Zum Tod von Christopher J. Stevens

Der Stille Amerikaner

Graham Greene lieferte 1955 in seinem sardonischen Roman „Der stille Amerikaner“ ein verheerendes Portrait von Alden Pyle, einem jungen amerikanischen verdeckten Agenten in Vietnam, der idealistische Vorstellungen von Demokratie und den USA hegt und versucht, eine „dritte Kraft“ aufzubauen, um die vietnamesische Revolution aufzuhalten. Er entfesselt damit Gewalt in der Bevölkerung des Landes und wird schließlich Opfer seiner eigenen politischen Intrigen.

„Ich habe nie einen Mann erlebt, der bessere Motive für den ganzen Ärger hatte, den er verursacht hat,“ erklärt Greenes Erzähler über Pyle.

Diese Beschreibung würde gut zu den Lobgesängen auf J. Christopher Stevens passen, dem amerikanischen Botschafter in Libyen, der am Dienstag zusammen mit drei anderen Amerikanern bei einem bewaffneten Angriff auf das amerikanische Konsulat in Bengasi ermordet wurde.

Man sollte sich nicht über den gewaltsamen Tod eines 52-jährigen Mannes freuen. Aber bei all den Würdigungen über seinen Idealismus und – wie es Außenministerin Hillary Clinton formulierte – seinen „Einsatz für die Förderung amerikanischer Werte und Interessen“ ist es unmöglich, Stevens‘ Tod zu verstehen, ohne anzuerkennen, dass er Blut an den Händen hatte und wie die fiktive Person Pyle ein Opfer der Kräfte wurde, die er selbst zu entfesseln geholfen hat.

Stevens war ein Karrierediplomat des US-Imperialismus im Nahen Osten. Er wurde nach Damaskus, Kairo, Riad, Jerusalem und Tripolis als „Politoffizier“ und „chargé d´affaires“ geschickt, um „Amerikas Werte und Interessen“ zu verteidigen, während Washington einen nahezu völkermörderischen Angriffskrieg im Irak führte, die Diktatur Mubaraks in Ägypten stützte und jedes Verbrechen Israels gegen die Palästinenser verteidigte.

In Libyen war er maßgeblich daran beteiligt, die Beziehungen zwischen den USA und dem Regime von Oberst Muammar Gaddafi zu festigen. Geheime Botschaftstelegramme aus dieser Zeit, die von WikiLeaks veröffentlicht wurden, liefern ein aufschlussreiches Bild seiner Arbeit.

Darin geht es, unter anderem, um Verhandlungen mit der libyschen Regierung über weiteren Zugang amerikanischer Verhörspezialisten zu libyschen Gefangenen, die entführt, gefoltert und im Rahmen des Kriegs gegen den Terror wieder dem Gaddafi-Regime ausgehändigt wurden. In anderen Telegrammen geht es um Milliardengeschäfte amerikanischer Konzerne, die aus dem libyschen Öl Profit schlagen wollten.

Damals beschrieb Stevens Gaddafi als „interessanten und charmanten Gesprächspartner“ und „starken Partner im Krieg gegen den Terrorismus.“

Die Telegramme enthüllen ebenfalls, dass Stevens auch die Bedingungen im Osten Libyens und dessen „historische Rolle als Widerstandsherd“ untersuchte.

Als Washington nach den Volksaufständen in Tunesien und Ägypten beschloss, die Demonstrationen in Libyen für einen Krieg zum Zweck des Regimewechsels auszunutzen, um seine Position in der Region zu stärken, wurde Stevens als amerikanischer Botschafter bei den sogenannten Rebellen des Nationalen Übergangsrates aus Bengasi (NTC) ausgewählt.

Damals weigerte sich das US-Außenministerium, seine offizielle Biografie zu veröffentlichen, es gab auch keine Fotos von ihm. Die Businessweek war eine der wenigen Zeitschriften, die ein Profil über „Washingtons Mann in Bengasi“ veröffentlichte. Sie schrieb über seine bisherigen Recherchen über soziale Unruhen im Osten Libyens und zitierten einen ehemaligen Kollegen aus dem Außenministerium, laut dem Stevens „mit einigen Mitgliedern des Widerstandes bereits durch seinen Posten in Tripolis vertraut war.“

Das wirft die offensichtliche Frage auf, welche Rolle Stevens und die USA von Anfang an dabei hatten, den bewaffneten Konflikt in Libyen zu schüren. In jedem Fall handelte es sich nicht, wie der Öffentlichkeit erklärt wurde, um einen Kreuzzug für Menschenrechte und zum Schutz der libyschen Zivilbevölkerung, sondern um einen imperialistischen Plünderungskrieg, dessen Hauptziel es war, die hegemoniale Kontrolle über den Ölreichtum des nordafrikanischen Landes zu erringen, vor allem zum Nachteil von Russland und China.

Als Stevens im April 2011 in Bengasi war, war es seine Aufgabe, die Finanzierung, Bewaffnung und Ausbildung der „Rebellen“ zu koordinieren und gleichzeitig sicherzustellen, dass der NTC, eine Ansammlung von Exilanten, ehemaligen Gaddafi-Funktionären und Islamisten, auf Amerikas Linie blieb.

Da es keinen revolutionären Massenaufstand gab, war ein zentrales Problem dabei die Organisierung einer Streitmacht, die nach den mörderischen Luftangriffen der USA und ihrer Verbündeten losschlagen könnte. Die opportunistische Lösung war der Einsatz von Kräften, die mit der Libyschen Islamischen Kampfgruppe und Al Qaida des Maghreb verbunden sind, die erfahrene und motivierte Kämpfer waren.

Im Libyenkrieg wurden Elemente, die bisher als Terroristen verurteilt und teilweise von der CIA verhaftet und gefoltert worden waren, plötzlich als Freiheitskämpfer und Helden gefeiert.

Es war eindeutig Washingtons Kalkül, dass diese Kräfte, nachdem sie benutzt worden waren, später durch einen Marionettenstaat unter Führung eines Äquivalents zum afghanischen Präsidenten Hamid Karsai beseitigt werden könnten. Ein solcher Staat wird jetzt gebildet – unter der Führung des neugewählten Premierministers Mustafa Abu-Shakour, der 32 Jahre im Exil in den USA verbrachte, wo er eine zeitlang für das Pentagon arbeitete – aber es hat sich gezeigt, dass er nicht stark genug ist, um mit zehntausenden bewaffneten Milizionären fertig zu werden.

Der Libyenkrieg endete im Oktober 2011 mit dem barbarischen Lynchmord an Gaddafi. Damals höhnte Außenministerin Clinton über dessen Schicksal: „Wir kamen, wir sahen, er starb.“

Nach Stevens‘ Ermordung am Mittwoch erklärte Clinton: „Wie konnte das in einem Land passieren, dem wir bei seiner Befreiung geholfen haben, in einer Stadt, die wir vor der Zerstörung gerettet haben?“ Wenn Clinton die Antwort nicht weiß, sollte sie sich untersuchen lassen.

Die gleichen Elemente, die sie als Helden feierte, als sie Gaddafi misshandelten und lynchten, sind jetzt die „Wilden“, die laut ihr und Obama „zur Rechenschaft gezogen“ werden müssen. Zweifellos wurde ihr Verlangen, den Botschafter zu ermorden, dadurch angetrieben, dass sie dachten, die „Revolution“ hätte ihnen – ganz zu schweigen vom libyschen Volk – nichts gebracht.

Solche Ansichten sind in der Region weit verbreitet. Die Menschen in diesen Ländern wissen aus erster Hand, dass der Schutz „amerikanischer Interessen und Werte“ ein zynisches Manöver voll Zerstörung und Gier ist, die kein Idealismus verbergen kann.

Was die Medien angeht, so sind die überschwänglichen Würdigungen von Menschen, die behaupten Stevens gekannt zu haben und teilweise E-Mails zitieren, die er an Mitglieder der Presse schickte, ein selbst ausgestelltes Armutszeugnis für die inzestuöse Beziehung zwischen Washingtons herrschendem Establishment und der „vierten Gewalt im Staat“.

Genau wie der Irakkrieg wurde auch der Libyenkrieg dadurch ermöglicht, dass die amerikanische Öffentlichkeit von den konzernhörigen Medien, die die Propaganda der US-Regierung nachplapperten, bewusst belogen wurde. Sie spielten eine unverzichtbare Rolle dabei, einen völkerrechtswidrigen Krieg für einen Regimewechsel als humanitäres Unternehmen zum Schutz von Leben und zur Förderung der Demokratie zu verkaufen.

Aus der Masse der Eulogen für Stevens ragt die des verabscheuenswerten Roger Cohen heraus, des Kolumnisten und ehemaligen Auslandsredakteurs der New York Times, der in zahlreichen Kolumnen den US-Militarismus vom Balkan bis zum Irak gestützt hat. Cohen teilt seinen Lesern mit, Stevens sei „für amerikanische Werte“ gestorben.

Was er damit meint, schrieb er vor etwas mehr als einem Jahr in einer Kolumne über Libyen mit dem Titel „Ein Punkt für den Interventionismus,“ in der er erklärte, Interventionismus sei „untrennbar verbunden mit der amerikanischen Idee... Der Idee, dass der Westen bereit sein muss, für seine Werte gegen die Barbarei zu kämpfen.“

Cohen zitierte aus einer E-Mail vom 4. Juli 2011, in der Stevens vielen Menschen „einen großartigen 4. Juli mit viel Bier, Eiskrem, Hamburgern und Feuerwerk“ wünscht. Zur dieser Zeit befand sich Libyen seit mehr als 100 Tagen unter Bombardement der USA und der Nato und triefte von Blut.

Die endlos wiedergekäuten Lobpreisungen über Stevens‘ Idealismus und guten Charakter werden zweifellos die Schichten der pseudolinken Kleinbürger ansprechen, die sich hinter Obamas Krieg gegen Libyen gestellt haben. Dass dieses Lob gleichermaßen von Demokraten und Menschen wie Condoleezza Rice und anderen Vertretern der Bush-Regierung stammt, der er ebenfalls gedient hat, wird sie nicht im Geringsten stören.

Letzten Endes drückte Stevens die heuchlerische und mörderische Rolle aus, die Washington auf der Weltbühne spielt, auf die Graham Greene vor mehr als einem halben Jahrhundert in seinem Roman hinwies. Er war auch ein „stiller Amerikaner“, der die nackten Interessen des Imperialismus mit Rhetorik über Demokratie und Freiheit verhüllte und eine Schneise aus Leid und Zerstörung hinter sich zurückließ.

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