Perspektive

Was bedeuten die Repressionen in Großbritannien?

Vor einem Monat sind in mehreren britischen Großstädten Unruhen ausgebrochen. Seither findet ein beispielloser Angriff auf demokratische Rechte statt.

In den Ausschreitungen kam die ganze aufgestaute Wut über die soziale Misere zum Ausdruck. Ursprünglicher Auslöser war die Hinrichtung des 29-jährigen Familienvaters Mark Duggan durch die Polizei am 4. August in Tottenham, im Norden Londons.

Seither ist die Tagespresse voll von reißerischen Berichten und Rufen nach Vergeltung. Alle bisher gültigen Strafkriterien werden aufgehoben. Die Regierung hat den Gerichten bedeutet, sie bräuchten sich nicht an den Buchstaben des Gesetzes zu halten. In einem Dokument der Londoner Metropolitan Police werden Ermittlungsbeamte angewiesen, die Verhafteten nicht freizulassen, sondern auch für Bagatelldelikte in Haft zu behalten.

Bei einer Großfahndung wurden schon über dreitausend Menschen in London, Birmingham, Manchester und anderen Städten verhaftet, oft für kleinste Vergehen. Alleine in London wurden mehr als zweitausend Menschen verhaftet und über 1300 angeklagt, darunter hunderte von Jugendlichen.

Junge Menschen werden zu jahrelangen Haftstrafen verurteilt. Sogar Elfjährige werden schon vor Gericht gestellt. Anderen verweigert man das Recht auf Anonymität.

Die Polizei riegelt ganze Stadtteile ab, um dort großangelegte Razzien durchführen zu können. Die Metropolitan Police plant offenbar, bis zu dreißigtausend Menschen zu verhaften. Deswegen ist eine Vergrößerung der Gefängnisse geplant, da ihre Kapazität jetzt schon ausgelastet ist.

An den Razzien beteiligen sich auch der Inlandsgeheimdienst MI5 und der Geheimdienst GCHQ (Government Communications Headquarter, spezialisiert auf elektronische Kommunikation und Kryptografie).

Die Polizei dringt in die sozialen Netzwerke im Internet und den Instant Messaging-Dienst von Blackberry ein. Zwischen der Regierung und den Netzwerke-Anbietern finden Gespräche statt, wie man deren Nutzung strenger einschränken könne. Mehrere Verhaftete erhielten die Kautionsauflage, keine sozialen Netzwerke mehr zu nutzen.

Kollektivbestrafung und Sippenhaft werden ebenfalls praktiziert: Ganzen Familien wird das Recht auf Sozialwohnungen und Sozialleistungen entzogen, wenn ein Familienmitglied sich an Unruhen beteiligt hat.

Besonders beunruhigend an der Polizeistaatsorgie ist die Tatsache, dass immer mehr Menschen von Polizisten getötet werden. Vom 16. August an wurden in nur einer Woche in Großbritannien drei Menschen von der Polizei durch Taser-Schocker und Pfefferspray getötet. Diese Morde werden mittlerweile schon straflos verübt.

Offensichtlich sind wir Zeuge einer allumfassenden und völlig unverhältnismäßigen Überreaktion auf Ausschreitungen, die nur ein paar Tage gedauert haben. Doch wie ist eine solche Entwicklung einzuschätzen?

Etablierte Parteien, Gerichte und Medien versichern, es gebe keine tieferen gesellschaftlichen Gründe für diese Ereignisse, sondern all jene, die „zur Rechenschaft gezogen werden“, seien schlicht Verbrecher und müssten als solche behandelt werden. Premierminister David Cameron griff sogar die BBC an, weil sie es gewagt hatte, tiefere soziale Ursachen für die Unruhen anzudeuten. Cameron sagte: „Manche stellen es fast so hin, als könnten wir erst dann etwas gegen Randalierer tun, wenn wir das Problem der Ungleichheit beseitigt haben.“

In Wirklichkeit wissen Cameron und die britischen Kapitalisten ganz genau, dass diese Unruhen nur ein erster, politisch unausgegorener Ausdruck der sozialen Unzufriedenheit sind, die unter großen Teilen der Arbeiterklasse vorherrscht. Aber sie fürchten, dass ein Eingeständnis dieser Tatsache das gesamte kapitalistische System und seinen Machtanspruch infrage stellen würde.

Wie die Unruhen gezeigt haben, ist Großbritannien ein Pulverfass, und die unterschiedlichsten Klassenspannungen können rasch große soziale Umwälzungen auslösen. In Großbritannien herrscht heute schon die tiefste soziale Ungleichheit von ganz Westeuropa. In den vergangenen zwanzig Jahren wurde der Reichtum der Gesellschaft in enormem Ausmaß von den ärmsten Schichten zu den reichsten verschoben. Durch den Bailout des britischen Bankensystems im Jahr 2008 hat die Labor-Regierung den großen Geldhäusern mehr als eine Billion Pfund Steuergelder zugeschustert. Die Haushaltskürzungen in Höhe von hundert Milliarden Pfund vertiefen noch die Kluft zwischen den Reichen und dem Rest der Gesellschaft.

Offiziell sind 2,5 Millionen Menschen arbeitslos, aber die tatsächliche Zahl liegt eher bei sechs Millionen, davon fast eine Million Jugendliche. Eine weitere Million gelten als NEETs (Not in Education, Employment or Training). In London kommen in 22 von 73 Wahlkreisen auf eine Arbeitsstelle zwanzig Bewerber. In den ärmeren Teilen der Hauptstadt, beispielsweise in Peckham oder Hackney, bewerben sich sogar über vierzig Menschen auf jede offene Stelle.

Am Montag hat die Financial Times aus über 300 Gerichtsakten der betroffenen Jugendlichen Zahlen veröffentlicht: Demnach leben zwei Drittel aller Angeklagten in Vierteln mit unterdurchschnittlich niedrigem Einkommen.

Seit einem Vierteljahrhundert werden die gesellschaftlichen Spannungen hauptsächlich mit Hilfe der Gewerkschaften unterm Deckel gehalten. Doch schon im letzten Herbst haben die Studentenproteste gegen Bildungskürzungen gezeigt, dass die wachsende Wut der Bevölkerung am ehesten in jenen Schichten zum Ausdruck kommt, die am wenigsten von den Gewerkschaften kontrolliert werden.

Jedenfalls kann es nicht weitergehen wie bisher, und das wird es auch nicht. Die Kluft zwischen den Superreichen und der großen Mehrheit der Bevölkerung ist nicht aufrecht zu erhalten. Die Bedingungen für Massenkämpfe sind herangereift, und die Gewerkschaften und die Labour Party werden sie nicht aufhalten können, da beide zu Recht als Instrumente der Wirtschaft berüchtigt sind.

Die herrschende Klasse weiß das, und deshalb bereitet sie Maßnahmen vor, wie man sie von Polizeistaaten kennt. Dass sie jetzt alle Normen demokratischer Herrschaft aufgeben, liefert allerdings einen starken objektiven Antrieb für eine Eskalation der Klassenkämpfe und treibt die Arbeiterklasse dazu, den Kampf für Sozialismus aufzunehmen.

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