Finanzminister Schäuble greift Einwanderer an

In einem Interview mit dem Guardian vom Freitag schloss sich Finanzminister Wolfgang Schäuble denjenigen im deutschen Establishment und den Medien an, die in den letzten Monaten Einwanderer für die wachsenden sozialen Spannungen in Deutschland verantwortlich machen.

In dem Interview erklärte Schäuble, Deutschland habe in den 1960er Jahren einen “Fehler” gemacht, als es den Zustrom von Einwanderern, besonders von unqualifizierten türkischen Arbeitern, erlaubt habe. Schäuble: „Als wir vor fünfzig Jahren Arbeiter aus der Türkei einluden, da dachten wir, dass ihre Kinder sich automatisch integrieren würden. Aber die Probleme verschärfen sich in der dritten Generation noch anstatt zu verschwinden. Deswegen müssen wir die Politik ändern.“

Als die westdeutschen Regierungen in den 1960er Jahren den Arbeitsmarkt öffneten, war dies alles andere als ein Fehler. Dieser Politik lag vielmehr die Erkenntnis zugrunde, dass junge Arbeiter aus dem Ausland unverzichtbar waren, um die schwere Arbeit zu niedrigen Löhnen zu erledigen, die unter den Bedingungen eines anhaltenden Wirtschaftsaufschwungs anfiel.

Schäuble ist seit 1965 aktives Mitglied der konservativen CDU und kennt diesen Sachverhalt genau. Sein historischer Revisionismus dient aktuellen politischen Zielen. Jeder, der die politische Debatte in Deutschland in der letzten Zeit verfolgt hat, wird sich von Schäubles Bemerkungen an die Positionen des prominenten Sozialdemokraten, Ex-Berliner Finanzsenators und Ex-Vorstandsmitglieds der Deutschen Bundesbank, Thilo Sarrazin, vom August letzten Jahres erinnern.

In seinem Buch „Deutschland schafft sich ab“ wollte Sarrazin mit pseudo-biologischen Argumenten nachweisen, dass Einwanderer (besonders Türken und Muslime) gesellschaftlich minderwertig, von geringerer Intelligenz und eine unakzeptable Belastung für die deutsche Wirtschaft seien. Entgegen offiziellen Statistiken, die eine zurückgehende Einwanderung türkischer Arbeiter und eine geringere Wahrscheinlichkeit der Inanspruchnahme von Sozialleistungen durch sie (und eine geringere Kriminalitätsrate), als bei der einheimischen Bevölkerung belegen, behauptete Sarrazin, dass „keine Einwanderungsgruppe so sehr den Sozialstaat belastet und in Verbrechen verwickelt ist, wie Muslime“.

Als langjähriger Finanzsenator der rot-roten Regierung in Berlin war Sarrazin für die Finanzpolitik verantwortlich, die zu einer enormen Zunahme der Armut in der deutschen Hauptstadt führte. Berlin hat heute die höchste Kinderarmut ganz Deutschlands. Nachdem er Hunderttausende in Berlin zur Armut verdammt hat, versucht Sarrazin nun von seiner eigenen Verantwortung abzulenken und eingewanderte Arbeiter und Muslime für die wachsenden sozialen Spannungen in Deutschland verantwortlich zu machen. Sarrazin: „Nicht die materielle, sondern die geistige und moralische Armut ist das Problem.“

Jetzt spielt Schäuble die gleiche rassistische Karte aus. Als Finanzminister ist Schäuble ein vehementer Verfechter von scharfen Sparmaßnahmen in Deutschland und ganz Europa. In Deutschland ist Schäuble der Architekt des Programms, in dessen Rahmen der Bundeshaushalt in den nächsten vier Jahren um achtzig Milliarden Euro gekürzt werden soll. Die meisten Kürzungen gehen zu Lasten der Schwächsten der Gesellschaft.

In Europa ist Schäuble im Auftrag der deutschen Regierung die treibende Kraft bei Kürzungsprogrammen in der ganzen EU. Er berät ein Land nach dem anderen beim Zusammenstreichen der Staatshaushalte und der Sozialausgaben – mit verheerenden Konsequenzen für die Bevölkerung.

In seinem Interview mit dem Guardian vom Freitag lobte Schäuble die massiven Ausgabenkürzungen des britischen Schatzkanzlers George Osborne in den höchsten Tönen, die das Land in die Rezession treiben und die gesellschaftliche Armut enorm erhöhen. „Was Osborne macht, macht er bemerkenswert gut, und er ist sehr beeindruckend“, erklärte Schäuble.

Schäubles Sichtweise zufolge war es kein “Fehler”, dass die deutsche Regierung riesige Rettungsprogramme für die Banken auflegte, die den Steuerzahler Hunderte Milliarden neue Schulden kosteten. Es war auch kein „Fehler“, als seine Regierung die Praxis früherer Regierungen – unter anderem der rot-grünen Koalition – fortsetzte, die Steuern für die Wirtschaft und die Reichen zu senken.

Stattdessen besteht der “Fehler” darin, dass eingewanderte Arbeiter und ihre Familien seit Jahrzehnten in Deutschland leben und arbeiten: in ihnen sieht Schäuble eine unakzeptable Belastung für die Wirtschaft.

Um die Bedeutung von Schäubles Äußerungen in vollem Umfang zu verstehen, muss man sie in den Kontext der systematischen Offensive führender Politiker in Deutschland und ganz Europa stellen. Sie beschimpfen den Islam und schüren auf übelste Weise Chauvinismus gegen Einwanderer und ihre Familien.

Letztes Jahr machte auch Bundeskanzlerin Angela Merkel in Potsdam ähnliche Äußerungen wie jetzt ihr Finanzminister. Im Rahmen einer Debatte über Sarrazins Buch vor jungen Konservativen erklärte Merkel: „Anfang der 1960er Jahre hat unser Land die ausländischen Arbeiter nach Deutschland gerufen, und jetzt leben sie hier…. Wir dachten: ‚sie werden nicht bleiben und gehen auch wieder’ aber so ist es nicht…. Der Versuch, eine multikulturelle Gesellschaft aufzubauen,… ist völlig gescheitert.”

Merkels rechter Angriff auf die multikulturelle Gesellschaft wurde danach von zahlreichen führenden Regierungspolitikern aufgegriffen, darunter auch von Bundespräsident Christian Wulff. In einer Rede zum zwanzigsten Jahrestag der deutschen Einheit wandte sich Wulff gegen „multikulturelle Illusionen“.

Wulff verteidigte die (mythischen) christlich-jüdischen Wurzeln Deutschlands, machte dann aber ein Zugeständnis an die größte Einwanderergruppe in Deutschland, das rechten Kreisen im konservativen und sozialdemokratischen Lager als unverzeihlich erschien. Wulff erklärte: „Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.“

Seitdem steht Wulff unter starkem Druck, seine Äußerung zurückzunehmen. Erst vor wenigen Wochen trat der neue Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) die Debatte erneut los, als er unmittelbar nach seiner Amtsübernahme erklärte, der Islam gehöre nicht zu Deutschland.

Am vergangenen Wochenende bot ein weiterer führender Sozialdemokrat, dieses Mal der frühere Bundesfinanzminister Hans Eichel, Thilo Sarrazin eine Plattform, von der aus er seinen Schmutz verbreiten konnte. In seiner Funktion als Vorsitzender des politischen Clubs der Evangelischen Akademie Tutzing stellte Eichel Sarrazin als Hauptredner einer dreitägigen Konferenz unter dem Titel „Gehört der Islam zu Deutschland?“ vor.

Wie nicht anders zu erwarten war, beantwortete Sarrazin die Frage negativ und begrüßte die Möglichkeit, erneut gegen die deutschen Muslime zu geifern. Als weiteres prominentes Mitglied der SPD nahm der rechte Berliner Bezirksbürgermeister von Neukölln, Heinz Buschkowski, an der Konferenz teil.

Gleichzeitig sind die Dämonisierung des Islam und der Rückgriff auf rassistische Demagogie, wie man sie von neofaschistischen Organisationen kennt, nicht auf Deutschland beschränkt. Sie hängen mit einer Wende der politischen Elite in ganz Europa zusammen.

Erst vor wenigen Wochen hetzte der britische Premierminister David Cameron auf der jährlichen Münchener Sicherheitskonferenz gegen den Islam, den er mit Terrorismus gleichsetzte. In vielen europäischen Ländern – so in Frankreich, Belgien, Spanien, Italien, den Niederlanden, Österreich und der Schweiz – nutzen die Regierungen heute Islamophobie als zentralen Bestandteil ihrer politischen Ideologie und Praxis.

Finanzminister Wolfgang Schäuble ist kein Anfänger. Seine politische Karriere in der CDU erstreckt sich über fast fünfzig Jahre. Thilo Sarrazin ist langjähriges Mitglied er SPD. Beide sind sich vollständig darüber bewusst, was sie sagen und tun. Sie gehören als Führungspolitiker zu einer Tendenz, die es in jedem politischen Lager gibt, und die sich darauf konzentriert, Schichten der bürgerlichen Elite, der Medien und desorientierter Kleinbürger zu mobilisieren, die das Potential haben, die Basis für eine neue, ultrarechte Partei in Deutschland zu schaffen.

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