Rekordenthaltung und sozialdemokratische Verluste in der Europawahl

Das Ergebnis der Europawahlen, die am vergangenen Wochenende in den fünfzehn Mitgliedsstaaten der Europäischen Union stattfanden, hat die tiefe Kluft sichtbar gemacht, die zwischen der Masse der europäischen Bevölkerung und ihren offiziellen politischen Vertretern besteht.

Noch nie seit 1979, seit das Europäische Parlament direkt gewählt wird, war die Wahlbeteiligung so niedrig. In Deutschland und Frankreich gingen weniger als die Hälfte, in Großbritannien noch nicht einmal ein Viertel der Wahlberechtigten an die Urnen - ein historischer Tiefstand für eine nationale Wahl.

Kommentatoren haben dies auf "mangelndes Interesse für Europa!" zurückgeführt. In der Tat genießt das europäische Parlament, dessen politischer Einfluß in umgekehrtem Verhältnis zu den lukrativen Diäten und Privilegien seiner Abgeordneten steht, wenig öffentliches Ansehen. Trotzdem kann die Abneigung gegen die verfilzten Institutionen der EU das Wahlergebnis nur sehr bedingt erklären. In viel größerem Maße ist es eine Absage an die Politik der sozialdemokratisch geführten europäischen Regierungen.

Das wird allein schon daran deutlich, daß die sozialdemokratischen Parteien, die in dreizehn der fünfzehn EU-Staaten in der Regierung sitzen oder diese führen, im neuen Europaparlament nur noch über 180 der insgesamt 626 Mandate verfügen. In der vergangenen Legislaturperiode waren es noch 214 gewesen. Am spektakulärsten war der Einbruch der Sozialdemokraten in Großbritannien und in Deutschland.

In Deutschland erlebte die SPD neun Monate nach ihrem Sieg in der Bundestagswahl ein regelrechtes Debakel. Sie verlor rund 10% und erreichte gerade noch 31% der Stimmen. In absoluten Zahlen sieht das Ergebnis noch verheerender aus: Hatten im vergangenen Herbst noch über 20 Millionen Wähler für die SPD gestimmt, waren es jetzt nur noch 8,3 Millionen. Die Grünen konnten ihren Stimmenanteil im Vergleich zur Bundestagswahl mit 6,4% knapp halten, verloren aber in absoluten Zahlen ebenfalls 700.000 Stimmen. Bei der letzten Europawahl 1994 hatten sie noch über 10% erreicht.

Große Gewinner der Wahl in Deutschland waren CDU und CSU, die zusammen 49% der Stimmen und die absolute Mehrheit der Sitze eroberten. Der CDU-Vorsitzende Schäuble wertete dies als eine Bestätigung konservativer Politik und als Aufforderung an die Regierung, einen deutlich rechteren Kurs einzuschlagen - was von den Medien eifrig unterstützt wurde.

Betrachtet man das Wahlergebnis genauer, drängen sich allerdings ganz andere Schlußfolgerungen auf. Trotz ihres spektakulären Wahlsiegs konnten die Konservativen keine neuen Wähler hinzu gewinnen. Sie erhielten sogar sechs Millionen Stimmen, d.h. rund ein Drittel weniger als in der Bundestagswahl. Es ist offensichtlich, daß die Union keine Wähler von der SPD hinzu gewonnen hat, sondern ihren Erfolg ausschließlich der Tatsache verdankt, daß sich zahlreiche SPD-Wähler der Stimme enthalten haben.

Auch der Grund dafür ist naheliegend. Es gibt in der Bevölkerung eine breite Opposition gegen die deutsche Teilnahme am Kosovo-Krieg, die sich bis in die Reihen der SPD und der Grünen hinein äußerte. Auch Schröders Rechtswende in der Finanz- und Sozialpolitik trifft insbesondere seit dem Rücktritt Lafontaines zunehmend auf Ablehnung. Diese Ablehnung konnte sich in der Wahl nur durch Stimmenthaltung äußern. Eine Unterstützung der PDS, die sich als einzige Partei gegen den Krieg aussprach, lehnen die meisten SPD-Wähler ab. Trotzdem gelang es der PDS, erstmals die Fünfprozenthürde zu überwinden und ins Europaparlament einzuziehen.

Im Gegensatz dazu bekam die FDP nur noch 3% der Stimmen. Die Partei, die von 1969 bis 1998 ununterbrochen in der Bundesregierung saß und den Außenminister stellte, wurde auf den Status einer Splitterpartei reduziert. Sie vertritt als einzige Partei in Deutschland uneingeschränkt ein neoliberales Wirtschaftsprogramm und wirft Schröder inzwischen mit einer gewissen Berechtigung vor, er habe ihr Programm gestohlen. Ihr Wahlergebnis zeigt, wie unpopulär dieses Programm ist.

All das konnte Schröder allerdings nicht daran hindern, als Antwort auf das Wahlergebnis eine weitere politische Rechtswende anzukündigen. Er werde, sagte er, nun in der Innenpolitik ebenso konsequent handeln wie in der Außenpolitik. Man kann das nur als Drohung empfinden: Dem Krieg gegen Jugoslawien folgt nun der Krieg gegen die Arbeiterklasse.

In Großbritannien lag die Wahlbeteiligung mit 23% noch 10% unter dem bisherigen Tiefststand bei der Europawahl von 1984. Zwei Jahre nach ihrem spektakulären Wahlsieg mußte die Labour Party den konservativen Tories wieder den Vortritt lassen. Sie sackte von 44 auf 28% ab und gewann 29 Sitze, die Tories dagegen 36 und die Liberaldemokraten 10. Weitere Sitze gingen an die UK Independence Party (3), die aus der EU austreten will, an die schottischen (2) und die walisischen (2) Nationalisten und an die Grünen (2).

Auch hier profitierten die Konservativen hauptsächlich von der massiven Wahlenthaltung der Labourwähler. In den konservativen Hochburgen lag die Wahlbeteiligung in der Regel um 10% höher als in den Labour-Hochburgen.

Die Abwendung von Labour beschränkte sich nicht auf die Europawahlen. Bei einer Nachwahl zum Unterhaus in Leeds, die zeitgleich mit den Europawahlen stattfand, gaben weniger als 20% der Berechtigten ihre Stimme ab, die niedrigsten Wahlbeteiligung seit dem Zweiten Weltkrieg. Der Labourkandidat Hilary Benn gewann mit einem Vorsprung von knapp 3000 Stimmen; sein verstorbener Vorgänger hatte es 1997 noch auf 20.000 gebracht.

Labour bestritt die Europawahl als Plebiszit über Blairs Führungsanspruch in Großbritannien. Sie hoffte, ebenso vom "Kosovo-Faktor" profitieren zu können, wie dies Thatcher 1983 vom Falkland/Malvinas-Krieg getan hatte. Das Gegenteil trat ein, was deutlich macht, wie gering die öffentliche Unterstützung für den Krieg war, auch wenn es keine gezielte politische Opposition dagegen gab.

Die Wahlkampfmanager schoben die Schuld für die Niederlage den Wählern zu. Sie seien zu "selbstzufrieden" und interessierten sich nicht für die Wahlen. Innenminister Straw will deshalb sofort die Wahlgesetze ändern: Wahlen sollen in Zukunft drei Tage dauern und in Supermärkten stattfinden.

Im Gegensatz zu Großbritannien und Deutschland konnten die Regierungsparteien in Frankreich und Italien ihren Stimmenanteil weitgehend halten. Das verdanken sie allerdings weniger eigener Stärke, als der Zersplitterung der rechten Opposition.

In Frankreich erreichte die Liste der Sozialisten von Regierungschef Jospin, auf der noch zwei kleinere Parteien kandidierten, gerade 22%, und das bei einer Wahlbeteiligung von nur 47%. Das reichte aus, um sie zur stärksten Fraktion zu machen. Das Regierungslager insgesamt, zu dem noch die Grünen und die Kommunisten gehören, kam auf 38%.

Die Kommunistische Partei unter Robert Hué erreichte wie schon vor fünf Jahren nur knapp 7%. Sie wurde beinahe von der gemeinsamen Liste von Lutte Ouvrière und Ligue Communiste Révolutionnaire eingeholt, die sich beide auf den Trotzkismus berufen. Sie überschritten erstmals die Fünf-Prozenthürde und ziehen mit fünf Abgeordneten ins Europaparlament ein.

Als eigentliche Wahlsieger gelten die Grünen, die mit dem Studentenführer von 1968, Daniel Cohn-Bendit an der Spitze die Kommunisten überholten und auf 10% der Stimmen kamen. Cohn-Bendit, der seit langem bei den deutschen Grünen aktiv ist und als politischer Ziehvater von Außenminister Fischer gilt, hatte den Wahlkampf mit einer Mischung von Medienshows und politischen Provokationen geführt, wobei er heftig für den Kosovo-Krieg eintrat und für den Einsatz von Bodentruppen warb.

Großer Verlierer der Wahl ist Staatspräsident Jacques Chirac. Seine gaullistische Partei kam nur noch auf 13% und landete hinter einer antieuropäischen Abspaltung, geführt vom ehemaligen Innenminister Charles Pasqua und dem Rechtsaußen Philippe de Villiers, auf Platz drei. Auch die UDF, traditioneller Koalitionspartner der Gaullisten, kandidierte diesmal mit einer eigenen Liste und erreichte 9%.

Die faschistische Nationale Front, die sich im vergangenen Jahr in zwei konkurrierende Parteien gespalten hatte, mußte ebenfalls Stimmenverluste hinnehmen. Der Flügel Jean-Marie Le Pens, der weiterhin den Namen Nationale Front trägt, zieht mit 6% wieder ins Europaparlament ein. Die Nationale Bewegung seines Rivalen Bruno Mégret bleibt mit 4% draußen. Bei der letzten Europawahl war die Nationale Front noch auf 11% gekommen.

Wie sehr es auf der französischen Rechten gärt, zeigt auch die Tatsache, daß die Partei der Jäger, in der sich rechte Elemente vom Lande sammeln, überraschend 7% erreichte, dasselbe Ergebnis wie die Kommunistische Partei, und ins Europaparlament einzieht.

Ähnlich wie in Frankreich sind auch in Italien Regierungslager und Opposition in sich gespalten und zerstritten. Hier war die Wahlbeteiligung mit über 80% relativ hoch. Alle größeren Parteien mußten im Vergleich zur Europawahl 1994 Stimmen an kleinere Rivalen abgeben, die weniger eine grundsätzliche Opposition als Versuche darstellen, durch neue politische Kombinationen neue Lager und Blöcke zu schaffen.

Größte Fraktion wurde mit 25% die Forza Italia von Medienzar Silvio Berlusconi. Sie büßte gegenüber 1994 allerdings 5% ein. Berlusconis ehemalige Regierungspartner, die neofaschistische Nationale Allianz und die separatistische Lega Nord, verloren jeweils 2% und kamen auf 10%, bzw. 5%.

Die Demokratischen Sozialisten von Regierungschef Massimo d'Alema setzten ihren kontinuierlichen Abstieg fort und erreichten nur noch knapp 18%, 1% weniger als vor fünf Jahren. Die größten Verluste mußte die christdemokratische Volkspartei einstecken, sie fiel von 10% auf 4%. An ihre Stelle treten die Liste der EU-Kommissarin Bonino, die sich von 2% auf 9% steigerte, und die Demokraten des designierten EU-Präsidenten Prodi, die auf Anhieb 8% gewannen. Prodi hatte die Demokraten gegründet, um den Demokratischen Sozialisten die Vorherrschaft im Regierungsbündnis abspenstig zu machen; gemeinsam mit der Liste Bonino und der Volkspartei ist er ihnen nun nahezu ebenbürtig.

Die Neokommunisten, die sich über die Frage der Regierungsbeteiligung gespalten hatten, konnten leicht an Stimmen zulegen. Die Neugegründeten Kommunisten, die außerhalb der Regierung stehen, kamen auf 4,3%, die Italienischen Kommunisten, die in der Regierung sitzen, 2%. Zusammen verfügen sie jetzt über 6 anstatt wie bisher über 5 Sitze.

Betrachtet man die Ergebnisse in den 15 EU-Staaten insgesamt, so ergibt sich kein einheitliches Bild. Während in einigen Ländern die Frage "für oder gegen die EU" stark polarisierte - wie in Großbritannien, unter der französischen Rechten oder in Dänemark, wo die Europa-Gegner überraschend vier der 16 Sitze gewannen -, dominierten in anderen Ländern vorwiegend nationale Fragen.

In Belgien, wo parallel zu den Europawahlen nationale Wahlen stattfanden, mußten die regierende Koalition aus Christdemokraten und Sozialdemokraten hohe Verluste hinnehmen, während die Liberalen und im flämischen Landesteil auch der rechtsextreme Flämische Block stimmen hinzugewannen.

In den Niederlanden verloren die Regierungsparteien - Sozialdemokraten und Liberale - und die oppositionellen Christdemokraten, während am linken Rand die aus der Kommunistischen Partei hervorgegangene GroenLinks und die ehemals maoistische Sozialistische Partei stark an Unterstützung gewannen. GroenLinks steigerte sich von 4% vor fünf Jahren auf 12%, die Sozialistische Partei erreichte auf Anhieb 5%. Zusammen verfügen sie über 5 Sitze im Europaparlament, einen weniger als die Arbeiterpartei von Regierungschef Wim Kok.

In Spanien blieb die regierende Volkspartei stärkste Fraktion, die oppositionellen Sozialisten zogen aber fast gleich, auf Kosten der aus der Kommunistischen Partei hervorgegangenen Vereinigten Linken, die von 14% auf 6% absackte und 5 ihrer 9 Sitze verlor.

In Österreich konnten die regierenden Sozialdemokraten und Christdemokraten leicht zulegen und einen Sitz gewinnen, während die Freiheitlichen Jörg Haiders einen Sitz verloren und hinter den beiden Regierungsparteien wieder deutlich an die dritte Stelle rückten.

Insgesamt ist die europäische Lage von starker politischer Instabilität gekennzeichnet, deren tiefere Ursache die wachsende Entfremdung zwischen dem politischen Establishment und der Masse der arbeitenden Bevölkerung ist. Mit der Einführung des Euro und den finanziellen und politischen Folgen des Kosovo-Kriegs werden sich die sozialen Spannungen noch weiter verschärfen.

Siehe auch:
Krise in der Europäischen Union
(18. Januar 1999)
Die Einführung des Euro birgt erhebliche wirtschaftliche und soziale Konflikte
( 23. Januar 1999)
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