In einem Wortwechsel mit Lesern des Le Parisien am Montag erklärte der Premierminister der Sozialistischen Partei Frankreichs, Jean-Marc Ayrault, dass die 35-Stunden-Woche für ihn nicht „tabu“ sei. Auf die Frage, ob seine Regierung zur 39-Stunden-Woche zurückkehren werde, antwortete er: „Warum nicht? Ich sehe das nicht dogmatisch.“
Als die Niederschrift am Dienstag veröffentlicht wurde, fürchteten Regierungsberater, dass sein “Ausrutscher” negative Auswirkungen auf die Umfragewerte der Regierung haben werde, die inzwischen schon auf vierzig Prozent abgesackt sind. Aber ihre zynischen Bemerkungen unterstreichen nur die Entschlossenheit der Regierung, Arbeiterrechte abzubauen.
Arbeitsminister Michel Sapin und Außenminister Laurent Fabius leugneten in Radio und Fernsehen jegliche Pläne, die 35-Stunden-Woche aufzugeben. Zu entsprechenden Gerüchten sagte Sapin: „Wir müssen der Ente den Kopf abschneiden, bevor sie fliegen kann.“
Im Gegenzug forderte Sapin sofort, Unternehmen die Möglichkeit zu schaffen, in Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften die Stundenzahl und d entsprechend die Löhne zu kürzen, um Schwankungen ausgleichen zu können. „Aber es muss auch einen Dialog in den Firmen geben. 35 Stunden sind der Standard, aber wenn die Geschäfte besonders gut laufen, kann man mehr arbeiten und auch mehr bezahlt bekommen, und wenn es nicht so gut läuft, kann man die Arbeitszeit verringern.“
Auch Francois Chérèque von der sozialistischen Gewerkschaft CFDT griff ein, um scheinbar die 35-Stunden-Woche zu verteidigen. Er sagte: „Wenn damit die gesetzliche 35-Stunden-Woche in Frage gestellt werden soll, dann sagen wir: ‚Auf keinen Fall’. Es ist Zeit, dass der Premierminister dieses Gerede schnell stoppt.“
Man weiß allerdings, dass Chérèque die Unternehmen auffordert, mit der PS-Regierung zusammenzuarbeiten, um die Arbeitskosten zu senken - d.h. Löhne und Sozialleistungen -, um französische Firmen global wettbewerbsfähiger zu machen.
Als Ayrault am nächsten Tag von rechten Abgeordneten in der Nationalversammlung gepisackt wurde, erklärte er, dass die 35-Stunden-Woche bestehen bleibe, “solange die Linke [soll heißen die SP] an der Regierung ist”.
Die Erklärungen von Vertretern der PS und der Gewerkschaften machen deutlich, welches Ziel Ayraults Vorschläge zur Verlängerung der Arbeitswoche verfolgten: Er reagierte auf das Verlangen der Industrie, ihre Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern und die Sparmaßnahmen auf Kosten der Arbeiter zu beschleunigen.
Ein offener Brief vom Vortag von Afep, einer Vereinigung der 98 größten französischen Firmen, forderte von Präsident Francois Hollande: „Der Staat muss in den nächsten fünf Jahren sechzig Milliarden Euro einsparen… Um die Wirtschaft zu unterstützen, müssen die Arbeitskosten in zwei Jahren um mindestens dreißig Milliarden Euro gesenkt werden.“ Afep schlug vor, die Reduzierung der Sozialbeiträge der Firmen „zur Hälfte durch eine Erhöhung der Mehrwertsteuer von 19,6 auf 21 Prozent (das europäische Mittel) und zur Hälfte durch eine Reduzierung der Staatsausgaben an anderer Stelle zu finanzieren“.
Diese Maßnahmen, die die Arbeiterklasse weiter verarmen würden, entsprechen in etwa denen in einem bekannt gewordenen Bericht einer Regierungskommission, mit denen Wettbewerbsfähigkeit und Profitabilität der Wirtschaft verbessert werden sollen. Der Bericht wurde von Louis Gallois, dem ehemaligen Boss der Eisenbahngesellschaft SNFC und von Airbus erstellt und soll am 5. November an Ayrault übergeben werden.
Ayraults Salto rückwärts und sein Versprechen , die 35-Stunden-Woche beizubehalten, hängt damit zusammen, dass das Gesetz selbst sehr komplex und voller Schlupflöcher ist. Es wurde schon mehrfach nachgebessert, um die Ausbeutung der Belegschaften zu erhöhen.
Das Gesetz wurde 2000 von der PS-Regierung von Premierminister Lionel Jospin eingeführt. Es sollte eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen verschleiern und Unternehmern ermöglichen, Jahresarbeitszeitkonten einzurichten, und so die Ausbeutung der Arbeitskräfte zu erhöhen. Damals begann auch der Prozess der Aushöhlung gesetzlicher Arbeitsschutzbedingungen, der von den nachfolgenden UMP-Regierungen noch beschleunigt wurde.
Eine “Reform” der 35-Stunden-Woche 2008 unter dem rechten Präsidenten Nicolas Sarkozy wurde offen als ihre Abschaffung gefeiert.
Die Krise des Weltkapitalismus und des französischen Kapitalismus wird als Rechtfertigung dafür genommen, die sozialen Errungenschaften der Arbeiterklasse zu zerstören. Hollande machte in einer Rede am 25. Oktober vor 2.000 Industrieführern folgende Liste auf: 750.000 Arbeitsplätze in der Industrie seit 2008 verloren; tägliche Bekanntgabe von Betriebsschließungen; ein riesiges jährliches Handelsbilanzdefizit von siebzig Mrd. Euro.
Der Nouvel Observateur zitiert den französischen Wirtschaftsbeobachter Henri Sterdyniak, der eine Lösung vorschlägt, die nicht weit neben den Plänen der Hollande-Regierung liegt: „In Deutschland haben sie ein Abkommen mit den Gewerkschaften über Lohnzurückhaltung. Dann hat der Staat [den Firmen] noch einen zusätzlichen Anschub gegeben, als er einige Gebühren auf die Mehrwertsteuer abwälzte.“
Die Gewerkschaften in Frankreich verhandeln mit den Unternehmen über Abkommen zum Kosteneinsparen, für niedrigere Löhne und Arbeitsplatzabbau zur „Rettung“ von Arbeitsplätzen. Arbeiter in Frankreich werden gegen ihre Kollegen im Ausland ausgespielt. Dafür arbeiten sie mit Hollande genauso zusammen, wie vorher mit Sarkozy.
Verarbeitende Industrien wie der Autohersteller Renault fordern Maßnahmen zur Senkung von Arbeitskosten
Die Firma hat eine Milliarde Euro in ein Werk in Tanger in Marokko investiert, das ab 2013 340.000 Fahrzeuge im Jahr herstellen soll. Der Grundlohn für einen Arbeiter dort beträgt 250 Euro im Monat gegenüber 450 Euro in Rumänien. Das Werk wird fünf Jahre lang von jeglichen Steuerzahlungen befreit sein und zwanzig Jahre nur einen reduzierten Steuersatz zahlen. Gegenwärtig produziert Renault nur noch 25 Prozent seiner Fahrzeuge in Frankreich. Das waren 2011 634.000 Autos gegenüber einer Million in 2007.
Der Renault-Manager Carlos Tavares erklärte kürzlich, dass die Produktion eines Clio 4 in Flins in Frankreich 1.300 Euro mehr koste, als in Bursa in der Türkei. Die Hälfte der Differenz geht auf die höheren Lohnkosten zurück, die andere Hälfte auf die höheren Kosten für die örtlichen Zulieferteile. Tavares sagte, Renault nehme Gespräche mit den Gewerkschaften auf, um die Kostendifferenz zwischen den Werken in Flins und in Bursa zu reduzieren.
