Tsipras in Berlin

Als Alexis Tsipras am vergangenen Dienstag in Berlin sprach, wollte er so staatsmännisch wie möglich wirken. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel hatte dem Vorsitzende der Koalition der Radikalen Linken (SYRIZA) zwar wie zuvor der französische Präsident eine Audienz und erst recht einen gemeinsamen Auftritt verweigert, doch konnte Tsipras dank der Unterstützung der Linksfraktion im Bundestag dennoch die hochoffizielle Bundespressekonferenz als Bühne nutzen.

Alexis Tsipras Alexis Tsipras (rechts)

Hatte Tsipras am Montag in Paris noch davon gesprochen, wie Merkel die griechische Souveränität angreife und sich in Europa ein Kampf zwischen Kapital und Arbeit entwickle, wählte er in Berlin eine sehr diplomatische Sprache. Die zentrale Forderung seines Wahlkampfs nach einer Rücknahme aller bisherigen Sozialkürzungen, erwähnte er auf der Bundespressekonferenz nicht ein einziges Mal.

SYRIZA hatte bei den griechischen Wahlen vom 6. Mai ihren Stimmenanteil mit dieser Forderung auf siebzehn Prozent mehr als vervierfacht. Sie zog als zweitstärkste Partei ins Parlament ein. Bei den für den 17. Juni geplanten Neuwahlen könnte sie Umfragen zufolge sogar stärkste Partei werden und fortan den Regierungschef stellen.

Auf der Pressekonferenz in Berlin schien Tsipras dieses Amt schon ins Auge zu fassen. Diplomatisch erklärte er: „Wir haben uns an alle Seiten des politischen Spektrums gewandt und wollen niemanden erpressen.“ Nach dem Ende des Tandems Sarkozy und Merkel hoffe er, dass die Mächtigen ihre Fehler einsähen und man eine faire und gangbare Lösung finde.

Mehrfach betonte und versicherte er, dass seine Partei den EU-Institutionen keinesfalls ablehnend oder gar feindlich gegenüber stehe und Griechenland unter seiner Regie nicht aus der Union austreten werde. Die Wahl am 17. Juni, sagte Tsipras, bedeute nicht den Ausstieg seines Landes aus EU und Euro, sondern biete im Gegenteil eine neue Chance, um die Gemeinschaftswährung zu retten.

Diese vehemente Verteidigung der EU ist bemerkenswert, weil der Wahlerfolg SYRIZAs zweifellos auf der weit verbreiteten Opposition gegen die EU-Maßnahmen basierte. In Berlin präsentierte Tsipras nun zusammen mit dem Vorsitzenden der Linkspartei, Klaus Ernst, und dem Linkspartei-Fraktionsvorsitzenden Gregor Gysi ein „Sechs-Punkte-Programm“, wie aus ihrer Sicht die europäischen Institutionen und die bürgerliche Ordnung stabilisiert werden können.

Der erste Punkt betrifft die Kreditvereinbarungen – das Memorandum – zwischen griechischem Staat und der sogenannten Troika aus EU-Kommission, IWF und EZB. Das Memorandum hat die heftigen sozialen Angriffe und Einsparungen diktiert, die Griechenland in den letzten Jahren an den Rand des Abgrunds getrieben haben.

Auf der Pressekonferenz bezeichnete Tsipras das Memorandum als „vollständig ineffizient“ und seine Folgen als „katastrophal“. Das Land befinde sich im fünften Jahr in Folge in einer Rezession. Deutsche Steuerzahler steckten ihr Geld in ein Fass ohne Boden, mit dem in Wirklichkeit nur die Banken finanziert würden.

Das Sechs-Punkte-Programm fordert dann aber keineswegs eine Rücknahme all dieser Kürzungen, sondern lediglich den Verzicht auf „weiteren Sozialabbau und Privatisierungen“. Auch die Schulden sollen nicht gestrichen, sondern anerkannt und lediglich neu verhandelt werden.

Der wirtschaftspolitische Sprecher SYRIZAS, Prof. Ioannis Melios, der mit Tsipras nach Berlin gereist war, erläuterte die Ziele solcher Verhandlungen gegenüber der WSWS genauer. Seine Partei wolle einen Schuldenschnitt der von anderen Staaten oder Institutionen gehaltenen Kredite von 50 Prozent sowie einen Aufschub der Zinszahlungen um drei Jahre. Damit wäre ein solcher Schuldenschnitt geringer als derjenige, der vor wenigen Monaten von der alten Regierung mit den privaten Gläubigern ausgehandelt worden war.

Der zweite Punkt bezieht sich auf eine Forderung, die von den verschiedenen „linken“ Parteien in Europa und insbesondere der Linkspartei in Deutschland schon seit Monaten vehement aufgebracht wird: die direkte Kreditvergabe durch die EZB oder einer anderen öffentlichen Bank an die Staaten in der Euro-Zone. Auf diese Weise könnten die Staaten ihre Schulden direkt über die Notenpresse finanzieren und die Banken, die Staatsanleihen halten, auf diesem Weg rekapitalisieren. Als ersten Schritt in diese Richtung schlagen Linkspartei und SYRIZA Eurobonds, also gemeinsame Staatsanleihen aller Euro-Staaten vor.

Damit stellen sich die beiden Parteien an die Seite der Regierungen in Frankreich und Italien, die eine solche Politik des quantitative easing schon lange gegen den Widerstand der deutschen Regierung durchsetzen wollen. Eine solche Politik hätte für die Arbeiter in Europa nichts Fortschrittliches. Sie würde dazu dienen, die Sozialangriffe auf alle europäischen Staaten auszudehnen und hätte in absehbarer Zeit eine massive Inflation zur Folge, die Löhne, Renten und Ersparnisse über Nacht vernichten würde.

Die Stoßrichtung dieser Forderung wurde auch deutlich, als ein Reporter der WSWS Tsipras auf der Pressekonferenz mit seiner Aussage konfrontierte, Merkel müsse sich in ihrem Krisenprogramm stärker an US-Präsident Obama orientieren. Obama hatte die amerikanischen Banken mit Billionen Dollar aus der Staatskasse versorgt, während er gleichzeitig Sozial- und Lohnkürzungen durchsetzte.

In seiner Antwort verteidigte Tsipras seine Position vehement. Wirtschaftliche Reformen und Maßnahmen zur Ankurbelung der Wirtschaft seien notwendig, betonte er. Ansonsten drohten soziale Verwerfungen und Gefahren wie in den 1930er Jahren. Die arbeiterfeindliche Politik der Obama-Administration verglich er in diesem Zusammenhang mit den Sozialreformen Franklin D. Roosevelts, der damals Reiche massiv besteuerte und damit Sozial- und Arbeitsprogramme finanzierte.

Tsipras artikuliert in seinem Programm nicht die Interessen der Arbeiter, sondern eines Teils der griechischen und europäischen Bourgeoisie, der einerseits die deutsche Dominanz auf dem Kontinent ein Dorn im Auge ist und die zweitens kein Interesse an dem völligen Bankrott der griechischen Wirtschaft hat.

Deshalb steht er den EU-Institutionen, die seit Jahrzehnten die Rechte der Arbeiter angreifen, wohlwollend gegenüber und will sie nicht abschaffen, sondern verbreitet die Illusion sie könnten reformiert werden.

Auf die Frage der WSWS, was Tsipras nach einem möglichen Wahlsieg machen würde, wenn die EU-Vertreter und die Berliner Regierung nicht zu Kompromissen bereit wären, antwortete er ausweichend. Ein noch höherer Wahlerfolg von SYRIZA sei ein Ausdruck der Opposition der griechischen Bevölkerung gegen das Kürzungsdiktat und unter Bedingungen wo auch andere Länder dieser einseitigen Sparpolitik ablehnend gegenüberstünden, könnte eine demokratische EU den Wählerwillen nicht einfach übergehen. Gleichzeitig betonte er aber, dass seine Partei, auch wenn sie in Regierungsverantwortung stehe, die „Argumente und Standpunkte der anderen Regierungen ernst nehmen und weiter verhandeln“ werde.

Vertreter der EU haben bisher keine Zweifel daran gelassen, dass sie das Spardiktat weder lockern noch aussetzen werden. Bei seinem Besuch in Berlin ist Tsipras selbst bei den übrigen Oppositionsparteien, auf die er sich sonst gern bezieht, abgeblitzt. Der Fraktionsvorsitzende der Grünen, Jürgen Trittin, und der SPD-Vorsitzende Siegmar Gabriel erklärten nach Treffen mit Tsipras einhellig, dass es keine Alternative zu dem Kürzungsdiktat für Griechenland gebe.

Gabriel sprach sich nach dem Treffen zwar für einen Wachstumspakt aus, fügte aber hinzu: „Wer auch immer die nächste griechische Regierung stellt, muss aber wissen, dass getroffene Vereinbarungen einzuhalten sind [...] Niemand darf erwarten, dass Deutschland und die europäischen Geberländer zu ihren finanziellen Zusagen stehen, wenn eine neue griechische Regierung dazu nicht bereit ist“, sagte Gabriel.

Die Linkspartei, die als Gastgeber für Tsipras’ Berlin-Besuch fungierte, hat bereits mehrfach deutlich gemacht, dass für sie zwischen Wahlprogramm und Regierungspolitik ein fundamentaler Gegensatz existiert. Kaum waren sie in Regierungsverantwortung blieb von ihren beschränkten sozialen Forderungen des Wahlkampfs nichts übrig. Im Bündnis mit der SPD regierte sie in der Bundeshauptstadt zehn Jahre lang und richtete eine soziale Katastrophe an. Alexis Tsipras hat mit seinem Auftritt in Berlin deutlich gemacht, dass von SYRIZA nichts anderes zu erwarten ist.

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