Diplomatische Mission der USA scheitert

Krieg zwischen Indien und Pakistan rückt näher

Mit dem offensichtlichen Scheitern einer US-amerikanischen Vermittlungsmission um ein Ende der Kämpfe zwischen indischen Truppen und von Pakistan unterstützten bewaffneten Einheiten in der Region Kargil-Bass-Batalik im indischen Teil von Kaschmir ist ein Krieg zwischen Indien und Pakistan wahrscheinlicher geworden.

Vergangenen Freitag erklärte der indische Premierminister Atal Vajpayee, Indien werde einem Krieg nicht ausweichen und im Falle eines Kriegsausbruchs alle eroberten Gebiete behalten. Am folgenden Tag deutete Vajpayee in einer Rede in der westindischen Stadt Pune an, indische Truppen würden möglicherweise die Kontrollinie (LoC - Line of Control), die den indischen Teil Kaschmirs vom pakistanischen trennt, überschreiten - eine Strategie, die er noch zwei Tage vorher ausgeschlossen hatte.

Am Wochenende verstärkte Indien seine Anstrengungen, unter Einsatz von Luft- und Bodentruppen die von Pakistan unterhaltenen Einheiten zu vertreiben, die sich entlang der Höhenzüge festgesetzt haben und die Straße von Srinagar kontrollieren, welche von der Hauptstadt von Jammu und Kaschmir in die östliche Ladak-Region führt.

In beiden Ländern sind die Sicherheitskräfte in höchster Alarmbereitschaft, und die Armee, Luftwaffe und Marine beider Länder haben entlang der gemeinsamen Grenze und im Arabischen Meer Position bezogen.

USA versuchen Pakistan zum Rückzug zu bewegen

Eine US-Delegation unter der Führung des Oberkommandierenden des US Central Command, Anthony Zinni, bereiste Pakistan am Donnerstag und Freitag vergangener Woche und traf sich mit hohen Militärführern und mit Premierminister Nawaz Sharif. Dem Sprecher des amerikanischen Außenministeriums James Rubin zufolge forderte die amerikanische Delegation die pakistanische Führung auf, "die von Pakistan unterstützten Truppen von der indischen Seite der Kontrollinie zurückzuziehen". Rubins Erklärung stellte die bis dahin stärkste öffentliche Unterstützung der USA für die indische Position dar, die davon ausgeht, daß Pakistan hinter den Einheiten steckt, die auf die indische Seite der LoC vorgedrungen sind.

Die politischen und militärischen Führer Pakistans haben den Appell ihres traditionellen Verbündeten und Waffenlieferanten zurückgewiesen und bestehen darauf, daß ein Ende der gegenwärtigen Kämpfe mit einem definitiven Zeitplan für indisch-pakistanische Gespräche über die Souveränität von Kaschmir verbunden sein müsse. Außerdem fordern die Pakistanis, es müsse dafür gesorgt werden, daß im Falle eines Scheiterns dieser bilateralen Gespräche die Vereinten Nationen oder andere außenstehende Kräfte sich in den Disput über Kaschmir einschalteten.

"Situationen wie in Kargil werden ausbrechen, solange der 52-jährige indisch-pakistanische Streit über Kaschmir nicht vom Tisch ist", bekräftigte Sharif. Ein pakistanischer Militärsprecher beschuldigte die USA einer "einseitigen Sichtweise" in dem gegenwärtigen Konflikt. Er erklärte, die amerikanische Linie ermutige Indiens Kriegspläne.

Militärische und politische Führer in Indien wiesen dagegen die Vorstellung sofort zurück, daß ein Rückzug der von Pakistan unterstützten Truppen auf Positionen auf der pakistanischen Seite der LoC an Gespräche über Kaschmir gebunden werden müßten. Innenminister L. K. Advani weigerte sich rundheraus, in Betracht zu ziehen, Indien könnte "den Eindringlingen freies Geleit gewähren".

Am Sonntag traf der zweite Stellvertreter des amerikanischen Außenministers, Gibson Lampher, in New Delhi mit dem indischen Außenminister Jawant Singh und dem Vorsitzenden des nationalen Sicherheitsrats, Brajesh Mishra, zusammen. Lampher, der Zinni auf seiner Reise nach Islamabad begleitet hatte, bestreitet, ein pakistanisches Rückzugsangebot überbracht zu haben. In Rücksichtnahme auf Indien, das äußerst empfindsam gegenüber jeder Andeutung einer "Internationalisierung" der Kaschmir-Frage ist, sagte Lampher, er sei nicht als Vermittler nach Indien gekommen, sondern wolle die indischen Führer lediglich über die amerikanische Mission in Islamabad unterrichten.

Nichtsdestoweniger sind die USA offensichtlich aktiv darum bemüht, die Krise zu entschärfen. Einem Bericht der Washington Post vom Sonntag zufolge wurde Zinni nach Islamabad entsandt, nachdem Präsident Clinton einen Brief von Vajpayee erhalten hatte. Dieser habe darauf hingewiesen, daß die schweren Verluste Indiens beim Versuch, die strategischen Positionen auf seiner Seite der LoC zurückzuerobern, es nötig machen könnten, das pakistanische Territorium militärisch anzugreifen. Eine solche Aktion könnte leicht einen umfassenden Krieg auslösen, noch dazu zwischen Staaten, die erwiesenermaßen über Atomwaffen verfügen.

In der indischen Presse wurde herausgestellt, daß Washington seine Aufforderung an Pakistan, die LoC zu respektieren, nicht mit Sanktionsdrohungen verbunden habe. Aber die pakistanische Zeitung Dawn berichtet, Washington habe durchblicken lassen, "die Dinge könnten sich schlecht für Pakistan entwickeln", wenn es den Wünschen der USA nicht nachkomme, und in der Washington Post hieß es, die USA könnte einen hundert-Millionen-Dollar-Kredit des Internationalen Währungsfonds zurückhalten, der nächsten Monat an Pakistan ausgezahlt werden soll. (Im letzten Jahr haben die USA und andere westliche Länder die Sanktionen gegen Pakistan gelockert, die verhängt worden waren, nachdem Pakistan auf die indischen Atomwaffentests mit eigenen Tests reagiert hatte. Sie fürchteten, Pakistan könnte nicht mehr in der Lage sein, seinen Schuldendienst zu leisten, und dies könnte wirtschaftliche und politische Unruhen auslösen.)

Offensichtliche Differenzen zwischen Sharif und dem Generalstabschef der Armee, General Pervez Musharraf, die nach dem Besuch Zinnis sichtbar wurden, scheinen ihre Ursachen in Meinungsverschiedenheiten darüber zu haben, wie auf die USA zu reagieren sei. Am Samstag erklärte Musharraf, es würden Schritte unternommen, ein Treffen zwischen Clinton und Sharif zu arrangieren, aber das von Sharif kontrollierte staatliche Fernsehen erwähnte keine solche Initiative. Vorher schon hatte Musharraf zum erstenmal implizit zugegeben, daß die in Kargil-Dass-Batalik kämpfenden anti-indischen Truppen von Pakistan kontrolliert werden, als er gegenüber Reportern sagte, es sei "die Entscheidung des Premierministers", ob sie zurückgezogen würden oder nicht. Er fügte dann pointiert hinzu: "Wir werden nicht einseitig abziehen."

Einen Bericht der Londoner Sunday Times zufolge haben die pakistanischen Generäle einen Vorschlag der Regierung für einen schrittweisen Rückzug gekippt. Es wird allgemein vermutet, daß die gegenwärtige Verletzung der LoC ohne Wissen der Regierung vom pakistanischen Militär veranlaßt wurde, das im übrigen in den letzten vierzig Jahren zum größten Teil die Regierungen gestellt hat.

Was immer die Differenzen zwischen den zivilen und militärischen Führern Pakistans sein mögen, beide haben bis hin zu Atomkriegsdrohungen mit dem Säbel gerasselt. Am Dienstag sagte Sharif vor Soldaten in der pakistanischen Provinz Azad-Kaschmir, nahe der LoC: "Die Atom- und Raketen-Technologie hat uns großen Mut verliehen."

Vajpayees riskantes Spiel an der LoC

Indiens politische und militärische Elite gibt sich nicht weniger kriegerisch. Letzten Freitag forderte Kushabhau Thakre; der Präsident der Bharatiya Janata Party (BJP), Pakistan geradezu heraus, einen nuklearen Erstschlag gegen Indien zu führen. Die BJP ist die größte Partei in der geschäftsführenden Koalition Indiens. "Soll Pakistan es doch tun", war Thakres Antwort auf eine Frage, ob Indien zurückschlagen werde, wenn Pakistan Atomwaffen gegen Indien einsetze. "Es wird die Folgen schon spüren." Einige Tage vorher veröffentlichte der Organizer, die Zeitung des Rashtriya Swayam Sewak Sangh (RSS) - eine chauvinistische Hindu-Organisation, die einen großen Teil des Kaders der BJP stellt - einen Leitartikel, in dem ein Nuklearschlag Indiens gegen Pakistan befürwortet wurde.

Am Donnerstag versuchte Vajpyee offensichtlich, die Kriegsbegeisterung, die große Teile der indischen Elite, darunter auch viele seiner eigenen Minister, ergriffen hat, mit der Erklärung zu dämpfen, daß Indien keine Pläne habe, die LoC zu überschreiten. Aber schon am Samstag sagte er, eine solche Aktion könne nicht ausgeschlossen werden. Er sagte: "Die Medien stellen mir andauernd diese Frage, aber es ist eine Frage, die im Moment schwer zu beantworten ist. Wir werden zur gegeben Zeit die richtige Entscheidung fällen."

Obwohl die indische Armee die pro-pakistanischen Kräfte in der Kargil-Dass-Batalik Region seit acht Wochen attackiert und seit vier Wochen beinahe täglich aus der Luft bombardiert, war sie bisher nicht in der Lage, die Nachschublinien ihrer Gegner zu unterbrechen. Der Granatenbeschuß durch pakistanische Truppen vom pakistanisch kontrollierten Azad Kaschmir aus behindert die indische Gegenoffensive (beide Seiten beschießen routinemäßig die gegnerischen Positionen auf beiden Seiten der LoC). Das felsige, öde Terrain läßt jeden Angriff auf die verbunkerten Positionen der "Eindringlinge" auf den Spitzen der Berge zu einem Abenteuer mit möglicherweise schweren Verlusten werden. Dem indischen Verteidigungsminister George Fernandes zufolge könnte die Vertreibung der pro-pakistanischen Kräfte noch bis September dauern.

Die Schwierigkeiten des indischen Militärs, die Operation "Vijay" (Sieg) zu einem raschen Erfolg zu führen, hat zu intensiven Spekulationen geführt, daß Indien entweder die pakistanischen Stellungen in Azad Kaschmir, von denen aus die "Eindringlinge" versorgt werden, angreifen oder anderswo eine zweite Front eröffnen könnte. Außerdem verschärft der bevorstehende Monsun die brisante Situation noch mehr. Die heftigen Regenfälle, die in zwei oder drei Wochen beginnen werden, würden den indischen Truppen in den meisten Grenzregionen einen Gegenschlag zusätzlich erschweren. Dadurch wird eine Entscheidung über die weitere Respektierung der LoC immer dringlicher.

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