Perspektive

Großbritanniens Gesundheitssystem vor dem Aus

Großbritanniens konservativ-liberale Regierung plant, das nationale Gesundheitswesen (NHS) als allgemeinen, umfassenden und kostenfreien Dienst für die Bevölkerung abzuschaffen.

Der NHS-Gesetzesvorschlag führt ein wettbewerbs- und marktorientiertes System ein, in dem die Gesundheitsversorgung rationiert und nicht länger zentral kontrolliert wird. Jedem Hospital und jedem Zusammenschluss von NHS-Einheiten wird in Zukunft gestattet, Joint Ventures mit dem privaten Sektor einzugehen.

Das Gesetz beseitigt auch die Verpflichtung, eine umfassende Gesundheitsversorgung zu gewährleisten und allen Bürgern den gleichen Zugang zu den Leistungen zu ermöglichen. Stattdessen werden Konsortien von Allgemeinärzten solche Dienste nach eigenem Gutdünken und auf der Grundlage ihres Budgets anbieten. Solche Konsortien können Partnerschaften mit privaten Anbietern eingehen und dürfen von Patienten Geld verlangen. Dreiundzwanzig profitorientierte Firmen betreiben bereits 227 Allgemeinarztpraxen.

Lokale Behörden können ebenfalls verpflichtet werden, NHS-Funktionen zu übernehmen, und das zu einer Zeit, in der ihre Etats gnadenlos zusammengestrichen werden.

Die Gesetzesvorlage enthüllt die Lügen der konservativ-liberalen Regierung, die behauptet, der NHS sei von den Auswirkungen ihrer drakonischen Kürzungen bei öffentlichen Ausgaben „ausgenommen“. Arbeiter werden bald herausfinden, dass ihnen wie unter dem US-System nur noch eine Grundversorgung zusteht und dass sie letztendlich auf ein versicherungsgestütztes System zurückgreifen müssen.

Wie jeder Angriff auf die arbeitende Bevölkerung fand auch der Frontalangriff auf das NHS unter aktiver Mitarbeit der Labour- und Gewerkschaftsbürokratie statt. Die Privatisierung des NHS begann 1989 – 1990 unter Margaret Thatchers konservativer Regierung mit der Einführung des „inneren Marktes“. Aber dieser Prozess wurde unter der letzten Labour-Regierung erheblich vorangetrieben.

Unter dem Banner der “Modernisierung” und der “freien Wahl durch die Patienten”, schuf Labour Private-Finanzinitiativen-Krankenhäuser ein. Dabei handelte es sich um privat geführte Kliniken für spezielle Behandlungen und andere Maßnahmen, durch die gewaltige Geldsummen in das Gesundheitsgeschäft flossen. Was die Gewerkschaften angeht, so wurden 2006 zum ersten Mal seit zwanzig Jahren einige Streiks durchgeführt. Danach geschah nichts mehr und 2008 einigte man sich auf ein dreijähriges Aussetzen von Streiks.

Die Gemeinsamkeit der Ziele von Tories und Labour zeigte sich in den Kommentaren von Mark Britnell, dem Gesundheitschef beim Buchprüfungskonzern KPMG. Auf einer Konferenz in New York, die vom Unternehmens-Beteiligungs-Konzern Apax organisiert worden war, sagte Britnell, der NHS werde vom staatlichen Versorgungslieferanten „in einen staatlichen Versicherungslieferanten “ umgewandelt. Dies biete der Wirtschaft „große Möglichkeiten“: „Dem NHS wird keine Gnade gewährt und die beste Zeit, davon zu profitieren, werden die kommenden Jahre sein.“

Labour griff die Tories an, da Britnell als Mitglied von Camerons “Küchenkabinett” für die Gesundheitsreform zuständig war. Cameron konnte dem aber entgegenhalten, dass Britnell zuvor mitgeholfen hatte, Labours NHS-Plan aus dem Jahr 2000 zu entwerfen, „einschließlich der Rolle des privaten Sektors“ und unter Labour zum Generaldirektor der NHS-Kommission ernannt worden war.

Die Arbeiterklasse befindet sich in einem Kampf, der kaum einem anderen in den letzten Jahrzehnten gleicht. Der Schaffung des NHS durch die Labour-Regierung im Jahr 1945 wurde damals größte Bedeutung beigemessen. Sie galt als die Zerstörung eines der fünf Giganten, die im Beveridge-Bericht genannt worden waren – Mangel, Krankheit, Vernachlässigung, Unwissenheit und Stillstand - und galt als maßgebliche Vorlage für den Nachkriegs-Sozialstaat. Seine Zerstörung markiert einen großen Schritt auf dem Weg in eine Gesellschaft, in der diese Giganten die Menschen einmal mehr unter ihrer eisernen Ferse zerstören.

Der NHS-Gesetzesentwurf steht im Zentrum eines Kürzungspaketes in Höhe von einhundert Milliarden Pfund. Er ist Teil einer sozialen Konterrevolution, die sich zum Ziel gesetzt hat, sämtliche Errungenschaften der Arbeiterklasse in den vergangenen einhundert Jahren zunichte zu machen. Zunächst von der Entschlossenheit angetrieben, die Milliarden zurückzuholen, die den Banken nach dem Crash von 2008 in den Rachen geworfen worden waren, ist es das neue Ziel der Herrschenden in Großbritannien, eine grundlegende Veränderung in den Klassenbeziehungen zugunsten der Superreichen zu erwirken.

Das Phänomen ist international. Den Sparmaßnahmen im Vereinigten Königreich entsprechen ähnliche Programme in Griechenland, Irland, Portugal und Spanien. Diese und andere europäische Länder stehen vor dem Bankrott, da sie die räuberischen Forderungen der Banker und Spekulanten bedienen müssen, deren kriminelle Aktivitäten die Welt in einen wirtschaftlichen Albtraum gestürzt haben, den die Welt seit der Großen Depression nicht gesehen hat.

Auf diesem Weg ist kein Ende in Sicht. Jeder Schlag gegen die Arbeiter in einem Land weckt nur den Appetit der herrschenden Elite nach mehr.

Das Sparprogramm der Tories wird in Großbritannien zu einem niedrigeren Anteil der Staatsausgaben als in den USA führen – einem Land, dessen rudimentäres Sozialsystem in Europa lange als ein beschämendes Beispiel ungehinderten brutalen Kapitalismus’ gesehen wurde.

Aber die Obama-Administration führt mit Unterstützung der Republikaner gigantische Kürzungen durch. Milliarden von Dollar werden bei Medicare und Medicaid eingespart, den ohnehin minimalen Gesundheitsprogrammen für die Alten und die Armen. Fast ein Drittel aller Amerikaner unter 65 sind zu irgendeinem Zeitpunkt innerhalb der vergangenen zwei Jahre ohne Krankenversicherung gewesen. Nach Obamas Einschnitten wird diese Zahl bei über fünfzig Prozent liegen.

Die Arbeiterklasse hat keine Wahl, als sich zu erheben und sich den Herausforderungen zu stellen, vor denen sie steht. Die Abwehr dieser Angriffe wirft grundlegende Fragen der Perspektive und des Programms auf. Notwendiger Ausgangspunkt ist die Einsicht, dass die herrschende Klasse unwiderruflich mit ihrer früheren Politik des gesellschaftlichen Kompromisses gebrochen hat und jetzt unverhüllten Klassenkrieg führt. Arbeiter müssen entsprechend reagieren.

Der NHS und die gesamte Palette von Sozialstaatsmaßnahmen, die dem zweiten Weltkrieg folgten, wurden von Labour, den Gewerkschaften und der stalinistischen Kommunistischen Partei als Beweis betrachtet, dass der Kapitalismus nicht nur in ein humaneres System umgewandelt werden, sondern in einem solchen Ausmaß reformiert werden kann, dass sich die Gesellschaft schließlich auf einen friedlichen, parlamentarischen Weg in den Sozialismus führen lässt.

Diese Behauptung diente dazu, die grundlegende Wahrheit zu verschleiern, dass alle Reformen, die die arbeitende Bevölkerung in Großbritannien, Europa und dem Rest der Welt durchgesetzt hat, das Ergebnis gewaltiger gesellschaftlicher und politischer Kämpfe waren. Schlussendlich zeugten sie von der Angst der herrschenden Kreise vor einer Ausbreitung gesellschaftlicher Revolutionen und einer Wiederholung der durch den ersten Weltkrieg ausgelösten Ereignisse, die zur Russischen Revolution von 1917 führten.

Das ist eine Behauptung, die sich inzwischen nicht mehr aufrechterhalten lässt. Die jahrzehntelange Dominierung der Arbeiterklasse durch diese verrotteten Bürokraten ist in der Tat für die Schaffung politischer Bedingungen verantwortlich, die zu der Offensive geführt haben, die jetzt mit solcher Schärfe vorgetragen wird.

Diese Offensive begann ernsthaft nach der Zerstörung der Sowjetunion und der Restaurierung des Kapitalismus durch den stalinistischen Apparat. Das war das Signal zur Verkündung des „Todes des Sozialismus“ und für die Annäherung an den Marktfundamentalismus durch die Parteien der sogenannten „Linken“ und der Gewerkschaften, die die Arbeiter bisher ohne jegliche Verteidigungsstrategie gelassen haben.

Die Arbeiterklasse muss sich im Kampf neu orientieren und die revolutionäre sozialistische Perspektive, die die Oktoberrevolution inspirierte, zu ihrer Grundlage machen. Es gibt keine Lösung für die gegenwärtige Krise ohne die Mobilisierung einer politischen und gesellschaftlichen Massenbewegung der gesamten Arbeiterklasse gegen das Profitsystem und seine Verfechter – die liberal-konservative Regierung wie auch die Labour- und die Gewerkschaftsbürokratie und ihre Anhängsel in den verschiedenen ex-linken Gruppierungen.

Dies ist ein internationaler Kampf, der eine vereinigte Offensive gegen das global organisierte Kapital durch die Arbeiter und die Jugend Großbritanniens, Europas, der Vereinigten Staaten und des Rests der Welt verlangt. Ziel muss die Schaffung von Arbeiterregierungen sein, die die demokratische Verwaltung der Wirtschaft sicherstellen, um die wesentlichen gesellschaftlichen Voraussetzungen für anständige Jobs, ein funktionierendes Gesundheitswesen, vernünftige Erziehung und ausreichenden Wohnraum zu schaffen.

Vor allem aber braucht die Arbeiterklasse eine neue und wahrhaft sozialistische Führung, die ihre Interessen ebenso radikal und entschlossen verteidigt, wie wir es zurzeit nur bei den Agenten der Wirtschaft erleben.

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