Das Gespenst großer Katastrophen kehrt zurück

"In bestimmten wichtigen Aspekten ähnelt die Welt des Jahres 2010 den Bedingungen, die am Vorabend des ersten und des zweiten Weltkriegs herrschten. Die Wirtschaftskrise, geopolitische Spannungen und gesellschaftliche Instabilität sind heute größer als zu irgendeinem Zeitpunkt seit dem Jahre 1945", - Perspektiven und Aufgaben der Socialist Equality Party, Januar 2010.

"Seit September 2008 stecken wir zweifelsohne noch immer in der schwierigsten Situation seit dem zweiten Weltkrieg, vielleicht sogar seit dem ersten. Wir erlebten und erleben wirklich dramatische Zeiten", - Jean-Claude Trichet, Präsident der Europäischen Zentralbank, in einem SPIEGEL -Interview vom 15. Mai 2010.

Am späten Freitagabend des 7. Mai 2010 kam es in Brüssel beim Treffen der Regierungschefs der sechzehn Euroländer zu einer außergewöhnlichen Szene. Frankreich und Deutschland blockierten sich gegenseitig in der Frage der Machbarkeit und der Bedingungen für einen finanziellen Bailout Griechenlands und des Euro. Mit Unterstützung der Obama-Regierung verlangte der französische Präsident Nicolas Sarkozy, die EU müsse ein 750 Milliarden Euro teures Sicherheitsnetz für die Einheitswährung finanzieren. Kanzlerin Merkel leistete hartnäckig Widerstand.

Irgendwann zwischen 23.30 Uhr und Mitternacht explodierte das Treffen plötzlich. Wie Beobachter berichteten, begann Präsident Sarkozy zu "schreien und zu blaffen", schlug mit der Faust auf den Tisch und forderte, dass Deutschland seine Opposition aufgebe. Wenn Merkel sich weigere, warnte Sarkozy, werde Frankreich den Euro aufgeben. Zur Bekräftigung kündigte er an, die deutsch-französischen Beziehungen könnten dauerhaft Schaden nehmen. Angesichts dieser Drohung, die noch dazu von der Obama-Regierung unterstützt wurde, stimmte Merkel der Einrichtung des Sicherheitsnetzes zu.

Diese Konfrontation fand ausgerechnet am Vorabend des 65. Jahrestags des Endes des Zweiten Weltkriegs in Europa statt.

Unmittelbar nach Abschluss der Vereinbarung feierten die Märkte die jüngste "Lösung" der globalen Wirtschaftskrise. Die Finanzgemeinde fasste wieder Mut, als die Regierungen Griechenlands, Spaniens, Rumäniens, Portugals und mehrerer anderer europäischer Länder versprachen, der Forderung der Europäischen Zentralbank EZB nachzukommen und beispiellos drakonische Sparmaßnahmen durchzusetzen. Die Bildung einer Koalition aus Tories und Liberaldemokraten in Großbritannien und ihre Absicht, das riesige Haushaltsdefizit des Landes in Angriff zu nehmen, trug zum Aufschwung der Märkte bei. Aber schon als die Woche zu Ende ging, ließ der Schwung der Euphorie wieder nach, und die Märkte erlitten erneut starke Verluste. Es wurde klar, dass das mit heißer Nadel gestrickte Abkommen zwischen Sarkozy und Merkel kein einziges Problem gelöst hatte und in Wirklichkeit die Lage noch verschlimmern wird.

Erstens wird die Sparpolitik, welche die Europäische Zentralbank im Gegenzug für die Gewährung von Finanzunterstützung verlangt, den Konsum in den betroffenen Ländern einschränken und sie in die Rezession treiben. Das wiederum wird wichtige Exportmärkte für die europäische Industrie, vor allem die deutsche, schwächen. Die Sparmaßnahmen, die von der amerikanischen und europäischen Finanzwelt verlangt werden, führen also sehr wahrscheinlich dazu, dass sich die 2008 begonnene Rezession länger hinzieht und noch vertieft.

Zweitens hat die Schlacht um das 750 Milliarden Euro teure Sicherheitsnetz das Vertrauen in die Lebensfähigkeit der Einheitswährung erschüttert, obwohl sie erst vor zehn Jahren geschaffen wurde. Merkel hat dem franko-amerikanischen Druck am Abend des 7. Mai nachgegeben, aber dem britischen Guardian zufolge geht auf den Finanzmärkten das Gerücht um, dass "Merkel in Vorbereitung auf eine Spaltung der Eurozone" schon wieder 100-Mark-Scheine drucken lasse.

Der Zusammenbruch des Euro ist nicht einfach das Ende einer Währung. Er stellt einen verheerenden und potentiell blutigen Zusammenbruch der politischen Beziehungen zwischen den europäischen Staaten auf die Tagesordnung. Die Süddeutsche Zeitung malte in ihrer Ausgabe vom 15. Mai dieses Szenario: "Mit dem Zerfall ihrer wichtigsten politischen Klammer, der gemeinsamen Währung, bricht auch die Europäische Union auseinander. Siebenundzwanzig Länder kämpfen wieder um Märkte. Deutschland als größtes Land mit einer gesunden industriellen Struktur macht sich Feinde und wird möglicherweise boykottiert: Das Gespenst der ’Hegemonialmacht’ geht wieder um".

Vor diesem Hintergrund wies EZB-Präsident Trichet warnend darauf hin, dass die aktuelle politische und wirtschaftliche Weltlage die "schwierigste" seit 1939-1945 oder vielleicht sogar seit 1914-1918 sei.

Man kann sicher sein, dass ein Mann wie Trichet, der eine derart herausgehobene Position in der internationalen Finanzwelt bekleidet, seine Worte mit Sorgfalt wählt. Im Gespräch mit einem Korrespondenten eines der meistgelesenen und einflussreichsten Nachrichtenmagazine Europas stellt Trichet die aktuelle Krise auf die Stufe der zwei größten globalen Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts.

Und Trichet übertreibt nicht. Er kennt sich in der europäischen Geschichte aus. Der Ausbruch des ersten Weltkriegs im August 1914 war das Ergebnis unkontrollierbarer politischer und ökonomischer Konflikte zwischen den großen europäischen kapitalistischen Industriestaaten, die sich in den relativ friedlichen vier Jahrzehnten davor aufgebaut hatten. Im Jahr 1918, am Ende des Krieges, der 50 Millionen Menschenleben gekostet hatte, war keines der Probleme gelöst, die ihn verursacht hatten. Die ungelösten Gegensätze schwelten weiter, nahmen bösartige Formen an und führten direkt in die Katastrophe der Großen Depression, zu faschistischen Diktaturen und schließlich 1939 zum Zweiten Weltkrieg. In der Barbarei der darauf folgenden sechs Jahre verloren 80 Millionen Menschen ihr Leben.

In den Nachkriegsjahren versuchte die europäische herrschende Klasse unter Führung der Vereinigten Staaten, wirtschaftliche und politische Institutionen zu schaffen, die einen erneuten katastrophalen Zusammenbruch unmöglich machen sollten. Besonders der "Friede" zwischen Deutschland und Frankreich, die zwischen 1870 und 1945 drei Kriege gegeneinander geführt hatten, sollte durch ein komplexes integrierendes Geflecht von Wirtschaftsbeziehungen gesichert werden. Die Gründung der Europäischen Union, und vor allem die Einführung der gemeinsamen Währung sollten der Höhepunkt für die Sicherung der Stabilität im Nachkriegseuropa sein.

Paradoxerweise zerbröckelten die objektiven Bedingungen, auf denen das Wirtschaftswachstum in Europa und seine politische Stabilität beruhten hatten, schon zum Zeitpunkt, als die gemeinsame Währung 1999 tatsächlich eingeführt wurde. Ein wichtiger Faktor bei der Verschlechterung der Lage war die Krise des amerikanischen Kapitalismus, die besonders dramatisch darin zum Ausdruck kam, dass sich die USA in die größte Schuldnernation der Welt verwandelten, wie auch in dem ständigen Wertverfall des Dollars, der sich daraus ergab. Die wachsenden Widersprüche des amerikanischen Kapitalismus, die schließlich 2008 explodierten, stärkten nicht die Stabilität in Europa, sondern versetzten dem schon brüchigen wirtschaftlichen und politischen Gleichgewicht schließlich den Todesstoß.

Trichet erkennt das historische Ausmaß der Krise in Europa. Aber weder er, noch die Regierungschefs in Europa oder die Obama-Regierung in den USA haben auch nur die geringste Vorstellung, wie die Krise zu lösen sei, außer durch die Vorbereitung von Krieg - zuerst gegen die Arbeiterklasse und dann zwangsläufig auch gegeneinander.

Als 1991 die Sowjetunion aufgelöst wurde, weil die reaktionären stalinistischen Regimes den Sozialismus verraten hatten, proklamierten die Propagandisten des globalen Kapitalismus den historischen Triumph des Markts. Die revolutionären Kämpfe des zwanzigsten Jahrhunderts gegen den Kapitalismus wurden als fehlgeleitete Versuche hingestellt, die zum Scheitern verurteilt waren, und als Abweichungen vom "normalen" Verlauf der Geschichte. Die materialistische Geschichtsauffassung des Marxismus und seine Analyse der Widersprüche der kapitalistischen Produktionsweise wurden für widerlegt erklärt.

Nun werden die Widerlegungen des Marxismus durch die objektive Entwicklung der Krise des Weltkapitalismus widerlegt. Die Krise hat jetzt eine derartige Stufe erreicht, dass führende Repräsentanten des Systems das Gespenst von Katastrophen beschwören, wie sie im letzten Jahrhundert Dutzende Millionen Menschen das Leben gekostet haben.

Die Ereignisse der letzten beiden Wochen müssen der Arbeiterklasse eine Warnung sein und stellen sie vor große Aufgaben. Die Krise, die über den Globus fegt, bedroht die Menschheit mit Umwälzungen beispiellosen Ausmaßes. Im Rahmen des Kapitalismus gibt es dafür keine Lösung. Das Überleben der Menschheit hängt vom Aufbau einer politisch bewussten revolutionären Bewegung der Arbeiterklasse ab, die den Kapitalismus stürzen und den Sozialismus aufbauen wird.

Siehe auch:
Der "Paradigmenwechsel" in der deutschen Außenpolitik
(8. April 2010)
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