Europa strebt unabhängige militärische Rolle an

Die Entscheidung, eine Grundlage für eine Europäische Schnelle Eingreiftruppe zu schaffen, die unabhängig von der Nato operiert, bringt wachsende Differenzen mit den Vereinigten Staaten zum Ausdruck.

Der Plan, der auf dem Kölner Gipfeltreffen der Regierungschefs der Europäischen Union (EU) gutgeheißen wurde, hat zum Ziel, den fünfzehn Mitgliedsstaaten die "Fähigkeit zum selbständigen Handeln, das durch glaubhafte militärische Kräfte untermauert wird," zu geben. Das ganze weist Kennzeichen eines Kompromisses auf, der durch die gegensätzlichen Auffassungen der verschiedenen europäischen Mächte notwendig wurde.

Erst am 17. November des vergangenen Jahres war eine zweitägige Konferenz der europäischen Außen- und Verteidigungsminister in Rom zu Ende gegangen, auf der übereinstimmend die Notwendigkeit zur Stärkung der militärischen Fähigkeiten Europas festgestellt wurde, aber von einem organisatorischen Bruch mit der Nato in keiner Weise die Rede war. Neben Frankreich stand Großbritannien in der ersten Reihe bei den Rufen nach militärischer Aufrüstung. Aber als der treuste Verbündete der Vereinigten Staaten ist Großbritannien auch der Hauptverteidiger einer Beibehaltung der Nato-Strukturen. Im Gegensatz dazu befindet sich Deutschland; während es militärisch schwach ist, unterstützt es die feste Kontrolle der EU über ihre eigene militärische Zukunft. Vor kurzem brachte der jüngst ernannte Präsident der Europäischen Kommission, Romano Prodi, die Idee einer einzigen europäischen Armee in die Diskussion. Dies wurde von Frankreich und Deutschland willkommen geheißen, von Großbritannien jedoch abgelehnt - was die gegensätzlichen Positionen innerhalb der EU deutlich zum Ausdruck brachte.

Die europäischen Militärkräfte unter direkte Kontrolle der EU zu stellen schafft auch Probleme für Nicht-EU-Mitglieder wie die Türkei und für blockfreieEU-Mitglieder, die weder Mitglied der Nato noch der Westeuropäischen Union sind: Irland, Finnland, Schweden und Österreich.

Die Abschlußerklärung des Kölner Gipfels beinhaltet Zugeständnissen an all diese Positionen. Sie sieht die Auflösung der Westeuropäischen Union (WEU) zum Ende des kommenden Jahres und die Übernahme der Kontrolle über die Europäischen Schnellen Eingreifkräfte durch die EU vor. Als Zugeständnis an die blockfreien Staaten wird allerdings Artikel 5 der WEU-Charta weggelassen, der die Verpflichtung zur gegenseitigen Verteidigung festschreibt.

Nato-Generalsekretär Javier Solana wird den neuen Posten als Hoher Repräsentant der EU für gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik übernehmen. Er setzte sich gegenüber den deutschen und französischen Kandidaten - Staatssekretär Günter Verheugen und Außenminister Hubert Védrine - durch, weil er aufgrund seiner Rolle in der gegenwärtigen Balkankrise das Vertrauen der Vereinigten Staaten und Großbritanniens genießt. Sein Stellvertreter wird Pierre de Boisseau sein, der französische EU-Gesandte und ironischerweise der Neffe von General Charles de Gaulle, unter dem Frankreich im Jahre 1966 aus der Nato austrat.

Solana wird den Vorsitz über einen verstärkten, die Richtlinien der Politik bestimmenden Apparat mit Sitz in Brüssel innehaben. Zu diesem gehört ein Planungskomitee, bestehend aus 20 Mitgliedern, und ein ständiges Komitee von Beamten der Außen- und Verteidigungsministerien der 15 EU-Mitgliedstaaten. Dieser neuen Körperschaft obliegt die Aufgabe, die Entwicklung der EU-Kapazitäten für eigene Friedensmaßnahmen oder andere begrenzte Militäroperationen, sei es unabhängig von der Nato oder mit ihrer Unterstützung, zu leiten. Die USA stellt sich nicht dagegen, hat aber hinter den Kulissen und mit Hilfe Großbritanniens darauf bestanden, daß die Rolle einer solchen Körperschaft beschränkt sein muß.

Der britische Außenminister Robin Cook kommentierte die ersten diesbezüglichen Ankündigungen Frankreichs und Deutschlands am vergangenen Wochenende, indem er darauf hinwies, daß die neue Körperschaft "kein Ersatz für die Nato" sein könne. Sprecher der Blair-Regierung haben außerdem vor der Schlußfolgerung gewarnt, daß Europa im Kosovo hätte allein vorgehen können, wenn die neuen Abmachungen der EU schon umgesetzt gewesen wären. "Es geht nicht darum, in Konflikte vom Ausmaß des Kosovo eingreifen zu können, wofür wir, offen gesagt, nicht vorbereitet sind, sondern darum, die Bewegungsfreiheit zu haben, um Konflikte kleineren Maßstabs im Keim zu ersticken," sagte einer von ihnen der Financial Times.

Diese Worte stehen in scharfem Gegensatz zu denen des französischen Präsidenten Jacques Chirac, der am letzten Wochenende erklärte, daß diese Entscheidungen "ein wichtiger Beitrag zugunsten einer multipolaren Welt sein würden, der sich Frankreich prinzipiell verbunden fühlt." Er fügte hinzu, daß dies ein Beitrag zu Stärkung der Vereinten Nationen und des Weltsicherheitsrates (im Gegensatz zur Nato) sei, "wenn dieser die Hauptverantwortung für Frieden und internationale Sicherheit übernimmt".

Das ganze hin und her in den Sicherheitsabsprachen wird an sich nicht das existierende militärische Defizit Europas gegenüber den USA beheben können. Hier liegt der Grund, warum die Außenminister in ganz Europa höhere Militärausgaben fordern. Sie wollen sicherstellen, daß die notwendigen Kräfte für solche Herausforderungen wie Bosnien und Kosovo zur Verfügung stehen. Frankreich und Deutschland betonen die Notwendigkeit, eine eigene, unabhängige Satellitentechnologie aufzubauen, und beschweren sich darüber, daß die USA ihr Wissen mit keinem ihrer Nato-Verbündeten außer Großbritannien teilen. Hier stimmte ihnen der Kölner Gipfel zu.

Der Kölner Gipfel erklärte die Entschlossenheit der EU, "die Umstrukturierung der europäischen Verteidigungsindustrien zu fördern" und "die militärischen Erfordernisse weiter in Einklang zu bringen", um gegenüber den USA "konkurrenzfähig und dynamisch" zu werden.

Diese Vorschläge haben in der europäischen Presse ein geteiltes Echo gefunden. Manche Organe bezeichneten sie als, trotz aller Beschränkungen, historisch, während andere sie als nutzlos oder fehlgerichtet ablehnten.

Das Editorial der Financial Times vom 2. Juni betonte, daß die neue Übereinkunft keine Alternative zur Nato sei, aber: "Es wird höchste Zeit für die Europäer sich zu organisieren, um Brände im eigenen Hinterhof bekämpfen zu können. Nun ist es an den Mitgliedsstaaten, ihre Ernsthaftigkeit zu beweisen. Herrn Solana müssen die nötigen Mittel und der notwendige politische Rückhalt gegeben werden. Und Washington wird sich daran gewöhnen müssen, daß am anderen Ende der Telefonleitung jemand sitzt, der möglicherweise Konter gibt."

Am 4. Juni schrieb Philip Stevens: "Kosovo muß der Katalysator sein, der Westeuropa von der Übernahme der Verantwortung für die eigenen Angelegenheiten überzeugt, damit es sich auf die Höhe der Herausforderungen stellt, die vor einem Jahrzehnt durch den Fall der Berliner Mauer entstanden sind. Die Europäische Union muß die Bereitschaft zum Aufbau ihrer eigenen Militärkräfte und den politischen Willen zum Einsatz derselben zeigen."

Im Gegensatz dazu äußerte die Londoner Times: "Die Europäer sollten sich auf den Ausbau ihrer Streitkräfte konzentrieren, und nicht ihr liebstes Kriegsspiel, den Aufbau neuer Institutionen, spielen."

Der Guardian, welcher die militärische Unabhängigkeit Europas begrüßt, beschwerte sich: "Dies wird nicht die gemeinsame europäische Armee sein, die Romano Prodi vorschwebte. Es wird ein Versuch sein, die 120 Milliarden Pfund effektiver einzusetzen, die die europäischen Steuerzahler für Verteidigung aufbringen. Diese verschwenderische Summe hält 2 Millionen Mann unter Waffen, wovon 750.000 Wehrpflichtige sind. Das sind zwar bei weitem mehr als die 1.4 Millionen US Soldaten, aber sie sind nur in der Lage, einen Bruchteil von der amerikanischen Schlagkraft aufzubringen."

In Deutschland beklagte sich Das Handelsblatt über die "größtenteils sehr vagen Konzeptionen" in Zusammenhang damit, daß der Kosovo-Krieg gezeigt hätte, "wie hoffnungslos die Europäer der amerikanischen Dominanz in Fragen der Außen- und Verteidigungspolitik gegenüberstehen".

Vor dem Gipfel schrieb die französische Zeitung Libération: "Die wahre Herausforderung liegt woanders und wird während des Kölner Gipfels nicht behandelt: sie liegt bei den Finanzen und der Rüstungsindustrie. Eine europäische Verteidigungskapazität erfordert den Zusammenschluß der europäischen Verteidigungsindustrie, eine fähige Planungsbehörde. Von einer Politik, die den Einkauf europäischer Militärausrüstung bevorzugt, und vor allem von der notwendigen Steigerung der Militärausgaben sind wir noch weit entfernt."

In den Vereinigten Staaten schrieb der International Herald Tribune: "Dies könnte der ehrgeizigste von den vielen Versuchen seit den 50er Jahren sein, eine gemeinsame europäische Verteidigung unter dem nuklearen Schutz der USA zu errichten". Sie zeigte sich aber skeptisch, was die Zukunft angeht: "Europa ist in einigen Schlüsselgebieten fast vollständig von den Vereinigten Staaten abhängig, dazu gehören elektronische Aufklärung, die Fähigkeit eine große Anzahl von Truppen und Ausrüstung auf dem Luftwege zu transportieren und die Kommando- und Kontrolleinrichtungen. Der Kosovo-Konflikt, der während des EU-Gipfels in Berlin vor zwei Monaten begann, hat die Unfähigkeit der europäischen Länder, einer Herausforderung vor ihrer eigenen Haustür unabhängig zu begegnen, unterstrichen."

Die New York Times schrieb, daß diese Pläne einen Versuch darstellten, die EU "zum ersten mal in ihrer 42jährigen Geschichte zu einer Militärmacht" machen zu wollen, fügte aber hinzu, daß "diese Abmachungen bisher nur auf dem Papier existieren. In Wirklichkeit war es so, daß nach dem Beschluß der Nato-Verbündeten zum Einsatz ihrer Luftstreitkräfte, um Jugoslawien zu einer Abmachung im Kosovo zu zwingen, nur die USA hunderte von Flugzeugen zum Kampf bereitstehen hatten, wie auch Aufklärungssatelliten und Waffensysteme, um eine Kampagne mit einem minimalen Risiko für die Piloten zu gewährleisten."

Nichtsdestotrotz, wie zögerlich und mit inneren Widersprüchen behaftet sie auch sein mag, die Auflösung der WEU und die Unterstellung ihrer militärischen Streitkräfte unter die direkte Kontrolle der EU bestätigen, daß die SicherheitsVereinbarungen aus der Zeit des Kalten Krieges, die sich auf die unangefochtene militärische Vorherrschaft Amerikas über die westeuropäischen Mächte stützten, immer weiter zerfallen.

Die WEU hat ihre Ursprünge in der Nachkriegszeit, in dem Brüsseler Abkommen für gegenseitige Verteidigung aus dem Jahre 1948, welches Deutschland und Italien nicht mit einbezog. Die Verlierer des Weltkrieges wurden 1954 offiziell in die WEU aufgenommen - eine Körperschaft, die als Anhängsel des 1949 hergestellten Nato Bündnisses geschaffen worden war und die führende Rolle der USA in europäischen Sicherheitsfragen bestätigte. Jahrzehntelang zur Bedeutungslosigkeit verurteilt, wurde die WEU im Jahre 1984 mit der Perspektive der Entwicklung einer gemeinsame Verteidigungspolitik und der Stärkung der Position Europas innerhalb der Nato reaktiviert.

Der Zusammenbruch der stalinistischen Regimes in Osteuropa Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre führte zu einer Situation, in der die USA die unangefochtene militärische Hegemonie innehatten - eine unipolare Welt, um es in der Sprache der Militärs zu sagen. Das wurde von den USA benutzt, um die eigenen Interessen weltweit durchzusetzen.

Der Golfkrieg gegen den Irak im Jahre 1990/91 - durch den die USA ihren Einfluß auf die ölreichen Staaten in der Region des mittleren Ostens festigten - rief zahlreiche Forderungen nach einer militärischen Stärkung und Unabhängigkeit Europas hervor. Mit dem Vertrag der Europäischen Union aus dem Jahre 1991 verpflichtete sich Europa zu einer gemeinsamen Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Anläßlich des Auseinanderbrechens Jugoslawiens im selben Jahr erklärte der damalige EU Kommissar Jacques Poos, daß jetzt "die Stunde Europas" angebrochen sei, nur um dann wieder einmal beobachten zu müssen, wie amerikanische militärische Stärke die Ereignisse bestimmte.

Der jüngste Krieg gegen Serbien hat die europäischen Mächte endgültig dazu getrieben, klare Pläne zur Überwindung ihrer militärischen Abhängigkeit von den USA auszuarbeiten. Das ist ein deutliches Signal, daß sich der Militarismus auf dem ganzen Kontinent ausbreitet und daß sich zunehmende internationale Spannungen um die Kontrolle der strategischen Ressourcen der Welt entwickeln. Dies wird massive Einschnitte bei den Sozialausgaben erfordern. Schätzungen zufolge wird Europa jährlich 100 Milliarden mehr ausgeben müssen, um militärisch unabhängig von der USA zu sein, was einem Prozent des Bruttosozialprodukts der EU entspricht.

Siehe auch:
Die Logik des Krieges - Der Angriff auf Serbien hat Auswirkungen auf ganz Europa
(31. März 1999)
Loading