Rot-grün in Nordrhein-Westfalen:

Angriff auf renommierte Projektschule Oberstufenkolleg

Die rot-grüne Landesregierung in Nordrhein-Westfalen (NRW) stellt die Zukunft des bundesweit einzigartigen und international anerkannten Reformprojekts Oberstufenkolleg (OS) ernstlich in Frage. Die 26 Jahre alte Experimentierschule, die als Zentrale Wissenschaftliche Einrichtung der Universität Bielefeld gegründet wurde, soll nach dem Willen der Schulministerin Behler (SPD) in eine "experimentelle gymnasiale Oberstufe" mit "Affinität zur Regelschule" umgewandelt werden. Auch wenn dies auf den ersten Blick wie Wortklauberei erscheinen mag, bedeuten die Pläne des Ministeriums einen tiefen Einschnitt in die Lehr- und Forschungspraxis des OS und den Verlust des besonderen Charakters dieser Schule.

Das Oberstufenkolleg und die benachbarte Laborschule wurden von dem Pädagogen Hartmut von Hentig entwickelt und nahmen 1974 die ersten Jahrgänge auf. Entstanden im Rahmen der Bildungsreform in den späten 60-er und 70-er Jahren, sind beide Projektschulen bis heute in vielerlei Hinsicht einmalig in der Bundesrepublik.

Das OS verbindet die Sekundarstufe II (Oberstufe) mit dem universitären Grundstudium und damit die Allgemeinbildung mit Spezialisierung und wissenschaftlichem Arbeiten. Die Schulzeit dauert vier Jahre; in dieser Zeit besuchen die Kollegiaten in ihren Wahlfächern auch Grundstudiumsveranstaltungen an der Universität Bielefeld und erwerben dort Leistungsnachweise. Ihren Stundenplan am OS stellen sie sich in einer studienähnlichen Struktur selbst zusammen. In den Kursen am OS werden, wie an der Universität, Scheine erworben. Zensuren gibt es nur auf dem Abschlusszeugnis.

Der Abschluss am OS entspricht nicht nur dem Abitur, sondern befähigt die Kollegiaten auch, ein Universitätsstudium in einem höheren Fachsemester aufzunehmen. In der Regel wird den Absolventen des OS in ihren Wahlfächern eine Studienzeit von vier Fachsemestern angerechnet, d.h. sie können an der Universität direkt mit dem Hauptstudium beginnen. Dabei haben die Kollegiaten nicht nur die Wahl zwischen den üblichen Oberstufenfächern, sondern können auch Schwerpunktfächer wie Jura, Soziologie, Gesundheitswissenschaften, Philosophie, Pädagogik u.a. wählen.

Da das OS eine Einrichtung der Universität Bielefeld ist, unterrichten die dort Lehrenden nicht nur, sondern sind auch in der Forschung tätig. Am OS werden neue Lehr- und Lernmethoden sowie neue Inhalte und Fächer erprobt. Von seiner Konzeption her ist das Schulprojekt als Experimentierfeld für progressive Lernformen angelegt, von dessen Erfahrungen die Regelschulen profitieren sollen.

Doch nicht nur die Unterrichtsorganisation ist eine Besonderheit des OS. Von seinem Grundverständnis her soll das OS auch ein Beitrag zu mehr Chancengleichheit sein und gezielt gesellschaftlich Benachteiligte und im Bildungssystem "Gescheiterte" fördern. Durch einen besonderen Aufnahmeschlüssel werden besonders solche jungen Menschen zwischen 16 und 25 Jahren aufgenommen, die ansonsten geringe Möglichkeiten haben, die Hochschulreife zu erlangen, wie Schulabbrecher oder Hauptschüler. 50 Prozent der Neu-Kollegiaten haben keinen Qualifikationsvermerk in ihrem letzten Abschlusszeugnis; der sogenannte Q-Vermerk ist aber für die Zulassung zur gymnasialen Oberstufe an Regelschulen zwingend vorgeschrieben. Zudem sind 20 bis 25 Prozent der Kollegiaten ausländischer Herkunft.

Schüler und Lehrer am OS duzen sich, und die "Zurücknahme formaler Hierarchien, gemeinsame Entscheidungsfindung" und die Wahl von Funktionsträgern gehörten zu den Grundsätzen bei der Schulgründung. Ziel der Ausbildung am OS soll nicht nur der Erwerb eines formalen Abschlusses sein, sondern auch die "solidarische Arbeit und gemeinsame Lernprozesse an Stelle von Konkurrenz und Selektion".

Nach den Plänen des Schulministeriums in NRW soll nun eine "Strukturänderung" am OS durchgesetzt und das Reformprojekt einiger seiner Hauptcharakteristika beraubt werden. Bereits im Mai 1999 hatte das Ministerium vom Kolleg gefordert, "Aufgabe und Struktur sowie gegebenenfalls auch den Bildungsauftrag zu überdenken". Stellenkürzungen wurden angekündigt. Auf den zur Jahreswende vom OS vorgelegten "Leistungsbericht" und seine "Eckpunkte der künftigen Konzeption für das Oberstufenkolleg" antwortete das Ministerium jedoch nicht. Statt dessen teilte es seine Pläne zur Strukturänderung nur dem Rektorat der Universität Bielefeld und dem wissenschaftlichen Leiter des OS mit - und verpflichtete sie zum Schweigen über die Inhalte der geplanten Umstrukturierung. Bei einem Treffen mit Vertretern des OS am 3. November 2000 stützte sich das Ministerium allerdings zur Beurteilung der Leistungen der Schule auf das Gutachten einer Kommission von 1987.

Die vom Ministerium geforderte "Affinität zur Regelschule" beinhaltet jedoch, dass die Verknüpfung von Oberstufe und Universität aufgehoben und die Ausbildungszeit von vier auf drei Jahre reduziert wird und die Fächer, die an der Regelschule nicht vorkommen, zumindest eingeschränkt und zum Teil abgeschafft werden. Zwanzig von derzeit 94 Stellen sollen gestrichen und die Unterrichtszeit der Lehrenden um 20 Prozent erhöht werden. Damit erschwert sich in der Praxis für sie gleichzeitig die Möglichkeit, weiterhin in der Forschung tätig zu sein. Die jüngste Formel des Ministeriums, das OS würde dann zur "experimentellen Oberstufe", kann nicht verdecken, dass das OS seinen Charakter als wissenschaftliche Einrichtung und eines seiner wesentlichen Merkmale, die Verbindung von Schule und Hochschule, verlieren wird.

Gegenüber der Presse sagte Wolfgang Meyer-Hesemann, Staatssekretär im Düsseldorfer Schulministerium: "Das Kollegmodell hat sich nicht bewährt. Es wird deshalb aufgegeben. Das OS sollte sich beschränken auf die Sekundarstufe II. [...] Die Strukturveränderung hin zur Regelschule muss sein." Warum sich das Kollegmodell angeblich nicht bewährt hat, hat das Ministerium bislang nicht glaubhaft begründen können; die Tatsache, dass rund 90 Prozent der OS-Absolventen ein Studium aufnehmen und dabei in Bezug auf Studiendauer und Quote der Studienabbrecher nicht vom allgemeinen Durchschnitt abweichen, spricht jedenfalls für die Projektschule und ihre Erfolge, denn schließlich handelt es sich hier zum großen Teil um Schüler, die an der Regelschule niemals die Hochschulreife hätten erreichen können.

Ein anderes Argument des Ministeriums für die Umstrukturierung des OS, die Schule sei einzigartig geblieben und kein Prototyp für andere Projekte geworden, fällt auf die Landesregierung selbst zurück - schließlich ist es mangelndem politischen Willen und nicht den Architekten des OS zuzuschreiben, dass es nicht eine Vielzahl solcher und ähnlicher pädagogischer Projekte gibt und die Übertragung von Forschungsergebnissen des OS auf die Regelschulen kaum erfolgt ist.

Gegenüber den Vertretern des OS verkündete das Ministerium Anfang November, die "Erkenntnisinteressen des Landes" hätten sich geändert. Im Interview mit der Neuen Westfälischen sagte Meyer-Hesemann: "Niemand kann sein ganzes Leben lang Reform machen. Das geht nicht." Am Beispiel des Oberstufenkollegs wird ein weiteres mal deutlich, wie sehr sich die Sozialdemokratie und ihr grüner Koalitionspartner von jedem sozial-reformistischen Ansatz entfernt haben.

Was von der Reformpädagogik und der Bildungsreform der 70-er Jahre geblieben ist, wird nun mit administrativen Mitteln von der Regierung angegriffen und zerstört. Diese Politik, die liberale und fortschrittliche Ansätze und Maßnahmen der Vergangenheit zurücknimmt, trifft mitnichten nur das Bielefelder Oberstufenkolleg, sondern zeigt sich auch in der Forderung nach Studiengebühren und Verkürzung der Studienzeiten sowie der erzwungenen zunehmenden Ausrichtung des universitären Lehre und Forschung nach den Bedürfnissen der Wirtschaft.

Der Gründer und erste wissenschaftliche Leiter des OS Hartmut von Hentig erklärte, das Wichtigste für einen Schüler sei zu lernen, "was man in dieser Gesellschaft vor Allem braucht: Mut, unbequeme Fragen zu stellen." Unbequeme Fragen sind heutzutage allerdings das Letzte, was sich die rot-grüne Regierung in NRW und Bund wünscht.

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