Zum Ergebnis der US-Wahlen:

Die Verfassungskrise wird tiefer

Die außergewöhnlichen Ereignisse der Wahlnacht haben das politische Leben der Vereinigten Staaten grundlegend und unwiderruflich verändert. Zum ersten Mal seit über 125 Jahren hat eine nationale Wahl zu einem umstrittenen Ergebnis geführt. Es besteht nicht nur eine Diskrepanz zwischen der Anzahl der Stimmen und der Anzahl der Wahlmänner für die jeweiligen Kandidaten, über den Wahlbezirken Floridas, von denen der Sieg von Gouverneur George W. Bush abhängt, schwebt auch der Gestank des Wahlbetrugs.

Es ist noch nicht klar, ob Vizepräsident Al Gore die Legitimität der Abstimmung in Florida ernsthaft juristisch anfechten wird. Dass er erst am späten Mittwoch Nachmittag eine öffentliche Erklärung zur Wahl abgab, deutet darauf hin, dass es unter seinen eigenen Beratern Meinungsverschiedenheiten darüber gibt, ob der Kampf um das Präsidentenamt fortgesetzt werden soll oder nicht.

Doch selbst wenn sich Gore schnell mit einer Niederlage abfinden sollte, hat das unschlüssige und makelhafte Ergebnis der Präsidentenwahl eine Verfassungskrise heraufbeschworen, für die es keine leichte Lösung gibt und die das gesamte politische System zutiefst kompromittiert hat.

Sollte der republikanische Gouverneur Bush als 43. Präsident bestätigt werden, wird seiner Regierung in den Augen von zig Millionen amerikanischen Bürgern die Legitimität fehlen. Schon jetzt macht unter breiten Bevölkerungsschichten das Wort von der "gestohlenen Wahl" die Runde, was explosive politische Folgen haben wird, wenn eine Regierung Bush versuchen sollte - und das wird sie ohne Zweifel tun -, ihr reaktionäres Sozialprogramm in die Tat umzusetzen.

Das bedeutsamste Kennzeichen des Wahlergebnisses sind die tiefen Spaltungen und Risse in der amerikanischen Gesellschaft, die es zum Ausdruck bringt. Die Karte der Wahlergebnisse gleicht in bemerkenswerter Weise jener am Vorabend des Bürgerkriegs von 1861. Natürlich gibt es Unterschiede, aber die Spaltung zwischen dem Norden und Süden ist unübersehbar.

Eine weitere Trennungslinie verläuft zwischen den großen städtischen Gebieten, die vorwiegend an Gore fielen, und den ländlichen, die für Bush votierten. Bei den Wählern selbst besteht ein deutlicher Unterschied in der sozialen Zusammensetzung der Anhänger von Demokraten und Republikanern. Die ärmsten und verwundbarsten Teile der Arbeiterklasse in den Großstädten - vor allem schwarze und spanischsprachige Arbeiter - stimmten überwiegend für demokratische Kandidaten.

Auch die politischen Herrschaftsinstitutionen sind mittendurch gespalten. Die Wahl hat ein Repräsentantenhaus und einen Senat hervorgebracht, in denen die beiden Parteien annähernd gleich stark sind. Der Oberste Gerichtshof ist ebenso gespalten, in eine fünfköpfige ultrarechte Mehrheit und eine vierköpfige etwas gemäßigtere Minderheit.

Das Patt bei der Wahl ist der Gipfelpunkt einer Kette von Ereignissen, die während der achtjährigen Präsidentschaft Clintons die wachsenden Gegensätze im politischen Establishment deutlich gemacht haben. Besonders im Lichte der Impeachment-Episode muss man, angesichts der vielen Anzeichen einer verfahrenen Situation, die Frage stellen: Was ist der Grund für diese politische Sackgasse?

Die Krise der Wahl 2000 widerspiegelt die Zuspitzung der sozialen Gegensätze in einem Ausmaß, das einen Ausgleich im Rahmen des bestehenden politischen und verfassungsmäßigen Rahmens nicht mehr zulässt. Weil die Bandbreite der politischen Auseinandersetzung in den USA so eingeengt ist - das politische Establishment hat noch nicht einmal dem Grünen-Kandidaten Ralph Nader die Teilnahme an den Wahldebatten erlaubt -, können tiefgehende soziale Widersprüche im Rahmen des politischen Systems nicht artikuliert werden. Wenn sie schließlich aufbrechen, haben sie bereits einen Reifegrad erreicht, der den Rahmen der bestehenden Verfassungsordnung zu sprengen droht.

Von entscheidender Bedeutung ist das enorme Anwachsen der sozialen Ungleichheit, das Ausmaße angenommen hat wie seit den 20-er Jahren nicht mehr. Die Spaltung Amerikas in eine märchenhaft reiche Oberschicht und die überwiegende Bevölkerungsmehrheit ist letztendlich unvereinbar mit demokratischen Herrschaftsmethoden.

Unabhängig davon, wie das Patt bei der Wahl in den nächsten Tagen entschieden wird, verfügt die herrschende Elite der USA über keine dauerhafte Lösung für die Verfassungskrise. Wer zum Beispiel einfach die Abschaffung des Wahlmännerkollegiums - wie es von den Gründungsvätern Ende des achtzehnten Jahrhunderts eingerichtet wurde - und die Direktwahl des Präsidenten vorschlägt, übersieht, dass das Wahlmännerkollegium Bestandteil einer komplexen Verfassungsstruktur ist, deren Aufgabe darin besteht, die konkurrierenden Ansprüche der nationalen Regierung und der Regierungen der Bundesstaaten auszubalancieren. Es kann nicht beseitigt werden, ohne gleichzeitig die föderale Struktur der Vereinigten Staaten in Frage zu stellen, einschließlich solcher Institutionen wie den Senat, in dem jeder Staat mit jeweils zwei Abgeordneten vertreten ist.

Diese alten Strukturen sind unfähig, mit den verschärften sozialen Widersprüchen in den USA fertig zu werden. Wird aber zum Beispiel das Wahlmännergremium abgeschafft, müsste eine andere Struktur an seine Stelle treten. Und jeder Versuch, eine solche Veränderung durchzuführen, würde unweigerlich die Konflikte neu entfachen, die schon jetzt am politischen System zerren. So unzureichend die alten Strukturen auch sind, die herrschende Elite hat nichts, womit sie sie ersetzen könnte.

Sie kann nur weiter nach rechts rücken und versuchen, ihr Eigentum und ihre politische Macht verstärkt durch autoritäre Methoden zu verteidigen. In diesem Zusammenhang soll nur daran erinnert werden, dass die letzte große Verfassungskrise, die - im Jahr 1876 - durch ein umstrittenes Wahlergebnis ausgelöst wurde, zu einer neuen politischen Regelung führte, die die Wiederaufbau-Periode im Süden beendete und die Rassentrennung institutionalisierte.

Die gegenwärtige Lage ist ein vernichtendes Urteil über die vorherrschende politische Kultur in den USA. Diese hat sich unter der Vormundschaft zutiefst reaktionärer Medien entwickelt, deren Anstrengungen ausschließlich darauf ausgerichtet sind, die öffentliche Meinung zu manipulieren, und die selbst mitten in der Wahlkrise eine unseriöse und zynische Haltung an den Tag legen.

Viele Kommentatoren sagen voraus, dass die politische Pattsituation nach den Wahlen eine Periode des Stillstands zu Folge hat, in der sich in den USA nichts wichtiges ereignen wird. Ihrer Meinung nach werden die Republikaner, sollte Bush ins Weißen Haus einziehen, gezwungen sein, eine Politik des Kompromisses und der Mäßigung zu verfolgen. Solche Voraussagen sind ebenso substanzlos wie alle anderen Prognosen der Medienexperten, die den Kontakt zu den Realitäten des amerikanischen Lebens völlig verloren haben.

Die republikanische Rechte hat schon während der Impeachment-Verschwörung bewiesen, dass sie bereit ist, ihr Programm angesichts breiter öffentlicher Opposition auch mit verfassungswidrigen Mitteln durchzusetzen. Sollten die Republikaner das Weiße Haus erobern, werden sie schnell Maßnahmen verwirklichen, die alle Schranken, die der Anhäufung persönlichen Reichtums und der Ausbeutung der Arbeiterklasse im Wege stehen, beseitigen. Schon allein die Tatsache, dass der Trend der öffentlichen Meinung in der Wahl gegen sie lief, wird sie dazu bewegen, mit Hast und Entschlossenheit vorzugehen.

Sollte dagegen Gore Präsident werden, werden sich die faschistischen Elemente, welche die Republikanische Partei dominieren, weigern, die Legitimität seiner Regierung anzuerkennen. Sie werden augenblicklich eine neue Kampagne beginnen, um Clintons Nachfolger zu unterminieren.

Die Wahl selbst hat aber auch deutlich gemacht, dass es in der werktätigen Bevölkerung einen wachsenden, wenn auch politisch unklaren Willen gibt, ihre eigenen Interessen wahrzunehmen. Trotz der konservativen und kraftlosen Wahlkampagne Gores und der ständigen Beteuerungen der Reaktionäre in den Medien, das Land sei zufrieden und apathisch, zeigt die Summe der Stimmen für Gore und Nader, dass es eine beachtliche zahlenmäßige Mehrheit von Wählern gibt, die im weitesten Sinne liberale oder linke Ansichten vertreten.

Ohne dass Gore oder die Demokratische Partei dafür eingetreten wären, hat die Wählerschaft der Impeachment-Kampagne der Republikaner erneut eine Abfuhr erteilt. Die öffentliche Empörung über den Versuch, einen Sexskandal zum Hebel für einen politischen Putsch zu verwandeln, hat maßgeblich dazu beigetragen, dass Hillary Clinton das Rennen um den New Yorker Senatssitz mit zweistelligem Vorsprung gewann und dass die republikanischen Kongressabgeordneten James Rogan und Bill McCollum ihre Sitze verloren. Beide hatten beim Impeachement eine Schlüsselrolle gespielt.

Die Krise bei den Wahlen macht deutlich, dass jeder politischer Konsens zusammengebrochen ist, und widerspiegelt so das Ausmaß der heftigen sozialen Polarisierung in Amerika. Mitten in dieser Krise übernimmt eine neue Regierung die Macht, die unter breiten Bevölkerungsschichten keine Glaubwürdigkeit besitzt. Die Auswirkungen dieses Zustands werden erst deutlich werden, wenn die nächste Regierung versucht, unter den Bedingungen eines wirtschaftlichen Niedergangs eine rechte Politik durchzusetzen.

Die Wahl 2000 kündigt eine Periode gesellschaftlicher Erschütterungen an. Keine der bestehenden Parteien kann einen breiten Konsens der Bevölkerung zustande bringen. Das kann nur auf der Grundlage einer Massenbewegung erreicht werden, die die objektiven Klassengegensätze in der Gesellschaft anerkennt und zum Ausgangspunkt nimmt, und die ein sozialistisches Programm für die Arbeiterklasse vorlegt. Die kommende Periode muss zur Entwicklung dieser Bewegung in Form einer unabhängigen Partei der Arbeiterklasse führen. Die Socialist Equality Party widmet sich mittels ihres politischen Organs, dem World Socialist Web Site, der Verwirklichung dieser politischen Aufgabe.

Siehe auch:
Something rotten in the state of Florida
(9. November 2000)
Das Amtsenthebungsverfahren gegen Präsident Clinton: Treibt Amerika in einen Bürgerkrieg?
( 30. Dezember 1998)
Veranstaltung an der Berliner Humboldt-Universität:
Die amerikanische Präsidentschaftswahl und ihre internationale Bedeutung

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