Interview mit Radu Mihaileanu - Regisseur von "Zug des Lebens"

"Wir müssen lernen, diese tiefen Emotionen auszudrücken"

Der Film "Zug des Lebens" hat große internationale Anerkennung gefunden. Der Film von Radu Mihaileanu handelt von den Einwohnern eines kleinen jüdischen Dorfes in Osteuropa, die den Nazis entkommen wollen, indem sie einen fiktiven Deportationszug organisieren, der sie über die sowjetische Grenze bringen soll. Mihaileanu behandelt schreckliche Geschehnisse mit Humor und Einfühlungsvermögen. Der Film, weitaus besser als Roberto Benignis "Das Leben ist schön", ist seit kurzem in Deutschland angelaufen. Er ist bereits auf dem World Socialist Web Site besprochen worden. (Siehe)

Mihaileanu ist in Rumänien geboren und aufgewachsen. Einige Mitglieder seiner Familie sind in den KZs der Nazis umgekommen. 1980, im Alter von 22 Jahren, ist er nach Frankreich gezogen und hat dort Film studiert. "Zug des Lebens" ist sein zweiter Film. Er war vor kurzem in Deutschland und hat der Erstaufführung seines Films in Berlin und Dresden beigewohnt. Stefan Steinberg vom WSWS hat ihn (in englischer Sprache) interviewt.

World Socialist Web Site: Schon vor anderthalb Jahren ist die deutsche Premiere Ihres Films auf dem Filmfestival von Cottbus gezeigt worden. Warum ist er in Deutschland erst so spät in die Kinos gekommen?

Radu Mihaileanu: Die Vorbehalte der Verleiher waren nicht wirklich ideologischer Natur. Sie haben einfach nicht geglaubt, dass der Film in Deutschland ankommen würde. Sie meinten, in Deutschland wäre diese Art Film sehr schwierig, Deutschland werde eine solche Art von Komödie niemals akzeptieren, usw. Roberto Benigni [der italienische Regisseur von "Das Leben ist schön"] hat zum gleichen Thema einen sehr kommerziellen Film gedreht. Mein eigener Film ist komisch und ernst zugleich. Einige Verleiher konnten sich nicht vorstellen, dass der Film sich rentieren würde, aber die jetzigen Verleiher machen ihn wirklich sehr gut bekannt.

In gewisser Hinsicht ist es besser, dass der Film erst jetzt in Deutschland herauskommt. In einigen Ländern lief "Zug des Lebens" zeitgleich mit dem Film von Benigni an. Das hat dazu geführt, dass Journalisten uns in einen Topf geworfen haben - also noch so eine Komödie über den Holocaust - und keiner den Film sehen wollte. Wie "Titanic" mit einem kleineren Schiff. Wer wollte schon ein zweites "Titanic" sehen - noch dazu mit einem kleineren Schiff? Letztlich ist es so besser - es ist eine angemessene Lösung.

WSWS: Sie sind seit zwei oder drei Tagen hier in Deutschland - haben sie schon irgend welche Schlussfolgerungen aus den Reaktionen der deutschen Zuschauer ziehen können?

RM: Ich bin hier auf Reaktionen gestoßen, wie ich sie nirgendwo sonst erlebt habe. Es hat so viele ernsthafte Diskussionen über die deutsche Identität und die Shoah gegeben. Das deutsche und das jüdische Volk sind durch eine Tragödie miteinander verbunden. Besonders in der jungen Generation in Deutschland gibt es viel Verwirrung und Schuldgefühle - der Verlust der Unschuld, was wir als Juden auch erlebt haben.

Ein Beispiel. Am ersten Abend hier hatten wir Diskussionen über den Film, die bis um vier Uhr Morgens dauerten. Ich habe mit einem jungen Mädchen gesprochen, deren Vater in der Wehrmacht gewesen war. Das war sehr aufschlussreich und schön. Das Mädchen hat ihren Vater immer gefragt: Was hast du in der Wehrmacht getan? Und der Vater wollte ihr nie darauf antworten. Der Vater hat zugegeben, dass es fürchterlich war, was sie [die Nazis] dem jüdischen Volk angetan haben. Er meinte aber (er war Österreicher), dass die Juden in Wien immer die besten Arbeitsplätze bekommen hätten, dass sie alle Ärzte, Rechtsanwälte usw. stellten. Die Tochter hat mit einem tiefen Schmerzgefühl gelebt, einem tiefgehenden Problem. Ich hatte zwar gewusst, dass es das gibt, es kam aber hier sehr scharf auf, und die Frage stellte sich: Wie konnte das passieren?

Auch bei uns gab es dieses Schweigen, wenn auch aus anderen Gründen. Es ist wichtig, dass wir solche Probleme nicht einfach leugnen. Als deutsches und jüdisches Volk mit derselben geschichtlichen Last sollten wir es nicht leugnen. Wir müssen lernen, diese tiefen Emotionen auszudrücken. Alle Preise, die ich für meinen Film bekommen habe, sind nichts im Vergleich zu dem Gespräch mit diesem jungen Mädchen, die ihr Herz ausgeschüttet hat. Sie ist kein Opfer, sie ist für nichts verantwortlich, aber dennoch trägt sie eine sehr schwere Last. Diese Fragen sind immer noch nicht gelöst.

WSWS: In den Diskussionen über Ihren Film auf dem Filmfestival in Cottbus kam der Vorwurf auf, dass man über den Holocaust keine Witze machen dürfe.

RM: Das stimmt. Ein Mädchen im Publikum fragte: "Wie können sie nur so etwas machen? Uns hat man beigebracht, dass man über solche Sachen nicht lacht." Das ist eine normale Reaktion, obwohl ich sie zum ersten Mal in Deutschland gehört habe. Ich konnte sie verstehen. Man kann nichts lernen, wenn man sagt, erst müssen wir lachen und anschließend unterhalten wie uns ernst darüber. Man muss so ein Thema ernst nehmen. Aber ich sehe auch die Gefahren, die Folgen, die es hat, wenn man den Menschen verbietet, über so ein Thema Witze zu machen, es anders anzupacken, auf andere Art damit umzugehen. Das könnte bei einigen dazu führen, dass sie das jüdische Volk hassen. Sie werden denken, dass die Juden ihnen vorschreiben wollen, wie sie über solche Dinge zu sprechen haben.

WSWS: Auf dem Jüdischen Filmfestival in Berlin hat eine ältere jüdische Frau kritisiert, wie Sie das jüdische Dorf - das Schtetl dargestellt haben.

RM: Alle Meinungen sind gut, schließlich bin ich kein Diktator. Es wäre langweilig, wenn jeder nur sagte, dass ihm der Film gefalle. Was sollte ich damit anfangen? Aus Kritik kann ich lernen. Auch andere haben gesagt, dass das Schtetl nicht so war - natürlich war es nicht so, es ist erfunden. Von ihrem Standpunkt aus hatten sie recht. Ich verstehe die Frau - sie ist in den Film gegangen, um ihr Schtetl zu sehen. Aber ich kann nicht das wiedergeben, was alle sich unter einem Schtetl, bzw. ihrem Schtetl vorstellen. Ich kann nicht zwei Millionen Schtetls in einem Film zeigen. Es ist Chagall. Sie ist gekommen, um Rembrandt zu sehen, aber meine Ausstellung ist Chagall. Solche Reaktionen hat es manchmal auch in Amerika gegeben. Die Leute erwarten etwas ganz bestimmtes, aber in Wirklichkeit waren die Schtetls in den verschiedenen Ländern und sogar innerhalb eines Landes sehr unterschiedlich. Es gab große Schtetls und ganz kleine.

Dabei klingt noch ein weiteres Element an, das ebenfalls in den Diskussionen in Dresden aufkam: Also wir - die Juden - seien perfekt. Wir sind nicht perfekt, ich hasse das. Es ist wichtig, den jüdischen Humor zu verstehen, die Rolle des Klischees, die Art, wie wir über uns selbst sprechen. Wir haben eine sehr eigene, komische und ausgefallene Art. Das ist der jüdische Humor, wir ziehen viel über uns selbst her, mehr als über andere. Die Franzosen ziehen über die Belgier her, die Rumänen über die Bulgaren. Die Juden erzählen viele Witze über sich selbst ... über ihre Mutter, ihren Rabbi, ihren Buchhalter, über Gott. Sie diskutieren ständig mit Gott.

WSWS: Ich weiß, dass eines Ihrer Projekte mit einer fiktiven Machtübernahme rechtsextremer, faschistischer Elemente in Frankreich zu tun hat. In Österreich beteiligt sich Haider mit seiner Partei an der Regierung. Welche Rolle spielt in Frankreich die äußere Rechte, die bereits einige Städte kontrolliert?

RM: In Frankreich kam uns vor zwei Jahren ein Wunder zu Hilfe. Ich meine die Fußballweltmeisterschaft. Einen Monat zuvor hatte Le Pen [der Führer des faschistischen Front National - FN] erklärt, in der französischen Mannschaft gebe es keine Franzosen mehr (denn im französischen Team spielen viele farbige Spieler aus verschiedenen französischen Kolonien mit), sie könnten ja nicht einmal die französische Nationalhymne, die Marseillaise, singen. Er hatte wirklich nichts mehr zu melden, als dasselbe Team einen Monat später die Weltmeisterschaft gewann. Das ganze französische Volk feierte diese Mannschaft und identifizierte sich mit ihrem wirklich sehr gemischten Team.

Vor kurzem ist die FN auseinandergebrochen, es kam zum Konflikt zwischen Le Pen und einer rivalisierenden Fraktion unter Bruno Megret. Aber die Tatsache bleibt und ist gleichzeitig zum Lachen - eine Million Menschen hatte sich nach dem Fußballerfolg auf den Champs Elysées versammelt. Es waren mehr Menschen auf der Straße, als am Ende des Kriegs, nach Frankreichs Befreiung durch De Gaulle. Momentan hat sich die Situation in Frankreich etwas gebessert.

Aber die Situation in Österreich, Italien und vor allem in Deutschland... In Ostdeutschland gehen Dinge vor, die beunruhigend sind und sehr aufmerksam beobachtet werden müssen. Deutschland und besonders Ostdeutschland sind enge Nachbarn Österreichs. Es ist beunruhigend, weil die wirtschaftliche Situation in Ostdeutschland schlecht ist und die rechtsextremen Ideen sich schnell verbreiten können, wenn die Menschen kein Geld und keine Arbeit haben. Gestützt auf die Lehren der Geschichte müssen wir das Wiederaufleben dieser Rechten sofort bekämpfen, wir können nicht warten.

In diesem Sinn können wir keine einzelnen Länder bestrafen; wir können nicht sagen, nur Österreich ist ein schlechtes Land - sonst igeln sie sich ein. Sie werden ihre Grenzen schließen und das wird das Anwachsen des Faschismus begünstigen. Genau das haben die Deutschen und Amerikaner im Jugoslawienkonflikt gemacht: Sie haben die Kroaten gegen die Serben unterstützt. Man muss alle echten, demokratischen Kräfte in Österreich unterstützen, und das muss sehr schnell geschehen.

WSWS: Also sind Sie nicht für die europäischen Sanktionen?

RM: Ich bin insofern nicht für die Sanktionen, als dass sie sich gegen alle Österreicher richten, obwohl doch nicht alle Österreicher Haider und die Faschisten unterstützen. Es ist falsch, die ganze Bevölkerung auf diese Art und Weise abzulehnen. Wir müssen aus der Geschichte lernen.

Ich erinnere mich an einen interessanten Kommentar, den mein Vater machte, als wir den Reichstag in Berlin besuchten. Er bemerkte, dass es doch seltsam sei, dass es in Deutschland kein Museum über die Auswirkungen gebe, die der Zweite Weltkrieg und Hitlers Politik auf die deutsche Bevölkerung selbst gehabt hatten. Ich spreche nicht über das jüdische Volk oder andere Nationalitäten, die von den Faschisten verfolgt worden waren, sondern über die Verbrechen der Nazis gegen die deutsche Bevölkerung selbst und die deutsche Geschichte. Niemand bringt einem diese Dinge nahe.

Fünfzig Jahre nach dem Krieg ist dieses schlechte Gefühl und diese Verwirrung noch immer vorhanden. Berlin war zerstört, Deutschland war zerstört und die Jugend von heute, die den Krieg nicht erlebt hat, ist noch immer darin gefangen. Niemand spricht darüber, aber in psychologischer Hinsicht können die Auswirkungen von Krieg und Faschismus noch fünfzig oder hundert Jahre nachwirken.

Als ich letztes Jahr nach Berlin kam, traf mein Besuch gerade mit der Bombardierung von Belgrad zusammen, und ich musste über die Ähnlichkeit der zwei zerstörten Hauptstädte nachdenken. Für mich ist Berlin sowohl eine Stadt als auch eine Nicht-Stadt, obwohl es hier sogar eine ausgeprägte Kulturszene mit einer Untergrundkultur gibt. Aber wenn man seine Architektur betrachtet, dann ist der Geist der Stadt, der Geist seiner Architektur zerstört. Und ich stelle mir vor, dass in Belgrad das gleiche passiert ist... Es war eine Bestrafung. Dies war die Strafe der NATO für die Tatsache, dass die Bevölkerung für Milosevic gestimmt hatte. Und in Berlin kann man das wirklich auch spüren.

Als ich nach Berlin kam, erklärte mir jedermann, der Wiederaufbau des Stadtzentrums sei abgeschlossen. Aber als ich dann sah, wie überall im Zentrum dieser Stadt - einer der größten Hauptstädte in einem der größten Länder Europas - die Kabel noch immer von den Gebäuden herunterhängen... da bekommt man einfach den Eindruck: Das ist ein Chaos, das ist eine Nicht-Stadt, eine Stadt, die immer noch ausgestorben ist. Sie waren nicht in der Lage, dieser Stadt eine wirkliche Identität zu verleihen - in Wirklichkeit hat diese Stadt so viele verschiedene Identitäten. Meiner Meinung nach ist dies immer noch eine Nachwirkung des Krieges, obwohl nun fünfzig Jahre vorbei sind.

Wie eine ganze Generation habe auch ich jene Zeiten nicht selbst erlebt. Ich habe niemanden getötet. Aber wie das junge deutsche Mädchen, die immer noch ein Trauma erlebt, muss man sich fragen, ob man ein solches Trauma für sich selbst haben will? Oder für seine Kinder? Wenn ein Land Krieg führt oder den Faschismus wählt, dann - darüber muss man sich im Klaren sein - kann dadurch das ganze Land für fünfzig oder hundert Jahre verändert werden.

WSWS: Ich möchte Sie nach Ihrer Meinung über die Gefahr wachsender Zensur fragen. Sie haben das Material der Unterstützungskampagne für die indische Regisseurin Deepa Mehta gelesen, die damit konfrontiert ist, dass man ihr Filmschaffen verhindern will. Nicht nur offen faschistische Parteien haben zu solchen Maßnahmen gegriffen ...

RM: Ich kann nicht jeden Einzelfall beurteilen, aber natürlich werde ich die Kampagne für Deepa Mehta unterstützen und eine Solidaritätserklärung schicken. Ich bin gegen jede Form der Zensur. Jedermann muss sagen könne, was er denkt - die Gedanken sind frei.

Eine Ausnahme besteht, wenn es darum geht, eine bereits wissenschaftlich erwiesene Tatsache zu verdrehen. Ich beziehe mich hier zum Beispiel auf den "Geschichtsrevisionismus", der die Gültigkeit des Holocaust in Frage stellt. Man versucht, die Erinnerung und die Geschichte des Kriegs zu verdrehen. Dagegen bin ich. Aber das soll nicht heißen, dass wir das zensieren müssen. Diese Menschen sind frei, zu sagen, was sie wollen, aber dann haben wir die Freiheit, sie zu bestrafen, weil sie lügen.

In Frankreich gab es schon einige Prozesse, die sich mit Universitätsprofessoren befassten, die erklärt hatten, die Konzentrationslager hätten niemals existiert. Die Menschen können sagen, was sie wollen, aber wir sind ebenfalls frei, das Gesetz gegen sie anzuwenden, wenn es dazu nützt, diejenigen zu bestrafen, die Rassisten sind oder die Geschichte und die Erinnerung schänden. Das ist nicht das gleiche wie Zensur; Zensur bedeutet, dass man die Menschen nicht sprechen lässt. Wir müssen sie sprechen lassen, aber dann müssen wir analysieren, was sie sagen. Die Menschen müssen frei sein, alles zu sagen, was sie wollen, und wir sind ebenfalls frei, zu analysieren, was sie sagen.

Siehe auch:
Radu Mihaileanus Film "Zug des Lebens"
(23. März 2000)
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