Griechenland: Tsipras hält sich für Regierungsübernahme bereit

„Der Mann, der noch vor ein paar Monaten die Albträume der führenden EU-Politiker nährte, sieht eigentlich ganz brav aus. Alexis Tsipras sitzt mit akkurat gekämmtem Seitenscheitel und freundlichem Gesicht in einem Sitzungssaal des Brüsseler Europaparlaments. Von einem Aufwiegler oder Klassenkämpfer hat er nichts. Wenn er noch eine Krawatte trüge, könnte er vielleicht als eine Art griechischer Markus Söder durchgehen.“

Mit diesen Worten beschreibt die erzkonservative Frankfurter Allgemeine den Vorsitzenden der griechischen Koalition der Alternativen Linken (SYRIZA) und bringt damit nicht nur dessen Einstellung gegenüber den EU-Institutionen auf den Punkt, sondern fasst auch die positive Haltung der herrschenden Eliten in Europa gegenüber seinem Linksbündnis zusammen. Je mehr sich der Klassenkampf in Europa verschärft, desto dringender benötigen sie pseudolinke Kräfte wie SYRIZA, um die Situation unter Kontrolle zu halten. Tsipras bereitet sich auf diese Aufgabe vor.

Vergangene Woche bereiste er Europa und sprach in Brüssel zunächst vor dem Europäischen Parlament und später mit dessen Präsidenten Martin Schulz (SPD). Schulz betonte, wie wichtig ein Treffen mit dem griechischen Oppositionsführer sei, und umschmeichelte seinen Gast. Samstag betonte Tsipras dann in einer Rede in Hamburg, seine Partei wolle die EU-Institutionen keinesfalls angreifen, sondern vielmehr stützen. Schon vor einigen Wochen war Tsipras mit dem Chef der EU-Taskforce für Griechenland, Horst Reichenbach, zusammengekommen, um mit ihm das weitere Vorgehen abzusprechen.

Tsipras‘ Hilfe wird nicht nur geschätzt, sondern dringend benötigt. Am Montag hat die griechische Regierungskoalition aus konservativer Nea Dimokratia (ND), sozialdemokratischer PASOK und Demokratischer Linken (DIMAR) im Parlament den Haushalt für 2013 präsentiert. Darin geht sie von einem Wirtschaftsrückgang um 6,5 in diesem und 3,8 Prozent im nächsten Jahr aus, was noch optimistisch geschätzt sein dürfte. Massenelend, Niedriglöhne und Arbeitslosigkeit, die schon jetzt das griechische Leben dominieren, werden zudem durch das jüngst von der EU diktierte Sparpaket über mindestens 13,5 Milliarden Euro noch brutalere Ausmaße annehmen.

Gegen dieses nunmehr dritte Sparpaket, das ausschließlich den internationalen Banken und Konzernen zugute kommt, wächst der Widerstand. Der konservative Regierungschef Andonis Samaras (ND) hat zunehmend Schwierigkeiten, die Kürzungen gegen die Bevölkerung durchzusetzen. Nicht nur wegen andauernder Streiks und Demonstrationen, sondern auch, weil die Arbeiter in den Behörden sich weigern, die verabschiedeten Gesetze tatsächlich umzusetzen. Soziale Aufstände werden längst einkalkuliert.

Unter diesen Bedingungen gewinnt SYRIZA für die herrschenden Eliten eine wichtige Bedeutung. 2009 hatte die konservative Nea Dimokratia ihre Macht freiwillig an die damals oppositionelle PASOK abgetreten, weil sie angesichts der sich anbahnenden Schuldenkrise hoffte, diese könne aufgrund ihrer Verbindungen zu den Gewerkschaften die Kürzungen besser durchsetzen. Jetzt hält sich SYRIZA bereit, diese Rolle zu übernehmen. Sie verfügt nicht nur über Einfluss in den Gewerkschaften, sondern auch über enge Verbindungen zu zahllosen pseudolinken, kleinbürgerlichen Gruppen, mit deren Hilfe sie hofft, die sozialen Proteste unter Kontrolle zu halten.

Darauf bereitet sich Tsipras vor, wenn er wiederholt ankündigt, SYRIZA könne „gleich morgen“ eine neue Regierung bilden und die gegenwärtige ablösen. Die Partei war bei den Parlamentswahlen im Juni mit 27 Prozent der Stimmen hinter der ND auf dem zweiten Platz gelandet. Eine Koalition jenseits der ND wäre ohne Neuwahlen allerdings nur mit Unterstützung der Rechtsradikalen möglich.

Wie schon im Wahlkampf versucht Tsipras mit einigen sozialen Forderungen, etwa nach einem Stopp der Kürzungspolitik, die Wut der Bevölkerung aufzufangen. Doch ein genauerer Blick auf seine Rhetorik zeigt, dass es sich dabei um bloße Lippenbekenntnisse handelt.

Seit dem Wahlkampf verzichtet er auf radikalere Forderungen, wie die Rücknahme aller Privatisierungen oder sämtlicher bisheriger Kürzungsmaßnahmen. Stattdessen konzentriert sich SYRIZA darauf, das aktuelle Sparpaket zu kritisieren. Sollte es umgesetzt werden, betont die Partei immer wieder, würden sich die Chancen der internationalen Kreditgeber ihre Einlagen zurückzuerhalten verringern, weil ein Bankrott des Landes dann unausweichlich wäre.

Stattdessen fordert SYRIZA eine europäische Schuldenkonferenz, auf der über eine Stundung der Zinsen und einen moderaten Schuldenschnitt diskutiert werden soll. In Anlehnung an das Londoner Schuldenabkommen von 1953, mit dem Deutschland ein Großteil seiner Schulden erlassen wurde, spricht Tsipras bei diesen Maßnahmen von einem „Marshall-Plan“ für Griechenland, der dem Land erlauben solle, das Wirtschaftswachstum anzukurbeln und so die Restschulden vertragsgemäß zu begleichen.

Es geht ihm explizit nicht darum, die Schulden, für die die griechischen Arbeiter bluten müssen, in Frage zu stellen, sondern ihre Rückzahlung an die Banken und Staaten zu garantieren. „SYRIZA steht für wirtschaftliche, soziale und geopolitische Stabilität“, versicherte Tsipras am 15. September auf einer Messe in Nordgriechenland. Auch die Stützung der reaktionären EU-Institutionen sicherte er auf dieser Veranstaltung zu: „Die Rolle von SYRIZA besteht heute nicht darin, den europäischen Zusammenhalt aufzulösen.“ Die Partei wolle den „verschlungenen Pfad“ der EU lediglich korrigieren.

Gegenüber der argentinischen Zeitung Párgina hatte sich Tsipras bereits vor zwei Wochen für einen Ausbau der EU durch eine politische Union und die Stärkung der Stellung der Zentralbank ausgesprochen. Er sagte: „Der Euro ist ein weltweit einzigartiges Phänomen. Wir haben eine gemeinsame Währung, das heißt eine Währungsunion, aber uns fehlt eine politische Union und eine Europäische Zentralbank, die jedem Land Europas Unterstützung gewähren kann.“

Wohin diese Reise geht, machte Tsipras deutlich, als er als Vorbild für eine Linksregierung unter SYRIZA-Führung den italienischen Regierungschef Mario Monti nannte. Er warf dem griechischen Regierungschef Samaras vor, er habe auf der EU-Gipfelkonferenz vom 26. Juni im Unterschied zu Monti nicht erreicht, „worauf das griechische Volk Anspruch hat“. Der Ministerpräsident von Italien habe die „direkte Refinanzierung der Banken ohne Belastung der öffentlichen Schulden“ durchgesetzt.

Auf dem Gipfel hatten Monti und sein spanischer Amtskollege Marion Rajoy den EU-Vertretern lose Versprechungen abgerungen, dass die Banken beider Länder auch ohne Auflagen für den Staat Notkredite von der EU erhalten. Tatsächlich haben beide Länder in diesem Jahr beispiellose soziale Kürzungen durchgesetzt. Monti hatte kurz nach dem Gipfel zusätzliche Einsparungen im Umfang von 26 Milliarden Euro angekündigt. Das ist laut Tsipras, „worauf das griechische Volk Anspruch hat“.

Zu diesen Standpunkten passt, dass SYRIZA in wachsendem Maße nationale Parolen statt sozialer Forderungen in den Mittelpunkt stellt. Am 16. September machte Tsipras den Griechen auf einer Demonstration eine „partiotische und demokratische“ Einladung, das Land neu aufzubauen. An anderer Stelle fügte er hinzu: „Dieser Weg wird nicht mit einem roten Teppich und Rosenblüten ausgelegt sein“, und bereitete die Bevölkerung so auf neue Einsparungen vor.

Nachdem SYRIZA in den ersten Monaten nach der Wahl, versichert hatte, keine Proteste zu organisieren, ist die Partei inzwischen dazu übergangen, in Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften wirkungslose Pseudoproteste wie die berüchtigten 24-stündigen „Generalstreiks“ zu organisieren. Diese Aktionen dienen dazu, die Arbeiter zu demoralisieren und SYRIZA zu stärken, damit sie der herrschenden Elite als Alternative zu der konservativen Regierung dienen kann.

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