialismus, der die Völker Europas erschöpft und zerstört, ist gleichzeitig ein Kampf gegen kapitalistische Diplomatie, die zurecht das Tageslicht scheut.“

Dreiundneunzig Jahre später gelten diese Worte nach wie vor. Hinter der empörten Kritik der Obama-Regierung und der Republikaner an WikiLeaks und ihrem Angriff auf die „nationale Sicherheit“ der USA steht der Zorn der herrschenden Finanzoligarchie, die ihre räuberischen und reaktionären Interessen im Geheimen verfolgen müssen, weil sie sich gegen die Bedürfnisse und Ziele der arbeitenden Bevölkerung in den USA und weltweit richten.

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