Rußland und der Kampf um das kaspische Öl

Das Auseinanderbrechen der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS)

Während die Medien mit der Rechtfertigung der Nato-Bombardierungen Jugoslawiens beschäftigt sind und die Besetzung des Kosovos durch Nato-Truppen stattfindet, entwickeln sich abseits des Weltinteresses bereits neue Konflikte, die zu wesentlich schwerwiegenderen militärischen Auseinandersetzungen führen können. Die Rede ist vom Territorium der ehemaligen Sowjetunion, wo die weltweit größten noch unerschlossenen Öl- und Gasreserven lagern und der Einfluß Rußlands stark schwindet.

Als Nachfolgeorganisation der Sowjetunion wurde bei dessen Auflösung am 8. Dezember 1991 in Minsk die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) gegründet, der zunächst Rußland, Weißrußland und die Ukraine angehörten. Am 21. Dezember 1991 traten acht weitere ehemalige Sowjetrepubliken - Armenien, Aserbaidshan, Kasachstan, Kirgisien, Moldawien, Tadschikistan, Turkmenistan und Usbekistan - der GUS bei einem Treffen in Alma Ata, der ehemaligen Hauptstadt Kasachstans, bei, wohingegen sich die Kaukasusrepublik Georgien erst 1993 der Union anschloß.

War die Stärke Rußlands der Kitt, der die GUS zusammenhielt, treten mit dessen zunehmender wirtschaftlicher, politischer und militärischer Schwächung die zentrifugalen Kräfte, die von Anbeginn die Beziehungen des Staatenbundes prägten und seinerzeit zur Auflösung der Sowjetunion geführt hatten, immer offener zutage. Zwei Ereignisse beschleunigten diese Entwicklung: die russische Finanzkrise vom August 1998 und die politischen Erniedrigungen Rußlands von Seiten der Nato und der USA im Zusammenhang mit dem Krieg gegen Jugoslawien.

Anfang der 90er Jahre konnte Rußland gestützt auf eine noch übermächtige Militärmaschine seinen Einfluß in den verschiedensten innenpolitischen Konflikten der früheren Sowjetrepubliken geltend machen. So sorgte Moskau durch Truppenstationierungen für einen zeitweisen Status quo zwischen Armenien und Aserbaidshan im Streit um die Berg-Karabach-Region, in Georgien bei der Unterstützung der abchasischen Separatistenbewegung, in Tadschikistan bei der Aufrechterhaltung des anämischen moskautreuen Marionettenregimes von Imomali Rachmonow gegen die islamistische Opposition und in Moldawien bei der Unterstützung der russisch-separatischen Dnestrrepublik (auch bekannt als Transnistrien).

Daß sich Moskaus militärischer Griff auf diese Republiken zusehends lockert und Raum zur Wiederanfachung der alten aber auch neuer Konflikte gibt, liegt an Rußlands eigenem Niedergang und daran, daß insbesondere die zentralasiatischen und Kaukasusrepubliken mittlerweile in andere Richtungen Beziehungen entwickelt haben.

Der gesamte zwischenstaatliche Handel der GUS-Staaten ist seit 1991 auf ein Drittel zurückgegangen. Der Anteil am Außenhandel sank von damals 78 auf heute 24 Prozent. Der bilaterale Außenhandelsanteil jeweils Weißrußlands, der Ukraine, Moldawiens und Kasachstans mit Rußland liegt gegenwärtig zwischen 60 und 40 Prozent, der der Kaukasusrepubliken Georgien, Armenien und Aserbaidshan bei durchschnittlich 23 Prozent und der der übrigen zentralasiatischen Republiken Turkmenistan, Usbekistan, Kirgisien und Tadschikistan im Durchschnitt bei 13 Prozent. Während die Ukraine, Moldawien und Georgien stärkere Bindungen zur Europäischen Union anstreben, haben sich die Beziehungen Aserbaidshans und der zentralasiatischen Republiken vor allem hin zur Türkei, dem Iran und China ausgerichtet.

Dieser Prozeß hat sich seit der russischen Finanzkrise wesentlich beschleunigt. Vordem konnte Rußland, als stabilste Wirtschaft der GUS, die Bindungen zu den Republiken künstlich aufrechterhalten, indem es nach Weltmarktmaßstäben nichtwettbewerbsfähige Produkte aufkaufte oder Vergünstigungen und oft nichtrückzahlbare Kredite gewährte.

Doch seit der Augustkrise "verwandelte sich Rußland von einem Gravitationszentrum in eine Quelle wirtschaftlicher Erschütterungen. Zur größten Sorge jedes der früheren Partner wurde, möglichst großen Abstand zu gewinnen", so Juri Schischkow, stellvertretender Vorsitzender des Instituts für Weltwirtschaft und Internationale Beziehungen der Akademie der Wissenschaften Rußlands. "Alle Integrationsprogramme im Rahmen der GUS gehören jetzt der Geschichte an", schreibt er in der Wochenzeitung Obschaja Gasjeta(Allgemeine Zeitung) vom 13.-19. Mai 1999.

Die Stimmung der "Partnerländer" gegenüber Rußland hat sich merklich abgekühlt. Stand die Gründung der GUS unter dem Zeichen von "Hoffnung und Optimismus" gilt sie heute als "schlaffe Organisation", deren Autorität kaum noch eines der Mitgliedsländer ernst nimmt. So trat Kirgisien beispielsweise im Widerspruch zu den Regeln der Zollunion, der fünf GUS-Länder angehören, erst kürzlich der Welthandelsorganisation (WTO) bei. Turkmenistan, das sein Gas früher nur über russische Leitungen unter starken Abschlägen auf dem Weltmarkt anbieten konnte, liefert nun über den Iran und bricht allmählich jegliche Beziehungen zu Rußland ab: der Zugverkehr Moskau-Aschchabad und der visafreie Reiseverkehr wurden inzwischen eingestellt.

Die wohl bedeutendste Organisation gegen den russischen Einfluß ist der 1998 gebildete Staatenverbund GUAM, dem Georgien, die Ukraine, Aserbaidshan und Moldawien angehören und dem sich im April 1999 zusätzlich Usbekistan anschloß (seit dem GUUAM). Erklärtes Ziel war von Anbeginn die "Wiederbelebung der Seidenstraße".

Dieser Gedanke wurde erstmals vom georgischen Präsidenten und früheren Außenminister der Sowjetunion unter Gorbatschow, Eduard Schewardnadse, geäußert, der 1994 auf einem APEC-Forum (Asean Pacific Economic Cooperation) die Integration der Staaten Zentralasiens und des Kaukasus in das Weltwirtschaftssystem mit Hilfe eines transeuropäisch-kaukasisch-pazifischen Kommunikationssystems forderte.

Kern dieses Systems soll die Transportroute des aserbaidshanischen Öls vorbei an Rußlands Territorium und Einflußgebiet sein. Die transkaukasischen Staaten Aserbaidshan und Georgien würden in einem Transportsystem zwischen Asien und Europa zur Schlüsselregion, durch die per Autobahn und Eisenbahn in Zukunft Güterströme hindurchgeleitet und Investoren angelockt werden sollen. Erste Projekte, wie die Autobahn von der nordtürkischen Industriestadt Samsun zur georgischen Hafenstadt Batumi, sind entweder im Bau oder, wie im Fall der im April eröffneten Erdölleitung von der aserbaidshanischen Hauptstadt Baku zum georgischen Schwarzmeerhafen Supsa, bereits fertiggestellt.

Die Europäische Union, die letzteres Projekt mitfinanziert hat, will sich auch an einer Öltransportroute Poti - Iljitschowsk beteiligen. Damit soll aserbaidshanischem Öl ein direkter Weg nach West- und Südosteuropa vorbei an Rußland gesichert werden. Statt wie bisher über Grosny und Noworossisk (Rußland), soll es per Eisenbahn von Baku in die georgische Hafenstadt Poti transportiert werden, um von dort per Schiff in den Hafen der ukrainischen Stadt Odessa, Iljitschowsk, zu gelangen. Die Ukraine und das benachbarte Moldawien bieten ihre eigenen Ölleitungen in die Slowakei, Tschechien und Rumänien nach Westeuropa bzw. auf den Balkan an, um sich somit vom russischen Öl unabhängig zu machen und selbst am großen Geschäft mitzuverdienen. Mit Turkmenistan laufen Gespräche über Erdöl- und Erdgasleitungen durch das Kaspische Meer über Baku weiter nach Georgien und in die Türkei.

Hauptproblem sind jedoch die verschiedenen "ethnischen Konflikte" in diesen Ländern, die Rußland bisher als Druckmittel gegen die Abkopplungsbestrebungen unter seiner Kontrolle hatte. Doch mit Rußlands Niedergang stellen sich die GUUAM-Staaten immer offener gegen Moskau und suchen die Unterstützung der USA zur Durchsetzung ihrer Interessen.

So fand der Beitritt Usbekistans in Washington statt, während der Feierlichkeiten anläßlich des 50jährigen Bestehens der Nato, dem Rußland aus Protest gegen die Bombardierung Jugoslawiens demonstrativ fernblieb. Die anwesenden Präsidenten der GUUAM-Staaten stellten sich dagegen geschlossen hinter das Vorgehen von USA und Nato.

Darüber hinaus finden seit Jahresbeginn erstmals ohne Beteiligung Rußlands gemeinsame Militärmanöver der Ukraine, Aserbaidshans und Georgiens statt, während derer Maßnahmen zur Sicherung der neueröffneten Öltrassen entwickelt werden. Unmittelbar nach dem Moskauer GUS-Gipfel im April erklärten diese Länder dann auch ihren de facto Austritt aus dem Vertrag von Taschkent, der 1992 zwischen den Staaten der GUS "zur Schaffung eines einheitlichen Verteidigungsraumes" abgeschlossen wurde.

In den USA hingegen stoßen die GUUAM-Ziele auf großmütiges Entgegenkommen. Bereits 1997 wurden die kaspische und die Kaukasusregion in einer Kongreßresolution zur "Zone lebenswichtiger amerikanischer Interessen" erklärt. Clintons Sonderbeauftragter für Energiediplomatie im kaspischen Raum, R. Morningstar, brachte Ende April Amerikas Interessen in folgenden Punkten zum Ausdruck: 1. durch das Forcieren politischer und wirtschaftlicher Reformen müssen Unabhängigkeit, Souveränität und Wohlstand in diesen Ländern gestärkt werden; 2. Senkung der Wahrscheinlichkeit regionaler Konflikte durch Einbeziehung in die internationale wirtschaftliche Zusammenarbeit; 3. Stärkung der energetischen Sicherheit der USA und ihrer Verbündeten mit Hilfe der Länder des kaspischen Raumes und 4. Erweiterung der Möglichkeiten für amerikanische Unternehmen.

Eine besonders aggressive Rolle spielt hierbei die Regierung des ölreichen Aserbaidshans, wo amerikanische Ölfirmen mehr als 50 Prozent der Förderung des Landes kontrollieren. Dessen Präsident, Haidar Alijew, erklärte wiederholt öffentlich, daß "die heute bestehenden großen Möglichkeiten zur Vertiefung und Ausweitung der wirtschaftlichen und militärischen Zusammenarbeit mit den USA und der Nato vollständig ausgeschöpft werden". Unterdessen werden die größten Anstrengungen unternommen, 45 km nördlich von Baku auf dem Gelände der ehemaligen sowjetischen Luftabwehrstellung "Nasosnaja" einen amerikanischen, türkischen oder Nato-Stützpunkt als Gegengewicht gegen das von Rußland unterstützte Armenien zu errichten.

Die USA, die offensichtlich gewillt sind, auch in dieser Region ihre Interessen mit militärischer Gewalt durchzusetzen, entsandten bereits im März zu Sondierungszwecken eine Arbeitsgruppe amerikanischer Stabsoffiziere unter der Führung des amerikanischen Europagenerals Charles Box. Informationen der russischen Wochenzeitung Wjek(Jahrhundert) (Nr. 21, 4.-10. Juni 1999) zufolge untersuchte sie vor Ort die Stationierung von Nato-Kontingenten "zur Stärkung von Sicherheit und Stabilität im Kaukasus".

Es handelt sich also nicht nur um leere Worte, wenn der aserbaidshanische Verteidigungsminister Safar Abijew im Zusammenhang mit den seit 14. Juni wiederentfachten Kampfhandlungen um Berg-Karabach offiziell eine "Friedensintervention der Nato" fordert. Schon während des Jugoslawienkrieges bot er der Nato Aserbaidshans Luftüberwachungsanlagen an.

Doch auch in Europa ist man sich über die Bedeutung dieser Region bewußt. Nato-Generalsekretär Javiar Solana, der in den vergangenen zwei Jahren schon zweimal dort war, erklärte, daß "Europa nicht völlig sicher sein kann, solange die Kaukasusstaaten außerhalb der Grenzen der europäischen Sicherheit verbleiben".

Auch von islamischer Seite geraten Rußlands Einfluß und die Stabilität der GUS zusehends unter Druck. In der zentralasiatischen Republik Tadschikistan ist Präsident Rachmonow wegen der nachlassenden Unterstützung Moskaus zu weiteren Zugeständnissen an die Vereinigte Islamistische Opposition gezwungen, die seit Beendigung des fünfjährigen Bürgerkrieges 1997 die Hälfte des zerrütteten Landes kontrolliert und engste Beziehungen zu den afghanischen Talibanmilizen unterhält. Im jüngsten Konflikt erhielt Oppositionsführer Nuri vier weitere Ministerposten in der nach dem Bürgerkrieg gebildeten Koalitionsregierung.

Usbekistan, das zu einem Drittel von ethnischen Tadschiken bewohnt wird, fürchtet angesichts der sich in jüngster Zeit häufenden Zwischenfälle an der sehr kurzen Grenze zu Afghanistan und des zunehmenden Drucks aus Tadschikistan um sein eigenes Schicksal. Sollte Rußland den Nachbarn Tadschikistan fallen lassen und es den Islamisten gelingen, das Land unter ihre Kontrolle zu bringen, wäre Usbekistan kaum noch allein in der Lage, seine Grenzen zu verteidigen. Aus diesem Grund hofft der usbekische Präsident, Islam Karimow, nunmehr über GUUAM und die USA seine Herrschaft retten zu können.

Der einzige GUS-Staat, der nach wie vor bedingungslos zu Rußland hält, ist das wirtschaftlich am Boden liegende Weißrußland. Weißrußland war die zu Sowjetzeiten am stärksten mit Rußlands Wirtschaft integrierte Sowjetrepublik und war als die "Werkbank Rußlands" bekannt. Seine Wirtschaft, die auf dem Weltmarkt überhaupt nicht konkurrenzfähig ist, sank im Vergleich zu 1989 mittlerweile auf unter 30 Prozent ab.

Wer nach den Ursachen von künftigen Militärschlägen forscht, der folge der Fließrichtung von Öl und Geld. "Ethnische Konflikte" am Wegesrand können dabei jederzeit als Anlaß neuer Nato-Interventionen dienen.

Siehe auch:
Die Reaktion Rußlands auf die Besetzung des Kosovo
(19. Juni 1999)
Rußland - eine Gesellschaft im freien Fall
( 1. April 1999)
Rußland nach acht Jahren kapitalistischer Reformen
( 30. Januar 1999)
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