Rodtschenko - seine Kunst und sein Schicksal:

Das Experiment geht weiter

Die erste umfassende US-amerikanische Retrospektive der Werke des bedeutenden russischen und sowjetischen Künstlers Alexander Rodtschenko (1891-1956) wird zur Zeit in New York gezeigt. Die Ausstellung kommt anschließend nach Deutschland und Schweden.

Rodtschenko, eins der großen künstlerischen Talente des zwanzigsten Jahrhunderts, hat unter anderem auf den Gebieten Malerei, Bildhauerei, Collage, Fotografie und Design (Buch- und Zeitschriftentitel, Werbung und Plakate) neue Wege beschritten. Er hatte sich in den frühen 20er Jahren international einen Namen gemacht, geriet dann gegen Ende des Jahrzehnts in Konflikt mit der stalinistischen Bürokratie und ihren Lakaien und fristete die letzten 20 Jahre seines Lebens in Vergessenheit und Isolation. Er wurde nicht erschossen - lediglich zum Schweigen gebracht und ausgeschlossen.

Die gegenwärtig laufende Ausstellung leistet mehrere Dinge gleichzeitig. Vom historischen Standpunkt aus verbreitert und vertieft sie das Verständnis einer außergewöhnlichen Generation russischer Künstler. Sie erinnert gleichzeitig an das tragische Schicksal der Kunst und der Künstler unter dem Stalinismus. Die Ausstellung wirft zwangsläufig eine Reihe von ästhetischen und formalen Fragen auf. Und sie zeigt einem großen Publikum eine Sammlung bedeutender und wunderbarer Werke.

Rodtschenko wurde in St. Petersburg geboren. Sein Vater, Sohn eines Leibeigenen, war Bühnenarbeiter in einem Theater und seine Mutter Wäscherin. Zu Anfang des ersten Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts zog die Familie in die Provinzstadt Kasan, wo Rodtschenko später die Kunsthochschule besuchte. Seine lebenslange Partnerin, Warwara Stepanowa (1894-1958), selbst eine bemerkenswerte Künstlerin, traf er 1914 an der Kasaner Schule der Schönen Künste. Nach dem Besuch einer Vorlesung und einer Vorführung der Futuristen David Burliuk, Wassili Kamenski und Wladimir Majakowski im Februar 1914 wurde er Anhänger der futuristischen Bewegung. 1915 zog Rodtschenko nach Moskau, und im März 1916 wurden seine Arbeiten, Linien- und Kreiszeichnungen, im Rahmen einer von Wladimir Tatlin organisierten Ausstellung zusammen mit Werken von Kasimir Malewitsch, Ljubow Popowa, Alexandra Exter, Natascha Udalzowa und Tatlin selbst gezeigt.

Rodtschenko gehörte zu der Minderheit russischer Künstler, die sich nach dem Oktober 1917 mit der neuen revolutionären Regierung identifizierte. Er begann 1918 mit der Arbeit für das Moskauer Büro der Abteilung Bildende Künste (Iso) im Volkskommissariat für Aufklärung (Narkompros). Er wurde in der Folge zum Leiter des Museums-Büros der Iso und seiner wichtigsten Moskauer Einrichtung, dem Museum für Malerei, ernannt. Das Museums-Büro erwarb im Verlauf der nächsten Jahre etwa 2000 Werke moderner Kunst von über 400 Künstlern, außerdem organisierte es 30 Museen in der Provinz.

Nachdem er sich mehrere Jahre lang mit scheinbar rein formalen Experimenten mit Linien, Farben und Strukturen beschäftigt hatte, vollzog Rodtschenko 1921 eine jähe Kehrtwende und identifizierte sich danach fast ausschließlich mit Kunstgewerbe und Kunst im Dienst der gesellschaftlichen Veränderung. Damit begann das Abenteuer, das Konstruktivismus genannt wurde. Eine Erörterung des intellektuellen und psychologischen Hintergrunds dieser Bewegung geht über den Rahmen dieses Artikels hinaus. Wenn man seine Theorie für bare Münze nimmt, dann wies der Konstruktivismus die "künstlerische Inspiration" zurück, verkündete den Tod der Darstellung in der Kunst und erklärte, ab sofort "sollten wir produzieren, bearbeiten und bauen".

Diese Komponente von Ultimatismus im Konstruktivismus wurde von Marxisten bekämpft. Leo Trotzki erklärte: "Wollte man aus lauter Opposition gegen die kontemplative, impressionistische, bourgeoise Kunst der letzten Jahrzehnte die Kunst als Mittel der Darstellung, als anschauliche Erkenntnis ablehnen - es hieße wahrhaft der Klasse, die eine neue Gesellschaft aufbaut, ein Instrument von allergrößter Wichtigkeit aus der Hand schlagen."

Ob man den Konstruktivismus gutheißt oder nicht, ich denke, es wäre falsch Rodtschenkos scharfe Kehrtwende von 1921 als ein Zeichen von Schwäche oder gar Opportunismus zu deuten. Im Gegenteil, seine Fähigkeit auf eine radikal andere Art und Weise, aber mit derselben inneren ästhetischen Energie zu arbeiten, ist für mich der Beweis, über welch außergewöhnlichen kulturellen Talente er verfügte.

Seit Mitte der 20er Jahre widmete sich Rodtschenko immer mehr der Fotografie. Es erscheint angemessen, daß ein Künstler, der so präzise und technisch an die äußere und innere Welt herangeht und der eine andächtige Haltung gegenüber der kulturellen Vergangenheit so sehr ablehnt, sich einer Tätigkeit zuwendet, die, wie Peter Galassi in einem interessanten Artikel im Ausstellungskatalog schreibt, "zu gleicher Zeit Kunst und keine Kunst" ist.

Wenn Rodtschenko, bewußt oder unbewußt, gehofft hatte, daß seine Beschäftigung mit Fotografie, die ein "objektives" und "realistisches" Element beinhaltet, in irgendeiner Weise die Konflikte mit dem sich immer mehr bürokratisierenden Regime verhindern würde, dann wurde er eines anderen belehrt. Galassi vermerkt in seinem Artikel: "Rodtschenko und [sein Freund und Kollege, der Regisseur Dsiga] Wertow glaubten wirklich an die Revolution, an ihr Versprechen von Freiheit und einer neuen Welt, und sie stürzten sich mit einer stürmischen, fast kindlichen Hingabe darauf. Das war die Ideologie ihrer Arbeit. In den späten 20er Jahren war das jedoch eine Interpretation der revolutionären Ideologie, welche die Machthaber nicht länger zulassen konnten."

Im April 1928 wurde Rodtschenko zum erstenmal wegen "bürgerlichem Formalismus" angegriffen, hauptsächlich wegen der ungewöhnlichen Perspektive, aus der heraus er seine Motive fotografierte. Das ist erstaunlich. Die stalinistische Bürokratie zeichnete sich nicht durch eine besondere Gedankentiefe aus. Sie war jedoch höchst empfindlich gegenüber allem, das ihrer Herrschaft gegenüber feindlich oder bedrohlich war. Rodtschenkos Stil, zu dem auch die Tendenz gehörte, Objekte zu verfremden, sie "fremd" erscheinen zu lassen, war äußerst unerwünscht. Nachdem die Angriffe einmal begonnen hatten, hörten sie nicht mehr auf. Rodtschenko gab seine "Fehler" zu und setzte seine Arbeit ohne Zweifel mit dem ehrlichen Vorsatz fort, sich zu bessern, aber unfehlbar kehrte er zu seinen Neuerungen zurück. Die ästhetischen und intellektuellen Prinzipien, die er in der Periode des revolutionären Aufschwungs angenommen hatte, hatten sich zu tief in ihm festgesetzt.

Einige der verbalen Angriffe waren zu absurd, um sie als ästhetische Kritik in irgendeiner sinnvollen Bedeutung des Wortes ernst zu nehmen. Galassi bemerkt, daß die Debatten "von einem zynischen Selbsterhaltungstrieb vergiftet waren, mit dem einzelne und Gruppen die Gunst eines immer totalitäreren Regimes zu erlangen versuchten". So geriet Rodtschenko zum Beispiel in die Schußlinie wegen seiner Fotoserie von Mitgliedern der Pionierbewegung, Mädchen und Jungen im Alter von neun oder zehn bis fünfzehn Jahren. Der Kritiker Iwan Bochanow prangerte eins der berühmtesten von Rodtschenkos Fotos an, eine Nahaufnahme von dem entschlossenen Gesicht eines jungen Mädchens: "Das Pioniermädchen hat nicht das Recht, nach oben zu schauen. Das hat keinen ideologischen Inhalt. Pionier- und Komsomol-Mädchen sollten nach vorne schauen."

Der Künstler "verbrachte die letzten zwei Jahrzehnte seines Lebens isoliert, verbittert, verwirrt, demoralisiert und arm" (Galassi). In einem Tagebuch-Eintrag, der kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs niedergeschrieben wurde, äußert er: "Ich bin absolut nutzlos, ob ich arbeite oder nicht, ob ich lebe oder nicht. Ich bin jetzt schon so gut wie tot, und ich bin der einzige, den es interessiert, daß ich lebe. Ich bin ein Unsichtbarer."

Eine bemerkenswerte Besonderheit der gegenwärtigen Ausstellung ist das außerordentlich hohe ästhetische und intellektuelle Niveau, mit dem Rodtschenko an eine große Zahl von Projekten heranging, (Diese Anerkennung bestimmt nicht a priori die Reaktion auf seine Kunst. Das ist ein Thema für sich, das ich weiter unten erörtern werde.) Ob der Künstler geometrische Figuren in Öl auf Leinwand malt, einen Briefkopf für die staatliche sowjetische Fluggesellschaft entwirft oder Moskauer Straßenszenen fotografiert, man spürt, daß hier ein scharfsinniger Intellekt und ein außergewöhnliches Empfindungsvermögen am Werk sind. Man fühlt, daß die Entscheidungen nicht zufällig getroffen wurden, sondern das Ergebnis sehr ernsthafter ästhetischer, philosophischer und letzten Endes gesellschaftlicher Überlegungen sind.

Der Enkel des Künstlers, Alexander Lawrentjew weist in einem Aufsatz des Katalogs auf die Faszination hin, die der Fortschritt der Wissenschaft und seine Folgen auf Rodtschenko ausübte. Während einer Ausstellung seiner Arbeiten 1920 veröffentlichte Rodtschenko einen Aufsatz, in dem folgendes stand: "In jedem meiner Werke gibt es ein neues Experiment mit einer anderen Wertigkeit als das vorhergehende." Der Titel des Artikels lautete: "Alles ist ein Experiment."

Lawrentjew erklärt, daß Rodtschenko in dieser Periode "versuchte die Gesetze des Aufbaus der physikalischen Welt zu ermitteln. Die Kategorien Raum und Zeit interessierten ihn weniger als philosophische Konzepte, denn als Teile verschiedener astronomischer, geometrischer und psychologischer Modelle der Welt." Er versuchte, die "physikalischen, biologischen und konzeptionellen Bausteine der Welt, die prima materia ihres Aufbaus" zu enthüllen. Die Vorstellung, daß die (unendliche) Zahl von Punkten auf irgendeinem Teil einer Linie gleich sei mit der unendlichen Zahl an Punkten, aus der das gesamte Universum besteht, erfüllte Rodtschenko offensichtlich mit der Hoffnung, daß "seine eigenen [linearen] Konstruktionen ihm erlauben würden, einen Blick in die Tiefen von Zeit und Raum zu werfen".

Ob diese fast schon mystische Suche irgendwo verfehlt war, ist nicht entscheidend. Die Zielstrebigkeit und der Schwung, mit denen der Künstler seine Ziele verfolgte, berühren und erstaunen. "Ich bin dermaßen an der Zukunft interessiert", schrieb er 1920, "daß ich auf der Stelle gleich mehrere Jahre in die Zukunft sehen möchte."

Rodtschenko war eine bemerkenswerte Persönlichkeit, aber ähnlich ernsthafte Problemstellungen bewegten eine beträchtliche Zahl russischer Künstler aus dieser Zeit. Feinde des Marxismus führen das armselige Argument an, daß Künstler wie Malewitsch, Tatlin und andere schon vor der Oktoberrevolution wichtige Arbeit geleistet hätten, von daher sei der Einfluß der Revolution auf das künstlerischen Leben ohne größeren Belang. In der Tat wäre es extrem vereinfachend, sämtliche Errungenschaften der frühen 20er Jahre direkt der Machtergreifung der Bolschewiki zuzuschreiben, so welterschütternd dieses Ereignis auch war.

Es ist wahrscheinlich viel sinnvoller, Persönlichkeiten wie Rodtschenko sowohl als Ergebnis als auch als Urheber einer revolutionären Epoche zu betrachten, die ihren höchsten Ausdruck in der Oktoberrevolution fand, einem Ereignis, das dann einen enormen Impuls für weitere Experimente und Neuerungen lieferte. Den Stalinismus kann man als konterrevolutionäre Reaktion auf diese historische Entwicklung sehen.

Ich verspüre durchaus unterschiedliche Reaktionen auf die verschiedenen Phasen von Rodtschenkos Werk und die vielfältigen Medien, mit denen er arbeitet. Die Bilder mit geometrischen Figuren lassen mich im großen und ganzen kalt, obwohl sie hervorragend ausgeführt sind. Tatsächlich erscheinen seine frühen Ölbilder so streng und schlicht, daß sie kaum eine gefühlsmäßige Reaktion erlauben - was zweifellos beabsichtigt war. Bevor man jedoch angesichts einiger dieser Werke ausruft: "Ein bißchen menschlicher, bitte!" sollte man die furchtbar schwierigen Bedingungen berücksichtigen, unter denen der Künstler und seine Kollegen arbeiteten. (Dabei lassen wir die ungelösten ideologischen Fragen im Rahmen dieser Besprechung beiseite.)

"Unsere Generation schwingt die Axt", schrieb Trotzkis. Er erklärt in demselben Werk: "Kunst benötigt Komfort, sogar Überfluß." Rodtschenko war 22 Jahre alt, als der erste Weltkrieg ausbrach. Die Oktoberrevolution und der Bürgerkrieg von 1918 bis 1921 folgten. Wir wissen, daß Rodtschenko zu der Zeit, als er seine berühmten "Schwarz in Schwarz"-Bilder malte, unter Bedingungen lebte, in denen er fast verhungerte. Die Revolution, einschließlich ihrer ungeheuren Entbehrungen, war zweifellos inspirierend, sie bedeutete aber auch eine harte Strapaze für das Nervensystem, dessen Stabilität und Gesundheit für die Arbeit eines Künstlers wesentlicher ist als für die Arbeit eines Wissenschaftlers oder politischen Führers.

Im Jahr 1924 begann die Degenerationskrankheit, die als Stalinismus bekannt wurde, den sowjetischen Organismus zu erfassen. Kurz gesagt wurde keinem der großen sowjetischen Künstler der Luxus eines künstlerischen Lebens gestattet, das sich organisch und natürlich entwickelt. Wir verfügen über ein großartiges, aber nur kurzes Aufleuchten dessen, zu dem sie fähig gewesen wären.

Rodtschenkos frühe Werke sind formal hervorragend, aber ein wenig unnahbar. Meiner Ansicht nach entwickelte er seine Fähigkeiten in einer umfassenderen Weise in seinen Fotomontagen. Seine Illustrationen zu Majakowskis "Über dieses (Pro eto)" (1923) sind unwiderstehlich. Er machte eine Collage aus Fotos des Dichters, dessen Freundin, Lily Brik, und verschiedenen aus Zeitschriften geschnittenen Motiven und schuf damit die visuelle Entsprechung von Majakowskis schmerzbeladenen, tragikomischen Versen. Als Illustration zu den Zeilen: "Ich halte mir die Ohren zu / umsonst! / ich höre / meine / meine eigene Stimme / das Messer meiner Stimme schneidet durch meine Hände" hat Rodtschenko zum Beispiel folgende Collage arrangiert: Majakowski, etwa 15 m groß, in schwermütiger Haltung auf einer Brücke stehend, eine arktische Eiswüste mit Polarbären als Hintergrund, eine weitere Aufnahme des Dichters in normaler Größe, wie er den Kopf in den Händen hält, und ein Boot, das anscheinend durch das Eiswasser rast.

Die beiden Künstler begannen mit ihrer Zusammenarbeit in der Periode der NEP, um Reklame für eine Reihe von Staatsbetrieben und deren Waren und Dienstleistungen zu machen. In der Ausstellung findet man eine wunderbare Auswahl davon. Rodtschenko schuf das Design für die Verpackungen und Majakowski schrieb den Werbetext. Eine Schachtel von Krasnyi Aviator- (Rote Flieger)-Keksen war zum Beispiel mit einer Botschaft bedruckt, welche die feindlichen Armeen vor der Unbesiegbarkeit der Roten Luftstreitkräfte warnte. Der Text endet mit den Zeilen: "Unsere Flugzeuge fliegen höher. / Wir verbreiten diese Ansicht überall / selbst auf Bonbons: / Wenn der Himmel uns gehört / wird der Feind wegkriechen wie eine Krabbe." Eine Werbung für Trechgornoje-(Drei Gipfel)-Bier von 1925 lautete: "Trechgornoje-Bier vertreibt Heuchelei und Unfug".

Rodtschenko schuf, wie es ein amerikanischer Besucher in den 20er Jahren formulierte, "eine beängstigende Vielfalt an Dingen": Buch- und Zeitschriften-Titel, Lesezeichen, Schmuck für die staatliche Fluggesellschaft, Filmplakate... Die Ausstellung zeigt auch eine Rekonstruktion des Arbeiterklubs der UdSSR, den er für die "Exposition International des Arts Décoratifs et Industriels Modernes" 1925 in Paris entworfen hatte. (Von ihm stammte auch der Umschlag des sowjetischen Katalogs für diese Ausstellung.) Der Klub war, wie einer der Organisatoren der gegenwärtigen Ausstellung es ausdrückte: "Eine neue, nachrevolutionäre Einrichtung, ein Volksgebäude, das sowohl politische Aufklärung als auch Entspannung und Regenerierung am Ende eines Arbeitstages bieten sollte."

Rodtschenkos Fotografien machen etwa die Hälfte der Ausstellung aus. Seine größten Leistungen hat er wahrscheinlich auf diesem Gebiet erbracht. Das "Prinzip des Kontrapunkts", wie ein Kritiker es nannte, scheint hier zur Anwendung gekommen zu sein. In einem kälteren, technischeren Medium kann sich Rodtschenko erlauben, am wärmsten und menschlichsten zu sein. Seine Aufnahmen von Majakowski aus dem Jahr 1924, auf denen ein finsterer, äußerst verletzlicher Mensch zu sehen ist, sind großartig. Dasselbe gilt für das Porträt seiner alternden Mutter, ebenfalls von 1924.

Rodtschenkos Einstellung zu den politischen Tagesfragen ist nicht bekannt, zumindest mir nicht. Erwähnenswert ist, daß auf mindestens zwei der 25 lithographischen Poster, die die "Geschichte der WKP (B) [Allrussische Kommunistische Partei (Bolschewiki)] illustrieren sollte, Trotzki zu sehen ist. Er erhielt den Auftrag dazu 1925-26. Eins dieser Fotos aus dem Jahr 1927 zeigt einen großen Stapel von Akten auf einem Schreibtisch, die die Aufschrift tragen: "Nieder mit der Bürokratie".

Die Ausstellung zeigt ausgewählte Bilder aus den Serien: "Die Bauarbeiten an der Mjasnizkaja-Straße", seine Aufnahmen von Pionieren (1928-30), die AMO-Automobilfabrik (1929), das Wachtan-Sägewerk (1930) und seine Fotoberichterstattung vom Bau des Kanals zwischen dem Weißen Meer und der Ostsee (1933), ein Projekt das von Strafgefangenen mit einem hohen Preis an menschlichen Opfern durchgeführt wurde.

Mir sind zwei Fotos von Warwara Stepanowa als ungeheuer ausdrucksvoll und prägnant aufgefallen. Das erste, das 1924 aufgenommen wurde, zeigt eine lebendige, braunhaarige Frau mit rundem Gesicht, die eine Zigarette in der einen Hand hält, ihre andere Hand liegt in ihrem Nacken. Sie zeigt ein leichtes skeptisches Grinsen, als ob sie sagen wollte: "Was glaubst Du, was Du da machst?" Ihr Haar ist ungekämmt und ihre Kleider und ihr Gesicht sehen ein wenig ungepflegt aus, obwohl das auch einfach die Wirkung der Beleuchtung sein könnte. Auf jeden Fall sieht es so aus, als mache sie eine Pause während ihrer Arbeit.

Das zweite Bild ist von 1936. Es ist ein Foto von derselben Frau, obwohl man sie nicht wiedererkennen würde. Sie ist für einen Ausgang gekleidet, mit einem Stoffmantel und einem Hut, den sie über ein Auge heruntergezogen hat. Sie blickt nach unten. Ihr Gesichtsausdruck? Er enthält Verwirrung, Niedergeschlagenheit, Resignation. Das Licht, das von einem Gitterfenster hinter dem Fotografen auf Stepanowa fällt, wirft einen waagerechten Schatten durch die Mitte ihres Gesichts und einen senkrechten Schatten entlang der linken Seite ihres Körpers. Mit anderen Worten, sie scheint hinter Gittern zu sein. Es ist eins der erschreckendsten Fotos, das ich kenne.

Die Zeitspanne zwischen den Fotos von 1924 bis 1936 betrug nur 12 Jahre, etwas mehr als ein Jahrzehnt, aber genug Zeit, damit das Jahrhundert seinen Tiefststand erreichen konnte.

Die Ausstellung ist faszinierend. Besuchen Sie sie, wenn sie in Ihrer Nähe gezeigt wird.

Alexander Rodtschenko
New York City, The Museum of Modern Art, 25. Juni bis 6. Oktober 1998
Kunsthalle Düsseldorf vom 6. November 1998 bis 24. Januar 1999
Stockholm, Moderna Museet, 6. März bis 24. Mai 1999

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