Der Kosovokrieg, das nationale Interesse und die Rechtswendung der SPD

Am 17. September erscheint die September/Oktober-Ausgabe der Zeitschrift "gleichheit". Sie enthält wichtige Artikel aus dem World Socialist Web Site. Wir dokumentieren hier das "editorial".

Die Geschichte bewegt sich in der Zeit, aber ihr Rhythmus entspricht nicht dem regelmäßigen Wechsel von Wochen, Monaten und Jahren. Nach der (mit Ausnahme der Wendejahre 89/90) eher behäbigen Ära Kohl, überschlagen sich seit dem Regierungswechsel vom vergangenen November die Ereignisse. Die meisten Mitglieder der rot-grünen Koalition hätten selbst ungläubig gestaunt, hätten sie damals gewusst, wo sie neun Monate später stehen würden: Das Vertrauen der Wähler gründlich verspielt, die Hoffnungen auf Abbau der Arbeitslosigkeit und Verbesserung der sozialen Lage verflogen, statt dessen ein alles beherrschender Drang zum Sparen auf Kosten der Schwächsten; statt Umweltschutz grenzenlose Willfährigkeit gegenüber den großen Wirtschaftsverbänden; statt friedensfördernder Außenpolitik ein Krieg, der den Balkan in ein politisches und physisches Trümmerfeld verwandelt hat.

Für das Tempo der Veränderungen kann nur bedingt die auf "Modernität" eingeschworene Regierung verantwortlich gemacht werden. Sie hat die Ereignisse nicht bestimmt, sie wurde von ihnen getrieben. Politische Weitsicht und Einblick in gesellschaftliche Prozesse gehören nicht zu Schröders Stärken, und zu denen der Grünen schon gar nicht. Die tektonischen Verschiebungen im Unterbau der Gesellschaft, die nun schockartig an die politische Oberfläche treten, haben sich über Jahre entwickelt. Der Kosovokrieg markiert einen Wendepunkt, aber er hat nur sichtbar werden lassen, was sich seit langem angebahnt hat.

Seit der deutschen Vereinigung und dem Zusammenbruch von Warschauer Pakt und Sowjetunion hat sich die Stellung Deutschlands in der Welt grundlegend verändert, und das hat wiederum dramatische Rückwirkungen auf die innere Lage. Aus der früheren Grenzlage ist die Bundesrepublik ins Zentrum Europas gerückt und in weit stärkerem Maße als früher zur herausragenden Macht westlich von Russland geworden. Die Nachkriegszeit erweist sich unter diesen Umständen trotz ihrer langen Dauer von über vier Jahrzehnten als historische Ausnahmesituation. In dieser Zeit herrschten zwei eng miteinander verbundene politische Illusionen vor, die auch die Vorstellungswelt der SPD geprägt haben.

Die erste war, dass bewaffnete Konflikte zwischen imperialistischen Großmächten, wie sie sich in den beiden Weltkriegen blutig entladen hatten, endgültig der Vergangenheit angehören. Die unbestrittene Hegemonie der Vereinigten Staaten und die Konfrontation mit der Sowjetunion verliehen dem atlantischen Bündnis eine Stabilität, die jeden zukünftigen Bruch auszuschließen schien. Der europäische Einigungsprozess schritt langsam aber stetig voran, ohne dass dies jenseits des Atlantiks als Bedrohung empfunden wurde. Deutschland brauchte unter diesen Umständen keine selbständige Außenpolitik - außer man betrachtet das Bemühen, mit jedem beliebigen Regime der Welt gute Geschäftsbeziehungen anzuknüpfen, als solche. Es entwickelte sich im Kielwasser der USA wieder zu einer wirtschaftlichen Großmacht, ohne dass es seinen nationalen Interessen besonderen Nachdruck verleihen musste.

Mit dem Ende der Sowjetunion hat sich dies geändert. Die Notwendigkeit, die Reihen gegen die östliche Supermacht zusammenzuschließen, besteht nicht mehr. Die Nato verliert ihre Existenzberechtigung. In außenpolitischen Zirkeln setzt sich die Auffassung durch, dass Deutschland seine nationalen Interessen aggressiver vertreten und ihnen notfalls militärisch Nachdruck verleihen muss. Das wird als "Rückkehr zur Normalität" bezeichnet. Außenpolitische Fachjournale kehren zur Sprache des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zurück: Außenpolitik wird wieder in Begriffe wie "strategische Ziele" und "lebenswichtige Interessen" gefasst.

Typisch ist ein Beitrag, den Christian Hacke, Professor an der Bundeswehrhochschule in Hamburg, für die Wochenzeitung Das Parlament verfasst hat. Er stellt provokativ die Frage, ob "das vereinte Deutschland angesichts dramatischer Renationalisierungstendenzen in Europa und in der Welt und angesichts offenkundiger Mängel und Krisen einer gemeinschaftlich orientierten Außenpolitik im Angesicht des Krieges auf dem Balkan die Dämonisierung einer Politik des nationalen Interesses und die Idealisierung des Gemeinschaftsinteresses aufrechterhalten" kann. Er gelangt zum Schluss, dass die "Neubestimmung der nationalen Interessen Deutschlands" dringend notwendig sei.

Der Kosovokrieg hat diese Fragen, die in Fachkreisen seit langem diskutiert werden, schlagartig ins politische Bewusstsein gerückt. Hinter der Fassade der demonstrativ zur Schau getragenen Einheit sind die schwelenden Interessengegensätze zwischen Deutschland und den USA deutlich geworden. Darin dürfte einer der wichtigsten Gründe für die abrupte Abkehr der SPD und der Grünen von ihren früheren, pazifistischen Standpunkten liegen. Wird das nationale Interesse berührt, lassen sie - wie es schon 1914 hieß - "das Vaterland nicht im Stich".

Die zweite Illusion der Nachkriegszeit war, dass die Klassengegensätze in der kapitalistischen Gesellschaft auf Dauer gebändigt werden können. Mit Hilfe von Sozialstaat, sozialem Ausgleich und Sozialpartnerschaft wurden die Brüche in der Gesellschaft überbrückt und gekittet. In der Sprache der SPD, die davon nicht schlecht lebte, nannte sich das "soziale Gerechtigkeit".

Mit der friedlichen Außenpolitik ist auch der innere Frieden am Ende. Um aggressiv nach außen auftreten zu können, muss das Innere des Hauses in Ordnung gebracht werden. Sozialstaat und sozialer Ausgleich erweisen sich dabei als unnötiger Ballast - als Standortnachteil und als Hindernis für die nötige Erhöhung der Rüstungsausgaben.

Nicht zufällig wurde Eichels Sparpaket auf dem Höhepunkt des Kosovokrieges beschlossen. Plötzlich wurde die Konsolidierung des Haushalts zur alles überragenden Notwendigkeit. Eichel verstieg sich sogar zu der Behauptung, dies sei "sozial gerecht", weil der Staat nur so seine Handlungsfähigkeit zurück erlangen könne. Als ob die Sozialausgaben jemals wieder erhöht werden sollen! In den USA, wo der Haushalt inzwischen schwarze Zahlen schreibt, wird weiter gekürzt, die Steuerlast der Reichen gesenkt und die Militärausgaben ins Astronomische gesteigert.

Die abrupte Kehrtwende der SPD hat in ihren Reihen noch einmal den Ruf nach "sozialer Gerechtigkeit" laut werden lassen, vor allem aus Kreisen von Sozialpolitikern und Gewerkschaftsführern, der Spezialisten in Fragen Sozialpartnerschaft. Aber das ist nur ein Reflex aus der Vergangenheit, ein nostalgischer Rückblick auf die sechziger und siebziger Jahre. Die Verwirklichung von sozialer Gerechtigkeit unter Bedingungen der Globalisierung erfordert eine ganz andere Orientierung als jene der Sozialdemokratie, die gewohnt ist, in nationalen Kategorien zu denken, und nichts so sehr fürchtet wie offene Klassenkämpfe.

Die Gegner des Sparpakets in der SPD bekamen schnell kalte Füße, als sich herausstellte, dass ihr Appell an soziale Gerechtigkeit auf Resonanz stieß. Dem Protest folgte die Bankrotterklärung auf dem Fuß. Die oppositionellen Abgeordneten erklärten, dass sie sich der Fraktionsdisziplin beugen und im Bundestag für das Sparpaket stimmen werden. Lafontaine-Freund Klimmt ließ sich vier Tage nach der verlorenen Landtagswahl in die Kabinettsdisziplin einbinden.

Im Kielwasser der SPD bemüht sich inzwischen die PDS eifrig jene aufzusammeln, die bei dem heftigen Wendemanöver über Bord gegangen sind. Dabei folgt sie ihr in gebührendem Abstand auf dem Weg nach rechts. Blair und Schröder hatten kaum ihr Programm der "modernen" Sozialdemokratie verkündet, da konterte Gysi mit dem "modernen" Sozialismus. Der Inhalt des unscheinbaren Wörtchens "modern" ist immer derselbe: Die Umwertung aller Werte und der Abschied von allem, was entfernt an soziale Gerechtigkeit erinnert.

Die PDS musste sich nach dem Ende der DDR von vielen Merkmalen des Stalinismus verabschieden, aber eines hat sie beibehalten: die nationale Orientierung, die die stalinistische Bürokratie seit jeher mit der sozialdemokratischen teilt. Solange es gegen Belgrad und Milosevic ging, konnte sie sich noch pazifistisch gebärden, gilt es dagegen, die deutschen Interessen gegen die "Hegemonie der USA" durchzusetzen, dann werden Scharping und Fischer auf sie zählen können - schließlich wetteifern ihre französischen Genossen in Sachen Antiamerikanismus seit langem mit den Gaullisten. Wo sie Regierungsverantwortung trägt - wie in Schwerin und Magdeburg - hat sich die PDS längst der "nationalen Verantwortung" gestellt und den Sozialabbau mitgetragen.

Das Fehlen jeder ernstzunehmenden Opposition gegen den Kurs der Regierung kommt zur Zeit vor allem der extremen Rechten zugute. Orientierungslosigkeit und Verzweiflung der Massen schlagen sich in Stimmengewinnen für die DVU und Zulauf zu rechten Jugendbanden nieder. Die große Mehrheit verharrt in Passivität, wie die hohe Zahl von Stimmenthaltungen bei Wahlen zeigt. An Wut und Empörung gegen das Sparprogramm mangelt es nicht, was fehlt, ist eine politische Orientierung.

Eine solche Orientierung kann im Zeitalter der Globalisierung nur von einem internationalen Standpunkt ausgehen. Sie muss die Masse der arbeitenden Bevölkerung über alle nationalen, ethnischen und sonstigen Grenzen hinweg zusammenschließen. Nur so ist es möglich, den mächtigen Finanz- und Wirtschaftsinteressen die Stirn zu bieten, die das politische Leben beherrschen. Von der SPD, die organisch mit dem Nationalstaat und dem nationalen Interesse verbunden ist, kann eine solche Orientierung nicht erwartet werden.

Auch diese Ausgabe der gleichheit bemüht sich, zu einer neuen politischen Orientierung beizutragen. Sie beleuchtet die oben skizzierten Fragen von mehreren Seiten. Wie immer enthält sie nur einen kleinen Ausschnitt aus dem reichhaltigen Material, das auf dem World Socialist Web Site erschienen ist. Aufgrund der Sommerferien erscheint sie außerdem verspätet und erstreckt sich über einen Zeitraum von fast drei Monaten.

Siehe auch:
Rot-grüner Militarismus
(31. März 1999)
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