Die Krise an der Wall Street und verlorene Illusionen

Die US-Finanzmärkte eröffneten am Montag Morgen in recht nervöser Stimmung. Zweifellos hatte es das ganze Wochenende hindurch hinter den Kulissen hektische Bemühungen gegeben, die Märkte vor Wiederaufnahme des Handels am Wochenbeginn zu stabilisieren. Man kann nicht voraussagen, ob sich der Markt wieder fangen oder weiter absacken wird. Unabhängig von der kurzfristigen Entwicklung herrscht jedoch der Eindruck vor, dass sich der Spekulationswahn der letzten zehn Jahre seinem Ende zuneigt, und dass der Einbruch der vergangenen Woche einen grundlegenden Umschwung des ökonomischen Klimas anzeigt.

Die bisherigen Verluste - man schätzt sie auf 2 Billionen Dollar (was durchschnittlich rund 7000 Dollar pro Einwohner der USA entspricht) - sind so riesig, dass sie nicht mit technischen Tricks behoben werden können. Es sind bereits zahlreiche Geschichten in Umlauf über kleine und große Investoren, die sich durch den Kursverfall gezwungen sahen, beträchtliche Teile, wenn nicht ihre gesamten Anlagen zu liquidieren, um Sicherheitsforderungen aus anderen riskanten Spekulationsgeschäften nachzukommen.

Die New York Times berichtete am Sonntag, dass große Wertpapierhändler wie Morgan Stanley Dean Witter und Goldman Sachs derart in die aufgeblähten Internet-Aktien eingestiegen sind, dass ein Zusammenbruch der Kurse bei den High-Tech-Anlagen ihre eigene Zukunft gefährde. Bei den Investmentfonds und anderen privaten Spekulationsunternehmen müssen die Verluste gigantisch sein. Sie werden aber erst an die Öffentlichkeit dringen, wenn es tatsächlich zu Pleiten kommt.

Der NASDAQ sank während der vergangenen Woche um 25,3 Prozent, ein Negativ-Rekord. Der Dow-Jones-Index für Industriewerte fiel um 7,3 Prozent, der größte Absturz seit 1989. Am Freitag hatte sich der Abwärtstrend allgemein durchgesetzt. Sämtliche 30 Werte des Dow Jones sanken ab, ebenso wie 95 der 100 Unternehmen auf dem NASDAQ-Index und 484 der 500 von Standard & Poor erfassten Werte.

Seitdem die Technologie-Kurse am 10. März ihren Höhepunkt erreicht hatten, sind allein bei den vom NASDAQ erfassten Unternehmen mehr als 2,2 Billionen Dollar an Papierwerten vernichtet worden. Die größten Einbrüche verzeichnen die zuvor rasant ansteigenden Internet-Aktien. Amazon.com sank auf 46,875 Dollar pro Aktie, ein Rückgang um 56 Prozent im Vergleich zu seiner höchsten Bewertung. Priceline.com sank um 64 Prozent, E-trade um 69 Prozent, WebMethods um 79 Prozent, Microstrategy um 89 Prozent. Andere, weniger spekulative Computer-Aktien verzeichneten ebenfalls dramatische Einbrüche: AOL sank um 41 Prozent, Microsoft um 38 Prozent, Cisco Systems um 29 Prozent, IBM um 24 Prozent.

Viele Warnsignale deuten auf eine tiefe Instabilität des Finanzsystems hin. Der Großteil des Handels vom vergangenen Freitag, der gegen Börsenschluss in Panik auszuarten drohte, wurde von großen institutionellen Anlegern, nicht von Kleinhändlern getätigt. Dies deutet darauf hin, dass die Talsohle noch nicht erreicht ist, sondern dass es noch schlimmer kommen wird, wenn erst die Millionen Kleinanleger und Day Trader, die in den letzten Jahren an die Börse geströmt sind, Angst bekommen und auszusteigen beginnen.

Was die Bevölkerung der USA angeht, so hat heute zum ersten Mal in der Geschichte -anders als noch beim Börsenkrach von 1987 - eine Mehrheit beträchtliche Summen an der Börse investiert. Seit 1991 sind mehr als vierzig Millionen Menschen ins Aktiengeschäft eingestiegen. Vielen Lohn- und Gehaltsempfängern dienen diese Geldanlagen als Alterssicherung. Zum größten Teil werden sie von Investmentfonds verwaltet, die sie in Aktien und Obligationen stecken. Die finanziellen Einbußen der vergangenen Woche - und jene, die noch bevorstehen - werden erhebliche gesellschaftliche und politische Auswirkungen zeitigen.

Spekulation und Parasitentum

Seit Monaten diskutiert die Finanzpresse in den USA und international darüber, ob und wann die beispiellose spekulative Seifenblase an der Wall Street platzen wird. Bereits vor mehr als drei Jahren warnte der Vorsitzende der amerikanischen Notenbank Alan Greenspan vor dem "irrationalen Rausch" an den US-Finanzmärkten. Und damals stand der NASDAQ bei 1300 Punkten, während er am vergangenen Freitag bei über 3300 schloss und am 10. März sogar die Rekordmarke von 5000 durchbrochen hatte.

Bei den Internet-Aktien beträgt das Kurs-Gewinn-Verhältnis 200, d.h. der Gesamtwert der Aktien ist zweihundert Mal so hoch wie die Gewinne der Unternehmen. Im Vergleich dazu liegt das Kurs-Gewinn-Verhältnis bei den Traditionsunternehmen, die im Index S&P 500 erfasst sind, bei durchschnittlich 30, und selbst dies gilt im Vergleich zu dem historischen Durchschnittswert von 13 bereits als spekulativ überhöht.

Worin besteht die grundlegende Bedeutung der grotesken Überbewertung der Aktien? Sie bedeutet, dass die reale Wertschöpfung - die sich im Arbeitsprozess, durch die produktive Tätigkeit arbeitender Menschen vollzieht - seit geraumer Zeit von der Anhäufung von Reichtum abgekoppelt ist. Durch Börsengänge, Buy-outs, Fusionen und noch weitaus undurchsichtigere, unsaubere Finanzmanipulationen wurden gigantische Papierwerte angehäuft. Doch diese widerspiegeln nicht einen tatsächlichen Anstieg des Vermögens der Gesellschaft insgesamt, sondern stellen nur zusätzliche Ansprüche auf Werte dar, die im Arbeitsprozess geschaffen werden müssen.

Das fiktive Kapital überwuchert die gesamte Gesellschaft wie ein bösartiges Geschwür. Auf der Grundlage dieser Explosion der Papierwerte hat die Spaltung der amerikanischen Gesellschaft zwischen den Reichen und der übrigen Bevölkerung Ausmaße angenommen wie nie zuvor. Vom Gesamtanstieg des Vermögens in den vergangenen zwei Jahrzehnten - den achtziger Jahren unter Ronald Reagan und den neunziger Jahren unter Bill Clinton - entfielen 97 Prozent auf die reichsten 20 Prozent der Bevölkerung und 3 Prozent auf die verbleibenden 80 Prozent.

Aus jüngsten Berichten geht hervor, dass sich das persönliche Vermögen der Vorstandsmitglieder der 60 größten Computer- und Internet-Firmen inzwischen auf mehr als 110 Milliarden Dollar beläuft. Diese Summe ist größer als das gesamte Budget für Bildung oder für die Programme zur Armutsbekämpfung. Nimmt man das Amerika der Konzerne insgesamt, so verdient das durchschnittliche Mitglied einer Firmenleitung heute pro Tag den durchschnittlichen Jahreslohn eines Arbeiters. Bei den Großunternehmen kommen die Mitglieder der Geschäftsleitung auf durchschnittlich je 11 Millionen Dollar - Gehalt, Zulagen und Aktienoptionen.

Der Verbraucherboom der letzten Jahre speiste sich hauptsächlich aus den Ausgaben der privilegiertesten Schichten, die in einem nie gekannten Ausmaß teure Luxusgüter erwarben und sich Dienstpersonal für den Haushalt zulegten. Mit anderen Worten, alle Ressourcen der Gesellschaft, die menschlichen Ressourcen nicht ausgenommen, wurden einer vermögenden Minderheit zur Verfügung gestellt, während der Lebensstandard der arbeitenden Bevölkerung insgesamt stagniert.

Internationale Widersprüche

Die enorme Masse des fiktiven Kapitals kann nicht endlos aufrechterhalten werden. Eine kolossale Liquidation ist unvermeidlich und kann von einer Reihe Faktoren ausgelöst werden.

Eine Ähnlichkeit zu dem Crash von 1987, von der die Medien heute wenig Notiz nehmen, sind die wachsenden Spannungen zwischen den großen kapitalistischen Blöcken, insbesondere zwischen den Vereinigten Staaten und der Europäischen Union. Als 1987 die Kurse einbrachen, trugen die Reagan-Regierung und die Bundesrepublik Deutschland gerade einen offenen Konflikt über die Geld- und Währungspolitik aus. Die gegenwärtigen Börsenturbulenzen finden vor dem Hintergrund eines heftigen Disputs zwischen der Clinton- und der Schröder-Regierung wegen der Besetzung des Chefpostens beim Internationalen Währungsfonds statt. Die USA hatten den von Schröder favorisierten Kandidaten abgelehnt und sogar das seit fünfzig Jahren bestehende Einvernehmen in Frage gestellt, wonach der Chef des IWF von den Europäern, und jener der Weltbank von Amerika nominiert wird.

Die Vertreter des europäischen Banken- und Finanzwesens machen keinen Hehl aus ihrer Befürchtung, dass ein abruptes Ende der Spekulationshausse an der Wall Street und ein Finanzdebakel in den USA die gesamte Weltwirtschaft in eine Depression werfen könnte. Sie verweisen auch auf das wachsende amerikanische Handels- und Zahlungsbilanzdefizit, das in den vergangenen fünf Jahren gigantische Ausmaße angenommen hat und nur aufrechterhalten werden konnte, weil ausländische Investoren die für Exporte ausgegebenen Dollars in das Land zurückpumpten, um von der Bonanza an der Wall Street zu profitieren.

Jede Störung dieses Geldflusses, der sich allein im letzten Jahr auf 720 Milliarden Dollar summierte, hätte verheerende deflationäre Auswirkungen auf die Börse und die US-Wirtschaft als Ganze. Außerdem würde der Dollar stark an Wert einbüßen.

Die gegenwärtige Krise enthält alle Elemente, die einen Teufelskreis von fallenden Aktienkursen und einem Fallen des US-Währungskurses auslösen können. Wenn aufgrund der abstürzenden Aktienkurse ausländisches Kapital von den US-Märkten abgezogen wird, gerät der Dollar stark unter Druck, weil dieses Kapital dann in Yen und Euro angelegt wird. Und jeder bedeutsame Fall des Dollars wird die Kapitalflucht nur beschleunigen, denn er wird den realen Wert der in Dollar notierten Investitionen an den US-Börsen weiter nach unten treiben.

Die politischen und gesellschaftlichen Folgen

Überdies findet die Börsenkrise vor dem Hintergrund erbitterter Auseinandersetzungen innerhalb der herrschenden Elite statt. Diese Konflikte widerspiegeln sich in zahlreichen Vorfällen, von dem gescheiterten Impeachment-Verfahren gegen Clinton bis hin zu dem gegenwärtigen Antitrust-Verfahren gegen Microsoft. Aufgrund dieser Spaltungen und inneren Konflikte ist die herrschende Elite schlecht auf die Erschütterungen vorbereitet, die eine größere Finanz- und Wirtschaftskrise mit sich bringen wird. Vieles deutet darauf hin, dass gerade solche inneren Konflikte, insbesondere Vorbehalte gegen die Internet-Aktien-Milliardäre seitens anderer Teile des Kapitals, den gegenwärtigen Kurssturz mit ausgelöst haben.

Auch die arbeitende Bevölkerung ist auf diese Krise nicht vorbereitet. Der Verfall und Zusammenbruch der alten Arbeiterorganisationen, die Bestandteil der Kontroll- und Disziplinierungsstrukturen gegen die Arbeiter geworden sind, haben sie politisch entwaffnet. Auf ihre politische Bewusstseinsentwicklung dürften die gegenwärtigen Börsenturbulenzen allerdings eine eher heilsame Wirkung haben.

Wie jede Krise werden sie Fiktionen und falsche Vorstellungen entlarven, vor allem die Mythologie des Marktes, die jeden Versuch zur Verbesserung der miserablen sozialen Lage, wie sie das Profitsystem erzeugt, abwürgen soll. Wenn die Illusionen über den Markt zerbersten, dann wird das Gefühl um sich greifen, dass die Bevölkerung belogen und betrogen wurde, dass sie neue Wege beschreiten muss.

Eine große Krise des Kapitalismus wird unbedingt das allgemeine Interesse an Alternativen zum Profitsystem wieder wecken. Die fortschrittlichsten und bewusstesten Menschen in der Arbeitswelt und Jugend werden sich mit den historischen Erfahrungen aus dem neunzehnten und der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts befassen. Damals sahen Massen von Menschen im Marxismus die Grundlage für Bewegungen, die sich einem revolutionären sozialen Wandel verschrieben. Diese Ideen werden erneut große Bedeutung und brennende Aktualität gewinnen.

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