Wir wollten ganz normal zusammen leben

Der Dokumentarfilm „Wadim“ von Carsten Rau und Hauke Wendler

 

Wadim Wadim 19-jährig in Paris (Bild NDR- PIER 53 Filmproduktion)

Vor einigen Tagen lief in der ARD der hervorragende, mehrfach ausgezeichnete Dokumentarfilm „Wadim“ von Carsten Rau und Hauke Wendler.

Im Januar 2010 setzte der 23-jährige Wadim K. in Hamburg seinem Leben ein Ende, nachdem er seine Familie, seine Heimat verloren hatte und verstand, dass es nirgendwo für ihn einen Platz gab.

Nach dem Zusammenbruch der UdSSR waren die Eltern mit dem etwa Fünfjährigen und seinem jüngeren Bruder aus Lettland geflohen, um sich in Deutschland eine neue Existenz aufzubauen. Solange Lettland Teil der Sowjetunion war, hatte der Vater als Polizeiinspektor in Riga, die Mutter in einer militärischen Fabrik gearbeitet.

1987 gingen die Menschen auf die Straße. Doch die Bewegung, die die Abrechnung mit Stalin und dem Stalinismus verlangte, wurde von nationalistischen Kräften dominiert, die die Unabhängigkeit Lettlands und den Abzug der „russischen Besatzer“ forderten. Wadims Eltern, die dem russischsprachigen Bevölkerungsteil angehörten, sahen sich plötzlich angefeindet. Nach der Unabhängigkeit Lettlands 1991 verlor der Vater die Arbeit. Es sollte nur noch lettische Polizisten geben.

Hoffnungsvoll stellte die Familie 1992 in Hamburg einen Antrag auf politisches Asyl. Die wirkliche Demokratie hier, das Mehrparteiensystem imponiere ihm, er möchte hier mit der Familie ein menschenwürdiges Leben beginnen, arbeiten und seine Kinder erziehen, so der Vater in der Begründung des Antrags.

Die erste Station der Familie ist ein Wohnschiff für Asylbewerber. Dann bekommt die vierköpfige Familie eine kleine Einzimmerwohnung zugewiesen. 1995 wird der Asylantrag endgültig abgelehnt. Einen Duldungsstatus erhält die Familie, weil sie nicht zurück nach Lettland abgeschoben werden kann. Der neue lettische Staat will keine „Russen“ als lettische Staatsbürger anerkennen. Sie sind staatenlos.

Im Jahr 1998 vereinbart Deutschland mit Lettland ein Rückführungsabkommen. Ab da, so der Betreuer der Familie, musste die Familie jeden Tag mit Abschiebung rechnen. Die Ungewissheit dauerte bis 2005. Kurz nach Wadims Volljährigkeit stand mitten in der Nacht die Polizei in der Wohnung. Die Mutter, völlig verzweifelt, öffnete sich die Pulsadern und kam in die Psychiatrie, der Vater in Abschiebehaft.

Wadim wurde nach Frankfurt/Main gefahren und in ein Flugzeug gesetzt. Dann stand er in seiner Geburtsstadt Riga: Er hatte zehn Euro in der Tasche, verstand kein Wort lettisch und nur schlecht russisch. Die deutsche Botschaft lehnte Hilfe ab, er sei kein Deutscher. Schließlich kam Wadim in einem Obdachlosenheim unter. Er beantragte die lettische Staatsbürgerschaft. Wie bei 450.000 anderen „Russen“ wurde sie abgelehnt.

Er reist illegal in sein Heimatland Deutschland, versucht später auch in Frankreich und der Schweiz Fuß zu fassen, alles ohne Erfolg. Aus Belgien wird er 2006 abgeschoben. Er findet in Riga Arbeit als Hilfsarbeiter bei einem russischen Unternehmen. Russische Investoren sind in Lettland offenbar willkommen.

Dann kommt die Krise 2008, ein Teil der Belegschaft wird entlassen. Wann wird er dran sein? Wieder reist er nach Deutschland. Die Eltern dürfen nicht mehr abgeschoben werden. Beide sind inzwischen so psychisch krank, dass sie dauerhafte Behandlung benötigen. Die Heimatstadt Hamburg, aus der Wadim so brutal vertrieben wurde, wird seine Endstation.

Die Filmemacher lassen Wegbegleiter Wadims zu Wort kommen, die Eltern, Freunde, Lehrer, eine Sozialarbeiterin, den Anwalt, den gesetzlichen Betreuer der Familie, Wadims erste Liebe und andere. Das Ergebnis ist ein ebenso sensibles wie erschütterndes Dokument darüber, wie eine Familie mit zwei Kindern über den Zeitraum von fast 20 Jahren durch unmenschliche, staatliche Gesetze systematisch zerstört, ihr ein normales Leben vorenthalten wird.

Zu Beginn ist Euphorie und große Hoffnung. Sofort machen sich die Eltern Gedanken über Kindergartenplätze, die Art der Schule, in die die Kinder gehen werden. Die Jungs sollen nicht isoliert von deutschen Kindern aufwachsen. Wadim wird sogar Ministrant in der Kirche.

Die Kinder lernen Musikinstrumente. Wadim ist ein aufgeschlossener, innerlich ausgeglichener Junge mit vielen Freunden.

Doch da wächst auch eine Angst der Eltern, dass die Umgebung erfährt, dass sie Asylbewerber sind und keine Aussiedler. Diese erfahren mehr öffentliche Achtung. Sie dürfen arbeiten. Unter dem Arbeitsverbot leidet besonders der Vater immer stärker.

Der Zustand der ständigen Ungewissheit lässt sich vor den Kindern nicht auf Dauer verbergen. Als er noch klein ist, beginnt Wadim sich zu fragen, warum seine Familie anders ist als die seiner Freunde, wo die Eltern einem Beruf nachgehen und sich etwas leisten können. Die ehemalige Klassenlehrerin aus der Grundschule liest einen kurzen Aufsatz, den Wadim in der 4. Klasse verfasst hat. Er schreibt über sich selbst, über ein Gespenst, das einsam in einer Truhe stirbt.

Immer wieder muss die Aufenthaltserlaubnis verlängert werden. Die Bandbreite für die Verlängerung einer Duldung liege zwischen einer Woche und neun Monaten, so der Anwalt der Familie. Die kurzfristige Verlängerung sei ein bewährtes Druckmittel der Behörde, „über eine freiwillige Ausreise nachzudenken“.

Der Gang zur Ausländerbehörde bedeutet, zwischen vier und fünf Uhr aufzustehen, erklärt die Mutter. Die Kinder muss sie mitnehmen. Bilder aus dem Behördenalltag vermitteln: Die Ausländerbehörde ist kein Hort der Humanität. Vor dem Haus eine Riesenschlange. Der Eingang öffnet sich und die Menschen rennen alle auf einmal los, um eine Warte-Nummer zu ergattern. Wer keine erwischt muss am nächsten Tag wiederkommen. Es wird rücksichtslos gedrängelt, es kommt zu Handgreiflichkeiten. Sicherheitsbeamte schieben und drücken die Menschen zurück. Dazwischen ertönt die barsche Aufforderung, Deutsch zu reden, man sei hier in Deutschland. Nach 1998 muss die Mutter oft mehrmals in der Woche zur Ausländerbehörde.

Noch hofft die Familie auf einen deutschen Pass. Die Mutter ist glücklich, dass Wadim aufs Gymnasium gehen kann. Neben dem Klavierunterricht fängt er an Fagott zu spielen. Aber es beginnen bei der Mutter auch die ganz starken Depressionen und Psychosen, berichtet die ehemalige Sozialarbeiterin. Im Jahr 2001 muss Wadim trotz offensichtlicher Begabung das Gymnasium verlassen und sackt innerhalb eines halben Jahres ab bis in die Hauptschule.

„Stellen Sie sich vor, die Kinder sollen fleißig lernen, aber gleichzeitig haben sie eine Duldung für eine oder zwei Wochen“, so der Betreuer der Familie. „Wenn ich etwas mache, möchte ich wissen wofür, möchte das Ziel meiner Arbeit sehen. (...) Wie kann man lernen und gleichzeitig mit diesem Gedanken leben, es lohnt sich nicht zu lernen. Ich kann jeder Zeit abgeschoben werden.“

Zu guter Letzt lassen die deutschen Behörden Wadim nicht einmal die 10. Klasse beenden. Drei Monate vorher wird er abgeschoben.

Das Warten und die ständige Angst lassen die Familie zerbrechen. Jeden Tag die Gewissheit zu haben, er könnte der letzte sein, 365 Tage im Jahr, das hält keine Psyche aus, so der Betreuer der Familie. Auseinandersetzungen nehmen zu, die Kinder machen dem Vater Vorwürfe für ihre Lage. Die Mutter spürt von den Kindern etwas wie Verachtung. Nach Wadims Tod quälen sie Vorwürfe, versagt zu haben.

Warum dieser völlig sinnlose Tod, fragen sich alle, die mit Wadim zu tun hatten. „Wadim hätte normal leben können.“ Die Familie war alles andere als „integrationsunwillig“. Wadim war integriert.

Nur über Telefon äußert sich der Leiter der Hamburger Ausländerbehörde Ralph Bornhöft. Er verweist auf die seit Jahren gängige Arbeitsteilung zwischen seiner Behörde und der Politik. In der Politik werde „gelabert“, da lehne man sich zurück. „Wir haben (...) zu vollziehen. Wir dürfen die Drecksarbeit machen.“

Bornhöft verweist explizit auf die Grünen, die sich ja früher immer als Beschützer der Flüchtlinge und Asylbewerber hingestellt hätten. Sobald sie an der Regierung seien, änderten auch sie keines dieser Gesetze. Dass er selbst SPD-Mitglied ist, hätte der Film erwähnen können. Bornhöft verkörpert die organische Verbindung von rechter Politik und bürokratischer Härte.

Vielleicht bestand Wadims Unglück ja einfach darin, dass seine Familie nicht reich war, ohne einflussreiche Freunde, ohne ökonomischen und politischen Marktwert. Er war kein russischer Investor, kein populärer Regimekritiker, kein berühmter Schauspieler wie der französische Steuerflüchtling Gérard Depardieu, dem Putin schnell, per Präsidentenerlass, die russische Staatsbürgerschaft verlieh. Wadims Familie wurde wie eine wertlose Ware herumgeschoben, dann irgendwo zwischengelagert, bis man sich ihrer wieder erinnerte und sie gleichgültig vernichtete.

87.000 Menschen leben in Deutschland mit einer Duldung. 60 Prozent davon bereits mehr als sechs Jahre.

Das Rückübernahmeabkommen zwischen Deutschland und Lettland erfolgte 1998 unter der rot-grünen Regierung und trägt unter anderem die Unterschrift des damaligen Bundesinnenministers Otto Schily (SPD).

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Der Film „Wadim“ ist in der Mediathek der ARD abrufbar 

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