»Schulreform« im Rückwärtsgang - Die teilweise Aufhebung der Koedukation

Die teilweise Aufhebung der Koedukation

Die Länder Nordrhein-Westfalen, Berlin und Schleswig-Holstein haben die »reflexive Koedukation« nach einer Modellphase in den Regelunterricht überführt. Demnächst werden Mädchen und Jungen in bestimmten Fächern und für eine bestimmte Zeit getrennt unterrichtet.

Was ist der Grund, daß eine für die Gleichberechtigung der Geschlechter offensichtliche Voraussetzung eingeschränkt wird?

Mit der Einführung der Koedukation, dem gemeinsamen Unterricht von Jungen und Mädchen, war bereits in den 50er Jahren begonnen worden. Nach der flächendeckenden Einführung in den 60ern galt die »Koedukationsdebatte« als abgeschlossen. Trotz der ständigen Angriffe einer Handvoll Erzkonservativer sowie verschiedener Bemühungen von Feministinnen gegen die Koedukation in den 70er und 80er Jahren, wurde der gemeinsame Unterricht als fortschrittliche pädagogische Errungenschaft angesehen. Erst Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre wurde die Debatte von neuem entfacht.

Die Grundlage waren empirisch gewonnene Ergebnisse, die angeblich belegten, daß Koedukation die geschlechtsrollenkonforme Interessensentwicklung, Berufs- und Lebensplanung begünstigt. Die Erhebungen zeigten, daß – grob gesagt – auf gemeinschaftlichen Schulen Mädchen seltener im Abitur Mathematik oder ein naturwissenschaftliches Fach wählen als auf reinen Mädchenschulen. Auch Leistungsunterschiede (in Form von Zensuren) zu Ungunsten der Mädchen in den entsprechenden Fächern stellte man fest. Bei getrenntem Unterricht waren die Zensuren besser.

Diese Ergebnisse bildeten den Ausgangspunkt für mehrere Modellversuche, die schließlich in den Erlassen der drei Bundesländer mündeten, teilweise und zeitlich befristet die Koedukation, insbesondere in Mathematik, Informatik und den Naturwissenschaften aufzuheben.

Doch nicht nur die inzwischen größer gewordene Gemeinde der Erzkonservativen jubelt, die zurück zum Jungengymnasium und zur Mädchenrealschule wollen, auch nicht nur die kleiner gewordene Gemeinde der Feministinnen, die das weibliche Geschlecht von den schädlichen Einflüssen des männlichen fernhalten wollen. Breite Teile derjenigen, die in den letzten Jahrzehnten zumindest offiziell für die Gleichberechtigung der Frau eintraten, unterstützen ebenfalls die reflexive Koedukation. So mutieren in einem Kommentar in der den Grünen nahestehenden taz Jungen von zehn oder elf Jahren von »Buben« über »Schlauberger« und »kleine Männer« bis hin zu »Machos«: »Es ist gut, die kleinen Machos ab und zu von den Mädchen zu trennen.«

Der Grund für diese Wandlung ist, daß die Gleichberechtigung der Geschlechter nicht vom sozialistischen Standpunkt angegangen wird, als Bestandteil der Schaffung umfassender sozialer Gleichheit aller Menschen gleich welchen Geschlechts, sondern als Reform im Rahmen der bestehenden kapitalistischen Gesellschaft. Diese Gesellschaft, die insgesamt auf sozialer Ungleichheit, Ausbeutung und Unterdrückung beruht, läßt aber keine Gleichberechtigung der Geschlechter zu. In den 60er und 70er Jahren, als auch die Frauen vom allgemeinen Anstieg des Lebensstandards profitierten und zunehmend Berufe ausübten, war dies nicht so offensichtlich. Heute sind es wieder die Frauen, die am schärfsten von der allgemeinen sozialen Polarisierung betroffen sind und in ihre alte Rolle an Heim und Herd zurückgedrängt werden.

Die Betrachtung breiter angelegter empirischer Erhebungen macht deutlich, daß die an den Schulen auftretenden Probleme nicht die Ursache, sondern lediglich ein Ergebnis der gesellschaftlichen Benachteiligung der Frau sind.

So stellt die Studie »Bildungsverläufe und psychosoziale Entwicklung im Jugendalter« (BIJU) keine geschlechtsspezifischen Leistungsunterschiede in den Mathematikleistungen bis zum Ende des 7. Schuljahres fest. Nach der 10. Klasse gibt es aber diese Unterschiede, die angeblich das bessere mathematische Verständnis von Männern darlegen. Es ist offensichtlich, daß in dieser Zeit nicht urplötzlich ein genetisch bedingter Verlust bei Mädchen einsetzt, sondern ein sozialer Prozeß stattfindet: sie werden zu Frauen. Und da haben sie sich in bestimmte vorgelebte und propagierte Rollen zu fügen. Unter anderem gehört dazu, ein geringeres Interesse an Mathematik und Naturwissenschaften zu zeigen, da Berufe, die diese Kenntnisse verlangen, ohnehin den Männern vorenthalten sind. Die Gesellschaft – auch die Schule – fördert dies. So bescheinigt die gleiche Studie (BIJU), daß Mädchen im gemeinschaftlichen Unterricht nicht gleichbehandelt werden. Sie werden seltener aufgerufen und beim Reden öfter unterbrochen, von Lehrern und Mitschülern. Lehrer halten mehrheitlich Schüler mit guten Noten für »aufgeweckt und intelligent«, Schülerinnen mit guten Noten für »ordentlich und fleißig«.

Anstatt das Übel an der Wurzel zu packen und für eine Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse einzutreten, die die Benachteiligung der Frau hervorbringen, fallen die Verfechter der reflexiven Koedukation vor vollendeten Tatsachen in die Knie. Sie treten für die getrennte Erziehung von Jungen und Mädchen ein und verewigen damit das Problem, das sie angeblich lösen wollen.

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