Perspektive

Japan vertuscht nukleare Katastrophe

Es ist gerade mal ein Monat vergangen, seitdem ein schweres Erdbeben und ein Tsunami große Teile des Nordostens von Japan verwüsteten. Sie verursachten die größte nukleare Katastrophe seit Tschernobyl, der Reaktorkatastrophe von 1986 in der Ukraine. Obwohl japanische Politiker, Behörden und Repräsentanten der Tokyo Electric Power Company (TEPCO) mit überschwänglichen Entschuldigungen und Beschwichtigungen reagieren, tun sie ohne Zweifel alles, um auch künftig das Ausmaß der Katastrophe und die ganze Gefahr zu vertuschen.

Auch wenn die Art und Weise, wie japanische Verantwortliche Form vollendete Reuebekenntnisse ablegen, national geprägt sein mag, so sind doch die tieferen Ursachen für die Vertuschung allgemein verbreitet. Während der ganzen Krise gingen die Regierung und TEPCO keinen Augenblick vom Wohlergehen der Bewohner Fukushimas oder der Sicherheit der Arbeiter im Kraftwerk aus, sondern ausschließlich davon, wie sie die Rentabilität von TEPCO und der Atomindustrie des Landes erhalten könnten.

Chefkabinettssekretär Yukio Edano drückte gestern den Familien der 27.000 Toten und Vermissten sein Beileid aus und entschuldigte sich bei den umgesiedelten Opfern der Erdbebenkatastrophe. Der Sprecher der japanischen Atomaufsichtsbehörde (NISA), Hidehiko Nishiyama, bat um Entschuldigung für die „Unannehmlichkeiten“, die durch die Sperrzone um das Atomkraftwerk Fukushima Dai-ichi entstanden sind.

Gleichzeitig versuchte Edano allerdings, die anhaltende Krise in dem havarierten Atomkraftwerk im bestmöglichen Licht darzustellen, und erklärte: „Die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Situation in dem Atomkraftwerk verschlechtert, und es zu weiterem Austritt von hochradioaktivem Material kommt, wird deutlich kleiner.“ Obwohl dies nicht wirklich gelogen ist, wird doch die reale Gefahr, die immer noch besteht, vorsätzlich unterschlagen. Nach wie vor kämpfen Ingenieure und Arbeiter darum, die beschädigten Reaktoren unter Kontrolle zu bringen. Am Tag davor hatte Edano das Verhalten der Regierung während der Katastrophe verteidigt und gesagt: “Unter den sehr schwierigen Umständen (…) haben wir, so glaube ich, jedesmal die beste Möglichkeit gewählt.“

Tatsächlich haben im vergangenen Monat die Regierung, die Atomaufsichtsbehörde und TEPCO kopflos gehandelt und verzweifelt versucht, improvisierte Lösungen für eine Katastrophe zu finden, die sie nicht vorhergesehen hatten und auf die sie nicht vorbereitet waren. Obwohl bekannt ist, dass es in Japan häufig zu Erdbeben und Tsunamis kommt, haben alle Sicherheitsvorkehrungen, die TEPCO getroffen hatte, der Reihe nach versagt. Als das Werk vom Stromnetz getrennt wurde, waren die Notfall-Dieselgeneratoren durch das Wasser des Tsunami überschwemmt, das über die zu kleine Sicherheitsmauer der Anlage geschwappt war. Batterien lieferten eine geringe Menge an Strom, waren aber schnell leer.

Von den sechs Kernreaktoren des Kraftwerks waren die Reaktorblöcke 4, 5 und 6 bereits aus Inspektionsgründen abgeschaltet. Das Einführen von Kontrollstäben in die Kerne der Reaktorblöcke 1, 2 und 3 beendete den Betrieb der Reaktoren. Ohne Strom, und damit ohne die normalen Reaktorkühlsysteme, erhitzten sich die Kerne von 1, 2 und 3 auf eine gefährlich hohe Temperatur, beschädigten die Brennstäbe, und eine vollständige Kernschmelze drohte. Die Abklingbecken, die zu jedem Reaktor gehören und ständige Kühlung erfordern, begannen ebenfalls, sich zu erhitzen. Hiervon war auch Reaktor 4 betroffen, dessen kompletter Reaktorkern ein paar Monate vorher entfernt und in das Abklingbecken gelegt worden war.

Innerhalb von Tagen explodierte Wasserstoff, der sich durch die beschädigten Brennstäbe gebildet hatte, und zerstörte die oberen Geschosse der Reaktorblöcke 1, 3 und 4. Da TEPCO nicht in der Lage war, den normalen Kühlvorgang zu starten, lenkte der Betreiber erst ab und griff dann zu der verzweifelten Maßnahme, Salzwasser auf den Kern von Block 1 und in mehrere Kühlbecken zu schütten. Erst ab Ende März konnte dann behelfsmäßig Süßwasser in die Reaktorkerne von 1, 2 und 3 gepumpt werden. So sieht das System aus, auf das sich der Betreiber TEPCO verlässt, wenn er, wie am vergangenen Sonntag, behauptet, die Situation im Kraftwerk sei „relativ stabil“.

Als ginge es darum, ausdrücklich auf den weiterhin prekären Zustand des Kraftwerks Fukushima hinzuweisen, unterbrach am Montag wieder ein schweres Nachbeben der Stärke 7,1 auf der Richterskala das Notstrom-Kühlsystem für eine Stunde. Seismologen warnen vor weiteren starken Erdstößen. Selbst nach den optimistischsten Schätzungen wird es Monate dauern, bis der normale Kühlvorgang der Reaktoren wiederhergestellt ist. Der schwierige Vorgang, die beschädigten Reaktoren zu demontieren und den Unglücksort zu reinigen, wird noch Jahre dauern. Das Ausmaß der Schäden an den Kernen der Reaktoren 1, 2 und 3, die möglicherweise zum Teil geschmolzen sind, ist noch immer unbekannt und wird von Atomexperten diskutiert.

Ein weiteres Anzeichen, dass nach wie vor Gefahr besteht, ist die Entscheidung der japanischen Regierung, die 20 Kilometer-Sperrzone um das Werk weiter auszudehnen. Sie umfasst jetzt fünf Städte und Dörfer, in denen vor dem Erdbeben etwa 115.000 Menschen lebten. Bereits seit Wochen empfiehlt die amerikanische Atomenergiebehörde (die selbst als konservativ in der Einschätzung atomarer Risiken gilt), eine Sperrzone von 80 Kilometern einzurichten. Vor zwei Wochen fanden Inspektoren der Internationalen Atomenergiebehörde IAEA hohe Konzentrationen des langlebigen Isotops Caesium-137 nahe dem Dorf Iitate, das 40 Kilometer nordwestlich des Kraftwerks liegt.

Zahlreiche Sicherheitslücken und Vertuschungen wurden TEPCO nachgewiesen. Von Anfang an hat der Konzern ungenügende und sogar falsche Informationen verbreitet und die Gefahr verharmlost. Die japanische Atomsicherheitskommission erwog am Montag, die offizielle Bewertung des Unfalls von fünf auf sieben auf der INES-Bewertungsskala zu erhöhen. Das ist die höchste Stufe, die bisher nur die Katastrophe von Tschernobyl erreicht hat. Trotzdem sind die Regierung, die Atomaufsichtsbehörde und TEPCO weiterhin nur von finanziellen Erwägungen getrieben.

Hierzu war aufschlussreich, dass TEPCO am 26. März bei der Präfektur Fukushima den Antrag einbrachte, zwei neue Reaktoren – Blöcke 7 und 8 – in demselben Kraftwerk zu bauen, aus dem immer noch hohe Strahlung austritt. Vom Einspruch der örtlichen Regierung unbeeindruckt, schickte der Konzern seine Pläne am 31. März unverändert zur Genehmigung an das Wirtschafts-, Handels- und Industrieministerium, dem die Atomaufsichtsbehörde unterstellt ist. TEPCO ruderte erst zurück, als die Sache an die Presse durchsickerte. Seither heißt es offiziell, der Antrag sei ein „Fehler“ gewesen.

TEPCOs Manöver war vielleicht politisch unklug, aber es war kein Fehler. Das Ziel des Konzerns war von Anfang an, die Krise so schnell wie möglich und mit so geringen Kosten wie möglich hinter sich zu bringen. Der Konzern verzögerte das Einleiten von Meereswasser in das Kraftwerk, da er immer noch hoffte, seine Reaktoren bergen zu können. Die Regierung hat TEPCO freie Hand gelassen, anstatt den Konzern in die Schranken zu weisen. Sie hat Milliarden an finanzieller Unterstützung in Aussicht gestellt und sich an dem beteiligt, was man nur als politische Schadensbegrenzung bezeichnen kann.

Letztes Wochenende flog Außenminister Takeaki Matsumoto nach Jakarta zu einem Sondertreffen mit seinen Amtskollegen vom Verband Südostasiatischer Nationen (ASEAN). Zwar war der offizielle Grund für das Treffen Hilfe für die japanischen Erdbebenopfer, aber Matsumoto hatte einen anderen wichtigen Auftrag: Er musste den ASEAN-Mitgliedsstaaten versichern, dass die japanische Nukleartechnologie sicher sei. Es geht schließlich um Milliarden Dollar. Die International Nuclear Development of Japan Company, bei der TEPCO Großaktionär ist, hat Verträge zum Bau von Atomreaktoren in Vietnam, Indonesien, Thailand und den Philippinen abgeschlossen oder verhandelt über sie.

Die Katastrophe von Fukushima unterstreicht die zersetzende und korrumpierende Natur des Profitsystems. Nicht die Nukleartechnologie als solche stellt eine Gefahr dar, sondern die soziale und wirtschaftliche Ordnung, in der sie sich entwickelt hat. Wenn die Atomkraft in den Händen privater Konzerne und unter der Dominanz des kapitalistischen Marktes bleibt, sind die Gesundheit und Sicherheit der Allgemeinheit unweigerlich dem Profitstreben untergeordnet. Der einzige Weg, wie Atomenergie sicher gehandhabt werden könnte, wäre unter öffentlichem Eigentum und unter der demokratischen Kontrolle der arbeitenden Bevölkerung – das heißt im Sozialismus.

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