Vernichtende Niederlage des Likudblocks bringt Israels tiefe Krise ans Licht

Die israelischen Wahlen vom 17. Mai brachten dem Spitzenkandidaten für das Amt des Premierministers, Ehud Barak, einen Erdrutschsieg ein und endeten mit einer historischen Niederlage für den rechten Likudblock, der die Politik des Landes während über zwei Jahrzehnten bestimmt hatte. Und doch bietet das Ergebnis keine Lösung für die vertrackten Widersprüche der israelischen Gesellschaft.

Die scharfen Konflikte zwischen dem zionistischen Staat Israel und den Palästinensern, den weltlichen und den ultra-orthodoxen Juden, den Einwanderern und den im Lande Geborenen und vor allem zwischen der israelischen Arbeiterklasse und der herrschenden Finanzelite können sich mit der Bildung der neuen Regierung nur vertiefen.

Barak, ein früherer General, der im israelischen Militär als Organisator der Ermordung palästinensischer Kämpfer an die Spitze aufstieg, stellt nicht gerade den Prototyp eines "linken" Kandidaten dar. Sein kometenhafter Aufstieg in die Führung der von der Arbeitspartei geführten Koalition "Ein Israel" zeigt nur, daß diese politische Formation nichts bietet, was einem Schritt in Richtung grundlegender Neuorientierung des israelischen Staates nahe käme.

Kurz nach Schließung der Wahllokale erschien der scheidende Premier Benjamin Netanyahu vor seinen Anhängern, als er 43,5 Prozent und Barak 56,5 Prozent der Stimmen erhalten hatte. Während aus der Menge der Ruf "Tod den Arabern" zu hören war, räumte er seine Niederlage ein und gab die Likud-Führung ab.

Als Netanyahu vor drei Jahren an die Macht kam, stützte er sich vor allem auf eine Koalition von ultra-nationalistischen und ultra-orthodoxen Parteien. Er profitierte sowohl von der Ermordung Rabins, des damaligen Premierministers der Arbeitspartei, durch einen fanatischen Zionisten, als auch von einer Serie terroristischer Bombenanschläge durch einen Flügel der islamisch-fundamentalistischen Hamas. Er schob die Verantwortung für die Terroranschläge dem Abkommen in die Schuhe, das die Regierung der Arbeitspartei mit der Palästinensischen Befreiungsorganisation PLO abgeschlossen hatte, und präsentierte sich selbst als unbeugsamen Garanten der Sicherheit Israels, indem er an die Angstgefühle der israelischen Wähler appellierte.

Seine Kampagne von 1999 war im Wesentlichen eine Neuauflage der vorherigen. Wieder versuchte er, den PLO-Führer Arafat anzugreifen und sich für ein "vereinigtes Jerusalem" stark zu machen, während er vor den angeblichen Gefahren eines Palästinenserstaats "vor den Toren Tel Avivs" warnte.

Die Spaltung der rechten Koalition

Aber wie die Wahl gezeigt hat, genügten drei Jahre Netanyahu-Regierung, um seine Koalition auseinanderbrechen zu lassen und der rechten Likud-Maschinerie, die schon Menachem Begin 1977 an die Macht gehievt hatte, einen schweren Schlag zu versetzen.

Von Begin stammte die Politik, soziale Ressentiments gegen die privilegierte Elite der Arbeitspartei mit extremem Nationalismus und anti-arabischem Chauvinismus zu paaren. Im Mittelpunkt dieser Ideologie stand das Versprechen, die besetzten Gebiete in der West Bank und dem Gazastreifen als Teil von "Groß-Israel" zu erhalten.

Nachdem Netanyahu unter dem Druck der USA das Wye-Abkommen vom vergangenen Oktober unterzeichnet hatte, verlor er seine treusten Unterstützer unter den zionistischen Siedlern in den besetzten Gebieten, was zur Spaltung seiner Koalition führte.

Netanyahus Versuch, die Unterstützung der sephardischen Einwanderer aus dem Nahen Osten zu festigen, wirkte sich zu seinem Nachteil aus. Diese Schicht war vor 22 Jahren erstmals von Begin mobilisiert worden, der demagogisch an ihre Wut über die soziale Benachteiligung gegenüber den aschkenasischen Juden europäischer Herkunft appelliert hatte. Die Aschkenasim besetzten als säkulare Elite die von der zionistischen Arbeitspartei geschaffenen staatlichen Einrichtungen. Bescherte diese Kampagne der israelischen Rechten 1977 einen erdrutschartigen Sieg, so hat ihre Neuauflage jetzt, im Jahr 1999, die Wähler in alle möglichen Richtungen von der Likudpartei weggetrieben.

Die religiöse Schas-Partei gehört zu den größten Nutznießern. Sie hat ihre Sitze in der Knesset, dem Parlament, von zehn auf 17 erhöht und liegt dadurch als drittgrößte Partei nur knapp hinter dem Likudblock. Die Partei hat ihre Basis unter den ärmeren sephardischen Immigranten; sie nutzt ihre Kontrolle über das Innenministerium aus, um sich ausgiebig an den staatlichen Pfründen zu bedienen, womit sie ein ausgedehntes Netz religiöser Schulen und anderer sozialer Einrichtungen finanziert. Als die Netanyahu-Regierung Privatisierungen und Haushaltskürzungen durchsetzte, wodurch die Gelder für nicht-religiöse Schulen, Gesundheitszentren und andere Dienste stark geschmälert wurden, füllte Schas zunehmend das Vakuum aus und gewann so Schichten eingewanderter Arbeiter, die zuvor für Likud gestimmt hatten.

Die Verurteilung des Schas-Führers Aryeh Deri wegen Bestechung mag dazu beigetragen haben, die Unterstützung für diese Partei unter den sephardischen Wählern zu steigern, weil man sie glauben machte, das Urteil sei ein weiteres Beispiel der Diskriminierung. Aber was die Netanyahu-Regierung betraf, so wurde der sie umgebende Gestank der Korruption immer penetranter.

Währenddessen mußten andere, erst vor kurzem zumeist aus Rußland eingewanderte Arbeiter mit ansehen, wie die Zugeständnisse an die Schas-Partei auf ihre Kosten gemacht wurden. Während diese Schicht das letzte Mal Netanyahu massiv unterstützt hatte, gaben diesmal zwei Drittel von ihnen Barak ihre Stimme.

Eine neue Partei, Schinui, erhielt ebenfalls Stimmen von früheren Likudwählern. Gegründet von dem rechten Talk Show Master Tommy Lapid, einem ehemaligen Netanyahu-Anhänger, führte sie eine demagogische Kampagne um eine einzige Frage: Sie schürte Ressentiments gegen die orthodoxe Führung. Auf Anhieb gewann sie sechs Sitze. Orthodoxe Führer denunzierten Lapid als Antisemiten; er wiederum erklärte, er habe Todesdrohungen von Anhängern der Orthodoxen erhalten.

Für den Likudblock war das Resultat weit vernichtender als seine Verluste von 1992, als Rabin an die Macht kam. Er ist auf seinen harten Kern zusammengeschrumpft, die alte rechte Herut-Partei, die das Erbe des revisionistischen Zionismus und des Irgun-Terrorismus verkörpert. Aber heute fehlt ihr der ideologische Zusammenhalt von Herut, und sie hat nun das Problem, ihre Anhänger in zerstrittene Lager auseinander getrieben zu haben.

Barak und die Generäle

Man geht davon aus, daß Barak zu Beginn kommender Woche Verhandlungen aufnehmen wird, um eine Koalitionsregierung zu bilden. Die Cliquen altgedienter Generale a.D. und orthodoxer religiöser Führer, die diese Gespräche beherrschen, symbolisieren den zutiefst reaktionären Charakter zionistischer Politik.

Barak, der selbst früher israelischer Generalstabschef war, wird Gespräche mit dem neuen Führer des Likudblocks, Ariel Sharon, aufnehmen, einem ehemaligen Falken unter den Generälen, der als Verteidigungsminister 1982 den Einmarsch Israels im Libanon plante. Am Rand der Gespräche wird sich auch der ehemalige Stabschef Amnon Lipkin-Schahak bewegen, sowie der ehemalige Verteidigungsminister Yitzak Mordechai, der Führer der Zentrumspartei. Dies ist eine neue Organisation ehemaliger Netanyahu-Berater, die bei den Wahlen vor allem mit der Forderung "Netanyahu muß weg" angetreten waren.

Obwohl Zehntausende Israelis nach der Wahl an spontanen Demonstrationen teilnahmen und viele von ihnen der Meinung waren, sie hätten das Land von den Rechten und religiösen Fanatikern "zurückerobert", ist eine politische Wende angesichts Baraks eigener Politik und der Koalitionsgespräche höchst unwahrscheinlich.

Barak wird voraussichtlich entweder den Likudblock oder die Schas-Partei in eine Art "Regierung der nationalen Einheit" einbinden, die viele der von Likud begonnenen politischen Maßnahmen einfach fortsetzen wird.

Der gewählte Premierminister will die wichtigsten israelischen Siedlungen in den besetzten Gebieten aufrechterhalten, und er hat versprochen, den Rückzug der israelischen Truppen, der in dem Wye-Abkommen vereinbart worden ist, nur so weit zu vollenden, wie es "unsere eigene Sicherheit nicht gefährdet".

Sprecher der palästinensischen Autonomiebehörde begrüßten Baraks Wahlsieg als einen Schritt zum Frieden, und die Palästinenserführung bemühte sich nach Kräften, diesen Sieg zu sichern. Auf Arafats Anweisung nahmen Sicherheitskräfte am Vorabend der Wahlen zahlreiche Hamaskämpfer fest, um jede Gefahr auszuschließen, die terroristischen Angriffe vor drei Jahren, die zu Netanyahus Sieg beigetragen hatten, könnten sich wiederholen.

Eine Umfrage in der West Bank und dem Gazastreifen demonstrierte kurz vor der Wahl einmal mehr die scharfe Trennung zwischen dem Standpunkt der bürgerlichen Nationalisten in der PLO-Führung und dem der großen Mehrheit palästinensischer Arbeiter.

Laut der Umfrage des Jerusalemer Medien- und Kommunikations-Zentrum erklärten 50,2 Prozent der Befragten, ein Wahlsieg der Arbeitspartei würde nichts ändern, während 18,8 Prozent sogar befürchteten, daß sich die Lage der Palästinenser verschlechtern würde.

Noch ehe die neue Regierung feststeht, gibt es Anzeichen, daß sie ihren Hauptgegner in der israelischen Arbeiterklasse finden könnte. Kurz nach der Auszählung der Stimmen kündigte Israels Zentralbüro für Statistik an, daß die Arbeitslosenrate auf 8,8 Prozent geklettert sei, den höchsten Stand seit sechs Jahren. Das Wachstum des Arbeitslosenheeres ist das Ergebnis eines längeren Konjunkturrückgangs und der Tatsache, daß mehrere Umschulungsmaßnahmen von der alten Regierung vor der Wahl beendet wurden.

Barak versprach während der Wahlkampagne, innerhalb von vier Jahren mit einem Teil der Gelder, die momentan von den religiösen Institutionen beansprucht werden, 300.000 neue Arbeitsplätze in der Infrastruktur und anderen Projekten zu schaffen. Gleichzeitig hat die Koalition unter Führung der Arbeitspartei jedoch versprochen, Israels wirtschaftliche Integration in den kapitalistischen Weltmarkt voranzutreiben, was unvermeidlich weitere Privatisierungen und Haushaltskürzungen zur Folge haben wird.

Unterdessen kündigte der Gewerkschaftsdachverband Histadrut kurz nach Schließung der Wahllokale die Schaffung eines "Kriegskomitee" an, um Streiks im privaten Sektor zu planen, weil die israelischen Unternehmer sich weigern, die Löhne entsprechend den gestiegenen Lebenshaltungskosten zu erhöhen.

Siehe auch:
Israel bereitet sich auf Wahlen vor.Das politische Establishment des Zionismus zerfällt
(14. August 1999)
Fünfzig Jahre seit der Gründung Israels
( 10. Juni 1998)
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