„Total Policing“ und die Kriminalisierung von Protest

Das riesige Polizeiaufgebot gegen eine relativ kleine und vollkommen friedliche Protestveranstaltung, die am Mittwoch gegen Kürzungen im Bildungsbereich stattfand, ist ein Beleg dafür, dass die herrschende Elite nicht mehr bereit ist, politischen und gesellschaftlichen Widerstand, egal in welcher Form, zu tolerieren.

Es waren viertausend Polizisten eingesetzt, viele davon in voller Kampfausrüstung. Das entspricht laut den variierenden Schätzungen der Veranstalter, der Medien und der Polizei über die Anzahl der Teilnehmer einem Verhältnis von eins zu eins oder sogar zwei zu eins.

Der neue Chef der Metropolitan Police, Commissioner Bernard Hogan-Lowe, beschrieb die Proteste als Test seiner Politik des „Total Policing“ (totale Polizeikontrolle/Überwachung). So sah die Lage aus: London wurde praktisch in den Belagerungszustand versetzt; alle Hauptstraßen entlang der Marschroute der Demonstranten wurden von Polizisten, Autos, berittener Polizei und drei Meter hohen Barrikaden versperrt.

Die Demonstranten wurden an Bahnhöfen, an U-Bahn- und Bushaltestellen empfangen und erhielten eine elfseitige Broschüre mit dem Titel „TOTAL POLICING“ in Großbuchstaben auf der Vorder- und Rückseite. Darin wurden sie gewarnt, die Polizei werde Abschnitt 60 des Criminal Justice and Public Order Act aus dem Jahr 1994 nutzen, um Demonstranten zu durchsuchen und das Vermummungsverbot durchzusetzen.

Den Demonstranten waren von Polizei vor ihnen, hinter ihnen und seitlich der drei Meilen langen Strecke umringt. Helikopter flogen über ihnen und produzierten reichlich Videomaterial von den Teilnehmern.

Als zusätzliche Provokation wurde die Demonstration alle zehn Meter angehalten, so dass sie für drei Meilen drei Stunden brauchte. Diese regelmäßigen Einkesselungen erlaubten es der Polizei, an bestimmten Stellen in die Mengen einzudringen, Menschen herumzuschubsen und anzurempeln, in der Hoffnung, jemanden zu einer voreiligen Reaktion zu provozieren.

Am selben Tag wurde auch bekanntgegeben, dass die geplante Kundgebung an der London Wall innerhalb von weniger als einer Stunde beendet sein, und der Platz in zwei Stunden komplett geräumt sein müsse. Der Versuch, als Solidaritätskundgebung mit den Occupy-Protesten ein Zeltlager auf dem Trafalgar Square aufzubauen, endete innerhalb von Minuten, als die Polizei die Beteiligten wegzerrte.

Die Polizei verhinderte mit Gewalt den Versuch einer Gruppe von Elektrikern, sich mit den Schülerprotesten zu vereinen. Sie streiken gegen Drohungen ihrer Geschäftsleitung, ihre Löhne um bis zu 35 Prozent zu kürzen,. Die Elektriker wurden umzingelt und praktisch eingesperrt. Als einige versuchten, auszubrechen, schlugen die Polizisten die Arbeiter mit Gummiknüppeln nieder. Angeblich war die Polizei mit Blendgranaten bewaffnet. Unter Berufung auf die Befugnisse nach Abschnitt 60 des Public Order Act wurden Namen und Adressen der Teilnehmer festgehalten.

Vor der Demonstration sagte der Kommandant der eingesetzten Polizei, Simon Pountain, auf einer Pressekonferenz, der Einsatz von Wasserwerfern sei nicht geplant, aber es gebe die Befugnis, Gummigeschosse einzusetzen – zum ersten Mal in England.

Über 450 Briefe wurden verschickt, in denen den Empfängern gedroht wurde, dass jeder, der schon einmal in Verbindung mit Verstößen gegen die öffentliche Ordnung festgenommen worden sei, im Wiederholungsfall verhaftet und „schnellstmöglich“ abgeurteilt werde. Viele dieser Briefe wurden an Menschen ohne Vorstrafen geschickt, was auf die Existenz einer Datenbank hindeutet, in der sich Menschen befinden, deren einziges „Verbrechen“ es war, vorher schon einmal an Protesten teilgenommen zu haben.

In einem Artikel im Police Oracle beschrieb eine Korrespondentin des Guardian unbekümmert, dass die Erlaubnis zum Schlagstockeinsatz schon im Vorfeld und das Verschicken von Drohbriefen nichts Neues sei. Neu sei nur, dass es öffentlich bekannt gegeben worden sei, sagte sie.

Die Erlaubnis zum Einsatz von Schlagstöcken wurde auch bei den Unruhen in britischen Städten im Sommer gegeben, sagte sie, und „was vielleicht nicht so bekannt ist… sie wurde auch bei der Studentendemonstration vor einem Jahr erteilt.“

Sie schrieb weiter, die Polizei erhält von Innenministerin Theresa May auch weitere Befugnisse, durch die „ein Verantwortlicher Polizeiführer in der Lage sein wird, die Bevölkerung während einer Demonstration aus einem bestimmten Gebiet zu entfernen – eine Befugnis, die es nicht mehr gegeben hat, seit 1973 der Riot Act abgeschafft wurde.“

Bei den Studentenprotesten im letzten Oktober kam es zu 150 Festnahmen während und nach den Protesten. Bei den Unruhen in diesem Sommer, die durch die Ermordung eines unbewaffneten Mannes durch die Polizei provoziert worden waren, gab es über zweitausend Festnamen und über elftausend Anklagen mit langen Haftstrafen für die kleinsten Vergehen.

International zeichnet sich eine ähnliche Entwicklung ab. Wo immer Arbeiter und Jugendliche versuchen, gegen Sparmaßnahmen zu demonstrieren, werden sie brutal unterdrückt.

In Griechenland wurden beispielsweise die Proteste während des Generalstreiks am 20. Oktober von fünfzehntausend Polizisten angegriffen und der Syntagma-Platz wurde mit Tränengas eingenebelt. In den Vereinigten Staaten weiteten sich die Occupy-Proteste innerhalb von zwei Wochen auf das ganze Land aus, nachdem am 1. Oktober bei einer Demonstration auf der Brooklyn Bridge 700 Demonstranten – fast ein Drittel aller Teilnehmer – festgenommen wurden. Seither sind an verschiedenen Orten Polizeikräfte in Kampfmontur, Tränengas und anderen Waffen gegen die Demonstranten vorgegangen und haben bisher dreitausend Menschen festgenommen.

Diese repressiven Maßnahmen zeigen die extreme Polarisierung zwischen den Klassen.

Der britische Riot Act, über den hier gesprochen wird, wurde im Jahr 1714 erlassen. Er sah für die Teilnahme an Unruhen die Todesstrafe vor. Im Jahr 1837 wurde dies umgeändert in Deportation aus dem Land.

Sein bekanntester Einsatz war bei dem Massaker von Peterloo im Jahr 1819 in Manchester. Dort starben bei einer Reiterattacke gegen eine Menge von 80.000 Demonstranten fünfzehn Menschen, siebenhundert wurden verletzt. Sie hatten Parlamentsreformen und Hilfe bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten gefordert.

Am Schwarzen Freitag im Jahr 1919 wurden in Glasgow Polizisten und zehntausend Soldaten gegen Arbeiter eingesetzt, die kürzere Arbeitszeiten forderten. Der Schwarze Freitag fand unter dem Eindruck der russischen Oktoberrevolution im Jahr 1917 statt, und Großbritanniens Elite fürchtete einen „bolschewistischen Aufstand.“ Die Tatsache, dass heute ähnliche Befugnisse erteilt werden, zuerst heimlich und jetzt ganz offen, sollte der Arbeiterklasse Großbritanniens, Europas und der ganzen Welt eine Warnung sein.

Heute diktiert eine sagenhaft reiche Oligarchie alle Aspekte des gesellschaftlichen Lebens, um sich immer weiter selbst zu bereichern. Angesichts der Wirtschaftskrise bedeutet das, Kürzungen und Sparmaßnahmen für Millionen von Menschen zu fordern, für die niemand ein demokratisches Mandat erhalten würde.

Deshalb greifen die bürgerlichen Regierungen auf der ganzen Welt zu Maßnahmen, die charakteristisch für einen Polizeistaat sind, und, wie in Griechenland, zur Drohung mit einem Militärputsch.

Arbeiter und Jugendliche müssen darauf mit dem Aufbau einer sozialistischen Massenbewegung und einer revolutionären Perspektive für eine wirklich demokratische und gleiche Gesellschaft reagieren. Die Grundlage für diese Perspektive muss die Enteignung der Oligarchie und die Umgestaltung der Produktion zur Befriedigung der sozialen Rechte aller auf Bildung, Gesundheit, Wohnung und ein gutbezahlte Arbeitsstelle sein.

 

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