Die Lügen des Thilo Sarrazin

Knapp ein Monat ist vergangen, seit der Spiegel und das Boulevardblatt Bild erste Auszüge aus Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ veröffentlicht haben. Seither ist eine Kampagne gegen muslimische Migranten entbrannt, deren zentrale These lautet, diese verweigerten sich einer Integration in die deutsche Gesellschaft. Soziale Probleme – wie hohe Arbeitslosigkeit, steigende Armutsraten, die Entstehung von sogenannten sozialen Brennpunkten oder gar „Parallelgesellschaften“ und mangelhafte Bildung – werden dabei pauschal den Migranten selbst angelastet.

Der Spiegel erschien mit dem Titel „Das Staatsversagen – Warum Deutschland an der Integration scheiterte“. Als Begründung für das angebliche Scheitern nannte er ein jahrelanges Wegschauen des Staates vor der Unwilligkeit von Einwanderern, insbesondere aus der Türkei, sich zu assimilieren. Der Tenor lautete, dass staatliche Behörden viel härter und rigider mit Einwanderern umspringen sollten, anstatt sie wie bisher „in Watte zu packen“. Dieses Argument haben mittlerweile zahlreiche Politiker aufgegriffen, darunter der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel.

Das Bemerkenswerte an der Debatte besteht darin, dass selbst krudeste Behauptungen aus Sarrazins Buch unwidersprochen bleiben. Sarrazin selbst hat bereits im März dieses Jahres gegenüber der Süddeutschen Zeitung zugegeben, dass er seine angeblich so aussagekräftigen Statistiken selbst zurechtgebogen hat. Getreu dem Motto, „glaube keiner Statistik, die du nicht selber gefälscht hast“, erklärte er, wenn man keine Zahl habe, „muss man eine schöpfen, die in die richtige Richtung weist, und wenn sie keiner widerlegen kann, dann setze ich mich mit meiner Schätzung durch“.

Das ist ihm insofern gelungen, als nun allerorten von gewalttätigen muslimischen Jugendlichen und ungebildeten Türken und Arabern die Rede ist, die nach der Scharia leben und sich auf Staatskosten ein schönes Leben machen. Kaum jemand tritt Sarrazin ernsthaft entgegen und widerlegt seine angeblichen Fakten. Dabei zeichnen offizielle Statistiken und Untersuchungen ein ganz anderes Bild.

Die Vererbbarkeit von Intelligenz

Sarrazin vermischt falsch verstandene genetische Aussagen, dass Intelligenz vererbbar sei, mit unsinnigen demografischen Prognosen, dass Migranten sich – um in seinem Sprachduktus zu bleiben – ungehemmt vermehren.

Er schreibt: „Das Muster des generativen Verhaltens in Deutschland seit Mitte der sechziger Jahre ist nicht nur keine Darwinsche, natürliche Zuchtwahl im Sinne von ‚survival of the fittest’, sondern eine kulturell bedingte, vom Menschen selbst gesteuerte negative Selektion, die den einzigen nachwachsenden Rohstoff, den Deutschland hat, nämlich Intelligenz, relativ und absolut in hohem Tempo vermindert.“

Mit diesem Absatz negiert Sarrazin, dass der Mensch sich bewusst Natur aneignen und formen kann, um sich selbst zu verändern und von Naturzwängen zu emanzipieren, wodurch die sozialdarwinistische Formel des Überlebens der am besten Angepassten für die menschliche Gesellschaft hinfällig wird.

Gleichzeitig begründet er pseudobiologisch seine zentrale These, die im Kern lautet, das Verhältnis von alteingesessenen Deutschen und Einwanderern werde sich immer mehr zugunsten der Migranten verschieben. Da letztere aber aufgrund ihrer Herkunft und ethnischen Zugehörigkeit intellektuelle Defizite aufwiesen, die immer weiter vererbt würden, sinke das Bildungsniveau in Deutschland und die technisch-wissenschaftliche Intelligenz werde immer geringer.

Betrachten wir zunächst die Frage nach der Vererbbarkeit von Intelligenz.

Hierzu müsste man zunächst wissen, was Sarrazin unter Intelligenz versteht. In der einschlägigen Wissenschaft findet man dazu nämlich keine eindeutige, allgemein akzeptierte Definition. Einige Forscher gehen sogar von bis zu sieben Arten kognitiver Fähigkeiten aus, die weitgehend unabhängig voneinander operieren.

Verbreitet ist die Ansicht, Intelligenz sei das, was Intelligenztests messen – was aber wenig hilfreich ist. Da ein Zusammenhang zwischen gemessener Intelligenz und Bildungserfolgen zu konstatieren ist, behauptet der Persönlichkeitspsychologe Jens Asendorpf von der Berliner Humboldt-Universität, Intelligenz sei die Fähigkeit zu hoher Bildung. Hohe Bildung ist aber die Eintrittskarte zu prestige- und einkommensträchtigen Berufen. Davon profitieren Kinder von Eltern mit hoher Bildung, da sie in einer Umgebung aufwachsen, in der sie ökonomisch und mental viel stärker gefördert werden.

Sarrazin hingegen stützt sich auf Studien, in denen der Einfluss der Gene auf die Intelligenz auf 30 bis 80 Prozent geschätzt wird, und suggeriert damit, dass es so etwas wie ein Intelligenz-Gen gebe. Tatsächlich ist der Zusammenhang viel komplexer, da bei der Ausbildung kognitiver Fähigkeiten eher Hunderte von Genen beteiligt sind, die im stetigen Wechselspiel zueinander stehen und deren Aktivität im Lebenslauf zeitlich variabel ist und hochgradig von Umwelteinflüssen abhängt.

Diese Abhängigkeit von äußeren Einflüssen wird auch durch Studien bestätigt, die statistisch bedeutsame Unterschiede bei Intelligenzmessungen von Personen aus Industrieländern und aus unterentwickelten Staaten feststellen. Intelligenz hängt danach sehr stark vom Wohlstand des Staates ab, in dem die Personen aufgewachsen sind.

In Adoptionsstudien, bei denen die Intelligenz von Kindern, den leiblichen und den Adoptiveltern gemessen wurde, konnte auch für die Industrienationen nachgewiesen werden, dass von Armut, mangelhafter Ernährung und Stigmatisierung betroffene Kinder ihr eigentlich vorhandenes intellektuelles Potential in wesentlich geringerem Maße ausschöpfen konnten als Kinder aus den Mittel- und Oberschichten.

Sarrazin ficht das jedoch nicht an. Er behauptet unverdrossen, dass Intelligenz vererbbar sei und auf „rassischen“ Unterschieden beruhe. Er bezieht sich dabei auf das Buch „The Bell Curve“ der Rassisten Herrnstein und Murray. Diese hatten Anfang der 1990er Jahre die These vorgelegt, dass die Schwarzen in den USA nur deswegen viel stärker von Armut betroffen seien, weil sie im Durchschnitt genetisch bedingt dümmer seien.

Auch die Soziologin Necla Kelek bezieht sich in ihrer Lobpreisung des Buches von Sarrazin in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung auf Herrnstein und Murrray, verschweigt dabei aber, dass deren Thesen längst widerlegt sind.

Rassistischen Überlegungen, die bestimmte Eigenschaften auf genetische Unterschiede aufgrund der ethnischen Herkunft beziehen, wurden spätestens mit dem Human Genome Project der Todesstoß versetzt. Laut Craig Venter, der wesentlich an der Analyse der menschlichen Gensequenz beteiligt war, besitzt jeder Mensch zu 99,9 Prozent mit anderen Menschen identische Erbanlagen. 2002 sagte er in einer Rede, die in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung abgedruckt wurde: „Wir können die ethnische Zugehörigkeit eines Menschen nicht auf der Grundlage des genetischen Codes bestimmen, weil Rasse und ethnische Zugehörigkeit nicht auf wissenschaftlichen, sondern auf sozialen Konzepten basieren.“

Im Jahr 2008 bemerkte Venter im Interview mit der Zeit zu Behauptungen, dass Intelligenz ethnisch variiere: „Das sind dumme, rassistische Äußerungen. Ich bin ganz sicher, dass Unterschiede in der Intelligenz in keiner Weise mit der Hautfarbe korrelieren. Wir Menschen sind ein genetisches Kontinuum.“

Es ist erstaunlich, aber kein Zufall, wie sich über die Hintertür der Genetik trotzdem rassistische Konzepte in der Wissenschaft und dann auch bei Sarrazin in der öffentlichen Debatte wieder etablieren können.

In der Frankfurter Allgemein Zeitung durfte sich der Bildungsforscher und Psychologe Heiner Rindemann in einem langen Beitrag, den er zusammen mit Detlef Rost verfasst hat, zu den Thesen Sarrazins äußern. Er behauptete, dass diese „im Großen und Ganzen mit dem Kenntnisstand der modernen psychologischen Forschung vereinbar“ seien. Massive Fehlinterpretationen habe er nicht gefunden.

Rindermann gehört selbst zu den Forschern, die die rassistischen Thesen von der unterschiedlichen genetischen Ausstattung ethnischer Gruppen wiederkäuen. Im Jahr 2007 schwadronierte er im Deutschlandradio Kultur über die „unterschiedliche Intelligenz von Völkern“ und genetische Unterschiede „zwischen den Rassen“.

Sarrazin konnte seine falschen und wissenschaftlich widerlegten Thesen auch deswegen so gut platzieren, weil er wusste, dass ihn namhafte reaktionäre Wissenschaftler unterstützen würden. Das ändert aber nichts daran, dass von der angeblichen genetischen Vererbung der Intelligenz nichts übrig bleibt.

Geburtenverhalten und Zuwanderung

Kritisch zu beleuchten ist auch der andere Aspekt von Sarrazins Kernthese, dass sich nämlich muslimische Migranten durch ihre enorme Kinderzahl auszeichnen und durch angeblich ungehinderten Zuzug immer mehr Einwanderer ins Land strömen, die Deutschland nach und nach zu einem islamischen Staat machen.

Sarrazin schreibt selbst, dass es keine wissenschaftlich zuverlässige Methode gibt, „Geburtenverhalten und Zuwanderung über mehrere Jahrzehnte verlässlich vorherzusagen“. Trotzdem macht er genau das, um Ressentiments zu schüren und Panik und Hysterie zu verbreiten.

Tatsächlich gibt es derzeit keine nennenswerte Einwanderungswelle nach Deutschland. Der Wanderungssaldo war in den letzten beiden Jahren sogar negativ. 2008 und 2009 wanderten mehr Menschen aus Deutschland aus als ein; das gilt auch für Migranten aus der Türkei. Im Jahr 2009 zogen zwar 30.000 Personen aus der Türkei nach Deutschland, gleichzeitig gingen aber 40.000 aus Deutschland in die Türkei zurück. Sarrazin operiert hier also mit völlig falschen Zahlen. Ernst zu nehmende Demographen fordern sogar eine Lockerung der Einwanderungsbestimmungen, um den demographischen Wandel abzumildern.

Auch die Behauptung, Migranten aus der Türkei hätten eine höhere Reproduktionsrate, ist nicht haltbar. „Frauen der zweiten Migrantengeneration haben sich dem Geburtenverhalten von deutschen Frauen nahezu angepasst“, erklärt etwa die Soziologin Nadja Milewski in einer neuen Studie.

Dabei zeigt sich bei Frauen, die aus der Türkei stammen, ebenso wie bei deutschen Frauen, dass sie bei höherem Bildungsabschluss später Kinder bekommen. Milewski führt das darauf zurück, dass Frauen mit höherem Bildungsabschluss häufiger erwerbstätig werden und deshalb den Kinderwunsch auf einen späteren Zeitpunkt verschieben. Berücksichtigt man, dass auch Deutsche aus unteren Schichten mehr und früher Kinder haben, so muss man feststellen, dass die ethnische Herkunft in der zweiten Generation so gut wie bedeutungslos für die Geburtenzahl ist. „Migrantinnen“, folgert Milewski, „weisen nicht, wie oft angenommen, höhere Geburtenzahlen auf als deutsche Frauen.“

Sarrazins irrsinnige Behauptung, dass Deutschland immer dümmer werde und Deutsche ohne Migrationshintergrund bald in der Minderheit seien, löst sich also in Luft auf.

Die „Integrationsdefizite“ der muslimischen Migranten

Wie sieht es mit der Behauptung aus, Migranten aus der Türkei und anderen muslimischen Ländern wiesen hinsichtlich ihrer Integration enorme Defizite auf?

Die aktuelle Migrationsforschung hat inzwischen von Konzepten wie ethnische Gruppen und Nationalitäten Abschied genommen. Die Einwanderer aus den verschiedenen Weltregionen sind in sich viel zu heterogen als dass sie sinnvoll zu „nationalen“ Gruppen zusammengefasst werden könnten. Migranten sind viel mehr als Türken, Italiener oder Iraker. Wesentlich stärker als durch die ethnische Herkunft wird die Chance zur Integration durch die soziale Herkunft, das Alter, das Geschlecht, das Bildungsniveau, die Gründe der Auswanderung und den rechtlichen Status geprägt.

Es macht einen Unterschied, ob jemand hoch qualifiziert ist und eine gut dotierte Stellung im Zielland annehmen kann, oder ob er vor Verfolgung fliehen musste, traumatisiert ist, nur geduldet wird und keinen sicheren Aufenthaltsstatus und keine Arbeitserlaubnis bekommt. Unterschiede der Integration auf die ethnische Herkunft zurückzuführen, ist daher wie ein Vergleich zwischen Äpfel und Birnen.

Aber selbst wenn man das Spiel von Sarrazin und seinen Apologeten in Politik und Medien mitspielt, bleibt von der Erklärungskraft wenig übrig.

Ein Aspekt, der immer wieder angeführt wird, ist die schlechte Schulleistung von Migrantenkindern aus der Türkei. Tatsächlich ist der Bildungserfolg dieser Kinder und Jugendlichen im Vergleich zu Kindern, die ohne Migrationshintergrund aufwachsen, erheblich geringer.

Nach den Zahlen des 8. Migrationsberichtes der Bundesregierung besuchten 2008/09 nur 9,3 Prozent der Jugendlichen mit türkischer Staatsangehörigkeit ein Gymnasium, bei den Deutschen waren es 28,7 Prozent. Umgekehrt ist das Verhältnis der Hauptschüler: Hier sind es bei den Türken 23,4 Prozent, bei den Deutschen nur 8,6 Prozent. Rund 15 Prozent der türkischen Kinder und Jugendlichen durchlaufen das deutsche Bildungssystem ohne jeglichen Schulabschluss, bei den deutschen sind es nur etwas über 6 Prozent. Ein Abitur erwerben nur 14 Prozent der türkischen Jugendlichen gegenüber 30 Prozent der Jugendlichen ohne Migrationshintergrund.

Aber diese Defizite können nicht auf die Religion oder ethnische Herkunft zurückgeführt werden. Muslimische Kinder von Migranten aus dem Iran, aus Südostasien und aus Zentralasien weisen etwas höhere Abiturientenraten auf als ihre deutschen Altersgenossen. Nun ist es aber so, dass deren Eltern häufig selbst eine hohe Schulbildung aufweisen und diese Kinder demnach ganz andere Voraussetzungen mitbringen, als Kinder, deren Eltern in Anatolien nur eine fünfjährige Schulbildung genossen haben. Kinder italienischer Einwanderer, die bekanntlich keine Muslime sind, schneiden bei Schulstatistiken sogar noch schlechter ab als Kinder mit türkischer Abstammung.

Der Migrationsforscher Klaus Bade erklärte gegenüber Spiegel-Online, dass „Zahlen über Bildungserfolge ohne zureichende Berücksichtigung der Soziallagen keine tragfähigen Informationen“ bieten.

Instruktiv ist hierfür ein Blick in die PISA-Schulstudien der OECD. In der 2003er Studie, die die Mathematikleistungen der Schüler untersuchte, wiesen besonders Kinder der zweiten Generation, deren Eltern aus Jugoslawien und der Türkei zugewandert waren, geringe Kompetenzen auf. Während Jürgen Baumert, der die Auswertung in Deutschland leitete, dies vor allem auf sprachlastige Aufgaben und geringere Sprachkompetenzen der Kinder mit Migrationshintergrund zurückführte, gelangten Gesa Ramm und Kollegen zu ganz anderen Ergebnissen. [1] Sie hatten nämlich die sozioökonomische Lage der Kinder und des Elternhauses näher analysiert. Und obwohl diese in der PISA-Studie nur sehr unzureichend erfasst wurde, verschwand die Erklärungskraft der ethnischen Herkunft bei den unterschiedlichen Mathematikleistungen, sobald die soziale Lage einbezogen wurde.

Mit anderen Worten: Die schlechtere soziale Lage ist zum größten Teil verantwortlich für das schwache Abschneiden der Kinder mit Migrationshintergrund, die dieses Schicksal mit deutschen Kindern teilen, die in ähnlichen Verhältnissen aufwachsen. Die soziale Benachteiligung, die zu geringerem Schulerfolg führt, trägt dann auch zu geringeren Chancen auf dem Arbeitsmarkt bei.

Auch hier operiert Sarrazin mit falschen Zahlen, wenn er behauptet, muslimische Migranten bezögen ihren überwiegenden Lebensunterhalt nur zu 33,9 Prozent aus Berufs- und Erwerbstätigkeit, während es bei der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund 43 Prozent seien. Tatsächlich sind es bei türkischen Migranten 36 Prozent, bei männlichen muslimischen Migranten sogar 45 Prozent.

Was in der Statistik durchschlägt, aber differenziert betrachtet werden muss, ist die geringere Frauenerwerbsquote bei muslimischen Migranten, die sich zum größten Teil aus der geringen Schulbildung und mangelnden Berufsausbildung der ersten Generation der türkischen Gastarbeiter erklärt. Nicht berücksichtigt ist auch die hohe Zahl mithelfender Familienangehöriger in kleinen Familienbetrieben, die statistisch kaum erfasst werden.

Betrachtet man die Migranten mit Berufsausbildung, verschwinden die Differenzen zwischen Migranten und Personen ohne Migrationshintergrund. Allerdings sind Migranten wesentlich häufiger in gering qualifizierten Arbeitsverhältnissen anzutreffen. Demgegenüber ist die Selbständigenquote, anders als Sarrazin angibt, überdurchschnittlich hoch. Selbst Migrantinnen türkischer Abstammung sind in höherem Maße selbstständig als Frauen ohne Migrationshintergrund, worauf der 8. Migrationsbericht der Bundesregierung hinweist. Klaus Bade kommt daher zu dem Schluss, dass Muslime „genauso gut oder schlecht ins Arbeitsleben integriert sind wie andere Einwanderer“.

Auch die hohe Abhängigkeit von Transferleistungen und angebliche „Einwanderung in die Sozialsysteme“, von denen Sarrazin spricht, ist nur eine Chimäre.

Die vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge in Auftrag gegebene Studie „Muslimisches Leben in Deutschland“ aus dem Jahr 2009 kam zu dem Ergebnis, dass nur 12,6 Prozent der muslimischen Migranten ihren Lebensunterhalt ausschließlich durch Transferleistungen bestreiten müssen.

Der Anteil an Hartz IV-Empfängern unter muslimischen Migranten ist dabei zwar etwa dreimal so hoch wie bei der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund, aber dabei ist zu berücksichtigen, dass Migranten aus Nicht-EU-Staaten am Arbeitsmarkt durch die Vorrangigkeitsregelung benachteiligt sind. Flüchtlinge und geduldete Einwanderer erhalten häufig keine Arbeitserlaubnis und daher auch gar keine Möglichkeit, ihren Lebensunterhalt durch Arbeit zu sichern. Zudem weisen Studien zu der Arbeitsmarktintegration von Migranten immer wieder darauf hin, dass ihnen die nötigen Kontakte und Beziehungen fehlen, um Arbeitsplätze angeboten zu bekommen, die ein ausreichendes Einkommen bieten.

Schließlich ist es eine Verhöhnung von Hartz IV-Empfängern, wenn Sarrazin meint, 322 Euro monatlich für ein Kind (die es ja nicht einmal gibt) ermöglichten ein luxuriöses Leben. Er selbst hat nach seinem Rückzug aus der Bundesbank um jeden Cent seiner Pension gefeilscht und kassiert nun 10.000 Euro monatlich, obwohl er finanziell schon mehr als abgesichert ist.

Das Bemerkenswerte an der Debatte über Thilo Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ besteht darin, dass ihm kaum jemand ernsthaft entgegentritt und seine angeblichen Fakten widerlegt. Dabei zeichnen offizielle Statistiken und Untersuchungen ein ganz anderes Bild.

Gewaltkriminalität muslimischer Jugendlicher

Sarrazin behauptet, dass „bei keiner anderen Religion der Übergang zu Gewalt und Terrorismus so fließend“ sei wie beim Islam. Auch hier war er schöpferisch tätig. Er wirft in den Raum, dass „20 Prozent aller Gewalttaten in Berlin von nur 1.000 türkischen und arabischen jugendlichen Tätern begangen werden“.

Erstens handelt es sich bei den so genannten Intensivtätern in Berlin um 3.000 Personen, die sich zudem aus allen ethnischen Gruppen zusammensetzen, die in der Hauptstadt leben. Zweitens sind sie nicht für 20 Prozent aller Gewalttaten verantwortlich, sondern für 20 Prozent aller Straftaten, wozu in erster Linie der einfache Ladendiebstahl gehört. Die problematische Ballung von Kriminalität findet sich zudem nicht nur in den typischen „Einwandererbezirken“ wie Kreuzberg und Neukölln, sondern auch in Köpenick, wo kaum Migranten leben, aber die Verelendung der Bevölkerung seit 1990 rasch vorangeschritten ist.

Die Kriminalität, gerade auch in den Großstädten, sollte nicht verharmlost werden, aber man muss sie nüchtern analysieren. Es gibt heute keine ernstzunehmenden Zweifel mehr, dass Merkmale wie „Rasse“, „ethnische Herkunft“ und Staatsbürgerschaft für die Erklärung von Kriminalität völlig bedeutungslos sind. Kriminalität mit dem Islam und muslimischen Jugendlichen gleichzusetzen oder wie Angela Merkel zu fordern, „die statistisch höhere Gewaltbereitschaft strenggläubiger Jugendlicher nicht zu tabuisieren“, ist eine Anstachelung zum Rassismus.

Sarrazin und Merkel und viele andere Kommentatoren beziehen sich hier auf eine aktuelle Studie des Kriminologischen Forschungsinstituts Niedersachen (KFN), die im Juli dieses Jahres unter Federführung des Institutsleiters Christian Pfeiffer veröffentlicht wurde. Unter dem Titel „Kinder und Jugendliche in Deutschland: Gewalterfahrungen, Integration, Medienkonsum“ werden dort auch Analysen zur Gewaltkriminalität von Jugendlichen präsentiert und zur Religiosität in Bezug gesetzt. Dabei ergab sich für muslimische Jugendliche: „Mit zunehmender Religiosität geht ein leichter Anstieg der Gewalttaten einher. Die sehr religiösen, islamischen Migranten weisen die höchste Rate an Gewalttätern unter den verschiedenen Gruppen islamischer Jugendlicher auf.“

Bezeichnend ist, wie dieser an sich wenig beeindruckende Befund seinen Weg in die Öffentlichkeit gefunden hat. Bei der Vorstellung der Studie wurde Christian Pfeiffer von der Süddeutschen Zeitung unter der plakativen Überschrift „Faust zum Gebet“ mit den Worten zitiert: „Selbst wenn man diese Faktoren [Zahl straffälliger Freunde, Nutzung gewalthaltiger Medien, Akzeptanz Gewalt legitimierender Medien] herausrechnet, bleibt ein signifikanter Zusammenhang zwischen Religiosität und Gewaltbereitschaft.“ Hängen geblieben ist davon, dass der Islam gewalttätige Jugendliche produziert.

Tatsächlich aber ist der Zusammenhang zwischen Gewalttaten und Religiosität nur sehr gering, und die Studie selbst sagt etwas ganz anderes als Pfeiffer in dem Interview. Auf Seite 116 steht, „dass diese erhöhte Gewaltbereitschaft weitestgehend auf andere Belastungsfaktoren zurückzuführen ist… Dies führt dazu, dass von der Zugehörigkeit zu einer Konfessionsgruppe kein Effekt mehr auf das Gewaltverhalten zu beobachten ist.“ Und zwei Seiten später: „Da dieser Zusammenhang aber nicht als signifikant ausgewiesen wird, ist bei islamischen Jugendlichen von keinem unmittelbaren Zusammenhang zwischen der Religiosität und der Gewaltdelinquenz auszugehen.“

Auch die gemessen am Bevölkerungsanteil höheren Tatverdächtigenzahlen von Ausländern, welche die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) jährlich ausweist, lösen sich bei näherer Betrachtung in Luft auf. Denn selbst wenn man unberücksichtigt lässt, dass die PKS nicht die tatsächliche Kriminalität abbildet, sondern nur einen Tätigkeitsbericht der Polizei darstellt, die gegenüber Migranten sehr selektiv ermittelt, verschwinden die Unterschiede zwischen Deutschen und Ausländern, wenn man sich die Zahlen differenzierter anschaut: Der Migrantenanteil ist bei der Alterskohorte der 15-25-Jährigen, die typischerweise kriminell wird, viel höher ist als bei der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund; Migranten leben viel häufiger in Städten, wo die Kriminalitätsraten wesentlich höher sind, als auf dem Land; sie leben häufiger in Armut und Arbeitslosigkeit; sie können seltener Gymnasien besuchen; usw.

Es gibt kein Kriminalitäts-Gen und auch keine ethnische Kultur der Kriminalität, wie Sarrazin weismachen will, wenn er von der Gewalttätigkeit muslimischer Jugendlicher spricht und die Entstehung von muslimischen Jugendgangs erklärt. Aus Sicht der Kriminologie sind seine Ausführungen von einer erschreckenden, spießerhaften Naivität und Dummheit geprägt.

Sarrazin ist der Ansicht, die muslimischen männlichen Familienoberhäupter vermittelten ihren Söhnen ein traditionelles Bild von Ehre und gewaltbereiter Männlichkeit. Die Söhne seien aber frustriert, da sie vor den muslimischen Mädchen mit besseren Schulleistungen als Versager dastünden. „Zum Schulfrust gesellt sich sexuelle Frustration, und beides trägt zum Aggressionsstau der jungen Männer bei… Die jungen Mädchen sind aber aus religiösen Gründen vor der Heirat sexuell nicht verfügbar, ja selbst harmlose sexuelle Annäherungen sind vielfach nicht möglich… Falsche Rollenvorbilder, mangelhafte Bildungserfolge und sexuelle Frustration können zu einer erhöhten Gewaltbereitschaft führen, die vornehmlich in Jugendgangs ausgelebt wird, der eigentlichen Heimat vieler muslimischer Migranten.“

Sarrazin hat nie einen Fuß in die Wohnviertel und Schulen der muslimischen Jugendlichen gesetzt und sich auch nicht mit der einschlägigen Literatur auseinandergesetzt. Die Jugendgangs, die es tatsächlich gibt und die sich auch ethnisch abgrenzen, sind in erster Linie eine Reaktion auf Diskriminierungserfahrungen der Jugendlichen. Ihnen wird von Lehrern, Behörden, der Polizei, den Mitschülern ständig vorgehalten, dass sie Türken, anders und nicht erwünscht seien. Hinzu kommt die fehlende Aussicht auf eine gute Schulbildung und Ausbildung.

Als Reaktion nehmen sie diese Etikettierung zuweilen tatsächlich an und antworten mit einem „Ja, ich bin Türke“. Diese Re-Ethnisierung wird dann in Gruppen ausgelebt, die ihren Hass auf die Schikanierung und soziale Aussichtslosigkeit auch in Gewalttaten und Kriminalität entladen, die sich nicht selten gegen die Institutionen und Personen der Mehrheitsgesellschaft richten. Aber hier sind Ursache und Wirkung nicht zu verwechseln. Mit einer traditionellen „Kultur der Ehre“ hat das nichts zu tun, da das Ehrverständnis von den Jugendlichen erst aus den Erfahrungen, die sie in ihrer oftmals traurigen Kindheit in Deutschland gemacht haben, gebildet wird.

Sarrazin bestreitet vehement, ein Rassist zu sein, da er ja „nur“ auf die kulturellen Differenzen zwischen Europa und dem Islam hinweise. Aber es gibt auch einen kulturellen Rassismus, und für Sarrazin ist die Kultur an die ethnische Herkunft gebunden, sie ist für ihn unveränderbar. Muslime sind daher für ihn per se und durch ihre Geburt intellektuell minderbegabt, arbeitsscheu und kriminell. Vorhandene soziale Probleme erklärt er durch eine kulturalistische Argumentation einfach zu ethnischen Problemen.

Hier stiehlt er sich auch aus seiner eigenen Verantwortung. Es gibt ein Integrationsproblem, aber das ist nicht ethnisch zu verorten, sondern betrifft wachsende Teile der Bevölkerung unabhängig von Staatsbürgerschaft oder Abstammung. Wissenschaftler wie Klaus Bade sprechen von einer „Gefahr der Herausbildung einer neuen Unterschicht mit zum Teil über Generationen anhaltenden Integrationsdefiziten in bestimmten Bereichen, besonders in Bildung, Ausbildung und dann auch am Arbeitsmarkt“. Davon seien Personen ohne Migrationshintergrund gleichermaßen betroffen.

In Berlin kumulieren die sozialen Probleme weniger aufgrund der dortigen Migranten, sondern weil der Senat, in dem Thilo Sarrazin sieben Jahre lang für die Finanzen verantwortlich war, soziale Leistungen gekürzt sowie Schulen, Universitäten und Jugendzentren hat verkommen lassen. Ausbildungs- und Arbeitsplätze sind vernichtet worden und soziale Brennpunkte konnten sich ungehindert ausbreiten. Und nun lastet Sarrazin ebendiese Missstände, die er selbst maßgeblich verursacht hat, den Armen an.

Sarrazin wird dabei nicht nur von Rassismus, sondern auch von Klassenhass getrieben. Denn neben der Hetze gegen muslimische Immigranten verunglimpft er auch noch pauschal alle Hartz IV-Empfänger, die er als „weniger leistungsstark“ und als „weitgehend funktions- und arbeitslose Unterklasse“ denunziert. Laut Sarrazin gibt es keine materielle Armut, sondern nur „geistige und moralische Armut“.

Hier trifft er sich erneut mit den Thesen der bereits erwähnten Charles Murray und Richard Herrnstein. Deren Machwerk „The Bell Curve“ behauptete ja nicht nur, dass die Schwarzen in den USA dümmer seien als die Weißen und deswegen häufiger arm, arbeitslos und kriminell. Es war vor allem eine Hetzschrift, mit der die Kürzung sozialer Leistungen und der Abbau demokratischer und sozialer Rechte legitimiert werden sollten.

Bereits während der Präsidentschaft Ronald Reagans hatten Soziologen wie Charles Murray und Lawrence Mead die Begleitmusik für die Angriffe gegen die Arbeiterklasse gespielt und ihnen höchste wissenschaftliche Legitimation verliehen. Das 1984 erschienen Buch „Losing Ground“ von Charles Murray war sogar zur Bibel der Reagan-Administration avanciert.

Die Argumentation war exakt die gleiche, die auch Sarrazin benutzt. Denn nach Murray waren für die sozialen Probleme in den Vereinigten Staaten die übertrieben großzügigen Transferleistungen an die mittellose Bevölkerung verantwortlich. Dadurch werde nur Untätigkeit und das zügellose Kindergebären so genannter welfare mothers (Wohlfahrtsmütter) belohnt, was zur moralischen Entartung der Bevölkerung führe. Gemeint waren damit uneheliche sexuelle Verbindungen zwischen Mann und Frau, die von Murray als Ursache für städtische Missstände wie Gewalt und Kriminalität ausgemacht wurden.

Sarrazin wärmt diese reaktionären Thesen auf und verbindet sie in einer unheilvollen Melange mit antimuslimischen Hetztiraden. Welchem Geist das Buch entspringt, machen seine Vorschläge zur Behebung der Missstände deutlich. Für Bezieher von Transferleistungen soll ein Arbeitsdienst geschaffen, auf irreguläre Arbeitsmigranten eine Hetzjagd veranstaltet, Einwanderung praktisch unterbunden und für Migranten eine besondere Ausweispflicht eingeführt werden. Schüler sollen Uniformen tragen und der Unterricht soll nur noch aus stumpfem Auswendiglernen und Rezitieren bestehen. Eigene Kreativität der Kinder lehnt Sarrazin dagegen ab, ihren Medienkonsum will er stark einschränken.

Dass ein derart schlecht geschriebenes Machwerk, das von Fehlern und Ungereimtheiten nur so strotzt und wissenschaftlich völlig unhaltbar ist, ein derart breites Echo auslösen konnte, muss als ernste Warnung verstanden werden. Denn es handelt sich um eine gezielte Kampagne, reaktionäre und rassistische Argumente wieder in die politische Debatte einzuführen, um scharfe Angriffe gegen soziale und demokratische Rechte durchzusetzen.

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Anmerkungen:

[1] Gesa Ramm, Manfred Prenzel, Heike Heidemeier und Oliver Walter, 2004: Soziokulturelle Herkunft: Migration. In: Manfred Prenzel et al. (Hrsg.): PISA 2003. Der Bildungsstand der Jugendlichen in Deutschland — Ergebnisse des zweiten internationalen Vergleichs, Münster u.a.: Waxmann Verlag, S. 254-272.

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