Eine bundesdeutsche Scharade

Die Pläne des Stiftungsfonds der deutschen Wirtschaft zur Entschädigung ehemaliger NS-Zwangsarbeiter

Das Wort "Scharade", aus dem Französischen kommend, bedeutet: Worträtsel, bei dem das Lösungswort in Silben zerlegt wurde. Hier nun lautet das zu erratende Wort "Zwangsarbeiterentschädigung". Doch wenn man die dazu vorliegenden Bruchstücke an Information zusammensetzt, ergibt sich ein anderer Begriff.

Der Stiftungsfonds zur Entschädigung von NS-Zwangsarbeitern war Anfang dieses Jahres nach einem Treffen zwischen Bundeskanzler Schröder und Vertretern der Wirtschaft eingerichtet worden. Beteiligt sind zur Zeit 16 Unternehmen, z.B. DaimlerChrysler, Volkswagen, Siemens, BMW, Deutsche und Dresdner Bank. Nach über fünfzig Jahren des Verdrängens, Totschweigens und Leugnens sollen also endlich die wenigen noch lebenden NS-Opfer für ihre Zwangsarbeit entschädigt werden?

Am 10. Juni wurde das Konzept für den Stiftungsfonds bekannt. Laut DaimlerChrysler-Vorstand Manfred Gentz bringe es zum Ausdruck, daß die deutschen Unternehmen ihre moralische Verpflichtung anerkennen, weil sie mit ihren Aktivitäten in das Unrechtsregime - besonders im Rahmen der Kriegswirtschaft - eingebunden waren.

Was ist dran an diesem "moralischen Verpflichtungsanerkenntnis"?

Schon Schröders Erklärung vom 16. Februar rückt Gentz` Worte in ein anderes Licht. Er verkündete damals, es gehe darum, "Kampagnen gegen den Ruf unseres Landes und unserer Wirtschaft den Boden zu entziehen, damit die deutsche Wirtschaft ungehindert ihrer Arbeit nachgehen kann." Auch die Äußerung Gentz‘ vom 10. Juni, die Initiative der Unternehmen sei freiwillig, scheint bei genauerem Hinsehen nicht ganz der Wahrheit zu entsprechen.

Bereits in zurückliegenden Entschädigungsverhandlungen ging es vor allem um die Zusicherung der Washingtoner Regierung, juristische Alleingänge und einseitige Sanktionen gegen ausländische Unternehmen oder Länder seitens der Bundesstaaten nicht mehr zu dulden. Insbesondere in den Bundesstaaten New York und Kalifornien hatten die Aufsichtsbehörden für Finanzinstitutionen mit Sanktionen gegen deutsche Banken und Versicherungsunternehmen gedroht, um Druck auf die Unternehmen auszuüben und sie zum Zahlen zu zwingen. Auch die zahlreich vorliegenden Sammelklagen amerikanischer Rechtsanwälte gegen deutsche Unternehmen dürften ein nicht geringes Motiv bei der "freiwilligen Initiative der Unternehmen" darstellen. Besonders beruhigend wirkt sicherlich auch nicht die Drohung etwa des US-Anwaltes Ed Fagan, in dessen Händen sich Unterlagen über Siemens, die Deutsche Bank und ein BMW-Zwangsarbeiterlager befinden, die er frei zugänglich machen könnte: "Wenn sie [die deutschen Unternehmen] weitermachen und denken, wir haben nicht die nötigen Dokumente, um sie zu kreuzigen, sind sie verrückt."

Hatte M. Gentz nicht gerade erst betont, daß es nach Ansicht der Unternehmen "keine Rechtsansprüche gegen sie" gebe?

Von den geschätzten zehn Millionen ehemaligen Zwangsarbeitern leben noch höchstens 1,7 Millionen. (Allein 1944 hat es nach Schätzungen etwa 5,5 Millionen deportierte Zwangsarbeiter und eine halbe Million KZ-Häftlinge gegeben.) Entsprechend des vorliegenden Konzeptes sollen die heute noch Lebenden mit einer Einmalzahlung aus dem Fonds abgespeist werden. Und auch dies nur unter umfangreichen Einschränkungen:

Angehörige können demzufolge keine Ansprüche geltend machen, und Überlebende nur dann, wenn sie zum heutigen Zeitpunkt "bedürftig" sind und auf weitergehende Ansprüche unwiderruflich verzichten. Ferner gehört zu den vorgesehenen Zahlungsbedingungen, daß sie damals nicht als Kriegsgefangene den Nazi-Schergen in die Hände gefallen waren. Sie müssen "als KZ-Häftlinge oder unter Haft-, Ghetto- oder ähnlichen Lagerbedingungen" mehr als sechs Monate in deutschen Privatunternehmen zwangsgearbeitet haben. Wer weniger als ein halbes Jahr lang gepeinigt wurde, bleibt außen vor. Auch Zwangsarbeiter in der Landwirtschaft oder bei Kommunen sollen nicht anspruchsberechtigt sein. Letzterer, so die Industrie, habe sich eine noch zu gründende Bundesstiftung anzunehmen.

Der Entwurf der Stiftungsinitiative sieht weiter vor, die NS-Zwangsarbeiter gemäß der Schwere ihres Einsatzes und ihres heutigen Wohnsitzes unterschiedlich abzufinden. Bei den noch rund 150.000 lebenden KZ-Häftlingen, die unter schlimmsten Bedingungen Zwangsarbeit leisteten, soll es keine Differenzierung nach Religion oder Nationalität geben.

Doch für die annähernd 450.000 Zwangsarbeiter, die nach den Maßstäben der Großkonzerne nicht "schlimmsten Bedingungen" unterworfen waren (wer entscheidet darüber?), soll sich die Entschädigung an der durchschnittlichen Rente im heutigen Wohnsitzland des Opfers orientieren. Die ehemaligen Zwangsarbeiter kommen überwiegend aus Mittel- und Osteuropa. Die Durchschnittsrente allein in den GUS-Staaten liegt heute deutlich unter umgerechnet 100 Mark, häufig beträgt sie nur 35 Mark.

Zur Zeit läuft ein Prozeß von 141 ukrainischen ehemaligen Zwangsarbeitern vor dem Arbeitsgericht in München gegen Siemens und BMW. Die Ukrainer fordern für entgangenen Lohn sowie als Entschädigung für die grausamen Lebensbedingungen in Lagern der SS zwischen 25.000 und 40.000 Mark. Vor diesem Arbeitsgericht sind derzeit 436 Klagen ehemaliger NS-Zwangsarbeiter gegen die gleichen Firmen anhängig. Da die von dem Entschädigungsfonds geforderte Bedürftigkeit auf die meisten von ihnen zutreffen wird, ist davon auszugehen, daß bei einer Einmalzahlung nicht einmal diese "Bedürftigkeit" dauerhaft beseitigt wird.

Das Volumen des Fonds ist noch unklar. Geschätzte Beträge von 2,5 bis 3 Milliarden DM wurden bisher nicht bestätigt. Doch bereits heute erklären die Anwälte der NS-Opfer, daß die geschätzte Entschädigungssumme in Höhe von insgesamt rund 3,16 Milliarden DM für die bis zu 600.000 Anspruchsteller zu gering sein werde.

Abschließend kann man sagen, daß mit dem Entschädigungsfonds sich die Banken und die Industrie ein humanitäres Mäntelchen umhängen wollen, um ungestört am Weltmarkt agieren zu können. Gleichzeitig soll durch die almosenhafte Abspeisung der Zwangsarbeiter aus Osteuropa und durch die verschiedenen Kriterien, die viele ehemalige NS-Opfer leer ausgehen lassen, noch Geld eingespart werden.

Wie lautet nun die Auflösung der Scharade? "Unbelehrbare Schäbigkeit"? "Selbstgerechter Geiz"? "Bürokratische Erbarmungslosigkeit"?

Es ist ein Skandal, daß es auch nach über 50 Jahren nicht möglich ist, den heute noch lebenden Zwangsarbeitern und deren Angehörigen, die unter der Naziherrschaft unvorstellbar gelitten haben, wenigstens einen sorgenfreien Lebensabend zu ermöglichen. Von der rot-grünen Regierung kann man jedenfalls keine Gerechtigkeit für die ehemaligen Zwangsarbeiter erwarten.

Siehe auch:
Die Deutsche Bank - Auschwitz und der Entschädigungsfonds der deutschen Wirtschaft
(23. Februar 1999)
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