Noch einmal zum Anti-Amerikanismus

Ein Briefwechsel

Zum Artikel "Die deutsche Presse wird anti-amerikanisch"(http://www.wsws.org/de/2002/mar2002/edi-m07.shtml) vom 7. März hat die Redaktion mehrere Zuschriften erhalten. Wir veröffentlichen hier einen kritischen Beitrag aus Deutschland zusammen mit einer Antwort des Autors sowie zwei zustimmende Zuschriften aus den USA.

Ein Leserbrief aus Deutschland

Mein Kommentar zu dem Artikel:

Gut, die europäische und amerikanische Perspektive ist unterschiedlich. Das ist angesichts von historisch völlig andersartigen Erfahrungen auch nicht verwunderlich. Doch die Kritik an der Politik der USA (bzw. der Regierung Bush) mit Anti-Amerikanismus gleichzusetzen, geht fehl.

Erstens muss es doch erlaubt sein, eine konkrete Politik zu kritisieren. Das gehört schließlich zur Meinungsfreiheit. Zweitens müsste eigentlich auch in den USA die Diskussion darüber einsetzen, ob man dem Recht mit Unrecht zum Durchbruch verhelfen kann. Dass dem so ist, kann ich nicht sagen.

Wenn ich mir die im Rahmen der Anti-Terror-Bekämpfung erlassenen Gesetze ansehe, insbesondere in den USA und Großbritannien, muss ich an der demokratischen Substanz zweifeln. Wer Gefangenen die Behandlung nach der Genfer Konvention vorenthält, wer Verdächtige ohne Gerichtsurteil für unbegrenzte Zeit inhaftieren will und ihnen den Schutz von Anwälten versagt, wer ernsthaft über die Anwendung von Folter zur Erlangung von Informationen nachdenkt, vertritt nicht die vielbeschworenen demokratischen Werte. Zivilisation lässt sich nur mit zivilisatorischem Verhalten durchsetzen. Keiner steht über dem Gesetz, und auch eine militärische Supermacht wird letztlich daran gemessen, ob sie sich diesem Grundsatz in allen denkbaren Situationen unterwirft oder nicht.

Das Recht des Stärkeren wurde ja gerade durch die Aufklärung abgeschafft - mit Recht. Das müsste eigentlich auch für die USA gelten, die sich ja sonst als Hort der Freiheit definiert. Derartige Kritik als Anti-Amerikanismus zu diffamieren, soll bloß die berechtigte Diskussion abwürgen. Hier hilft auch nicht der Hinweis auf die Pluralität des amerikanischen Volkes. Wir in Europa haben eben andere Erfahrungen. Und deshalb sind wir vielleicht für manches sensibler geworden als andere. Ich wünsche mir die Zeit, in der eine deutsche Regierung unter Missachtung des Völkerrechts handelt, nicht mehr zurück. Wenn die Amerikaner ehrlich sind, würden sie das auch nicht wünschen. Das hat unseren Kontinent schließlich zweimal in eine Katastrophe gestürzt.

Mit freundlichen Grüßen

MS

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Antwort von Peter Schwarz

Sehr geehrter MS,

Sie wenden sich in Ihrer Zuschrift dagegen, "die Kritik an der Politik der USA (bzw. der Regierung Bush) mit Anti-Amerikanismus gleichzusetzen", und werfen mir vor, jede Kritik an den undemokratischen Maßnahmen der amerikanischen Regierung "als Anti-Amerikanismus zu diffamieren".

Wenn Sie meinen Artikel genau lesen, werden Sie feststellen, dass ich genau das nicht getan habe. Ich habe sogar ausdrücklich betont, dass "Kritik an der reaktionären Politik der Bush-Administration an sich" kein Anti-Amerikanismus ist. Hinzu kommt, dass das World Socialist Web Site, dessen Redaktion ich angehöre, in seiner systematischen Kritik an der reaktionären Innen- und Außenpolitik der Bush-Administration wohl weltweit von keiner anderen Publikation übertroffen wird - und das nicht erst seit dem Afghanistankrieg. Wenn Sie unter den entsprechenden Sparten nachschauen, werden Sie Hunderte von Artikeln finden, die sich detailliert mit der Politik der Republikaner, ihren rechten Hintermännern und deren gesellschaftlichem Hintergrund auseinandersetzen. Ihre Behauptung, ich würde Kritik an der Regierung Bush mit Anti-Amerikanismus gleichsetzen, ist also unzutreffend.

"Der Anti-Amerikanismus beginnt dort," hatte ich geschrieben, "wo das amerikanische Volk als Ganzes für die Politik von Bush verantwortlich gemacht wird, wo jeder Gegensatz zwischen den ultrarechten Kräften, auf die sich die Bush-Administration stützt, und der Bevölkerungsmehrheit geleugnet wird." Ich hatte dazu mehrere Zitate aus der Süddeutschen Zeitung, dem Spiegel und der Zeit angeführt, in denen George W. Bush als Verkörperung der "politischen Mehrheitskultur", der "amerikanischen Mentalität", des amerikanischen Mainstream dargestellt wird.

Ich füge hier noch ein weiteres Zitat hinzu, das denselben Gedanken in noch ungeschminkterer Form zum Ausdruck bringt. Am 8. März erschien auf der Titelseite der Süddeutschen Zeitung ein Artikel von Wolfgang Koydl über Pläne der Bush-Administration, die Freiwilligenorganisation Neighbourhood Watch, die sich bisher dem Schutz von Wohngebieten vor Kriminalität widmete, zur Überwachung der politischen Gesinnung einzusetzen. Der Artikel beginnt mit den Worten: "Zu den weniger anziehenden Seiten im Nationalcharakter der Amerikaner zählt, dass sie für ihr Leben gern spitzeln und petzen."

Als ich diese Zeilen las, habe ich mir an den Kopf gegriffen. Stellen Sie Sich für einen Augenblick vor, etwas Vergleichbares wäre über Juden, Schwarze oder - sagen wir - Araber geschrieben worden. Jeder Chefredakteur hätte dies - zu Recht - sofort gestrichen, weil es von der Leserschaft als diskriminierendes, rassistisches Vorurteil aufgefasst und empört zurückgewiesen worden wäre. Aber über Amerikaner darf man neuerdings so etwas schreiben. Warum?

Ich will hier nicht wiederholen, was ich bereits über die Unhaltbarkeit der Behauptung geschrieben habe, Bush verkörpere den durchschnittlichen Amerikaner. Es wird durch mehrere Zuschriften bestätigt, die ich als Reaktion auf meinen Artikel aus den USA erhalten habe und die ich diesem Brief anfüge.

Koydls Behauptung, "Amerikaner" würden "für ihr Leben gern spitzeln und petzen", entbehrt aber nicht nur jeder faktischen Grundlage. Von einem deutschen Journalisten erhoben enthält sie auch eine gewisse Pikanterie. Könnte man dasselbe nicht auch, und mit besseren Argumenten, über "die Deutschen" behaupten? Schließlich gab es hier die Gestapo, die Blockwarts und die Stasi, während in der historischen Entwicklung Amerikas Hunderttausende ihr Leben im Kampf gegen Sklaverei und für Bürgerrechte geopfert haben.

Wir lehnen derartige Vorurteile im einen wie im andern Fall ab. Sie ignorieren die Widersprüchlichkeit und Komplexität der amerikanischen wie der deutschen Gesellschaft, ohne deren Verständnis eine fortschrittliche Politik undenkbar ist. Stereotype Klischees, die bestimmte, negative Charaktereigenschaften zum Bestandteil des Nationalcharakters eines Volkes erklären, sind immer Wasser auf die Mühlen der politischen Reaktion.

Die Behauptung, Bush verkörpere die Werte Amerikas, ist Bestandteil der offiziellen Regierungspropaganda. Sie wird in erster Linie von Bush selbst erhoben. Und warum sollten wir ihm in dieser Frage zuzustimmen, während wir seine Politik in allen anderen Fragen ablehnen?

Koydl, der aus Bushs Bemühungen um ein flächendeckendes Spitzelsystem Rückschlüsse auf den Nationalcharakter der Amerikaner zieht, scheint gar nicht auf die naheliegende Idee zu kommen, dass es sich genau umgekehrt verhält. Wozu braucht eine populäre Regierung Spitzel? Offensichtlich spürt die Bush-Administration, dass sie zutiefst unpopulär ist, und fürchtet das Entstehen einer politischen Opposition.

Das Denken in abstrakten, nationalen Schablonen - "die Amerikaner", "die Deutschen" - führt unweigerlich zum Nationalismus, d.h. politisch nach rechts. Es liegt in der Natur des Nationalismus, dass er stets bemüht ist, die gegnerische Nation als Ganze zu dämonisieren und ihre inneren Widersprüche zu leugnen, um so die eigene Nation - auch deren negativen Seiten - in besserem Licht erscheinen zu lassen.

Ich will Ihnen nicht unterstellen, dass Sie die von Koydl geäußerten Auffassungen teilen. Aber auch Sie benutzen Begriffe wie "die Amerikaner" und "Wir in Europa". Wen genau meinen Sie damit? Zählen zu "Wir in Europa" auch Silvio Berlusconi, Jörg Haider oder Anders Fogh Rasmussen, den neuen, rechtslastigen dänischen Regierungschef? Dass eine tiefe Kluft die Masse der Bevölkerung von der regierenden Elite trennt, ist doch heute nicht nur in Amerika, sondern auch in jedem europäischen Land eine unübersehbare Tatsache.

Sie zweifeln völlig berechtigt an der "demokratischen Substanz" der Anti-Terror-Gesetze, die in den USA und Großbritannien erlassen wurden. Aber warum erwähnen sie die beiden Anti-Terror-Pakete Otto Schilys nicht? Ist Ihnen nicht aufgefallen, mit welcher Bedenkenlosigkeit sich die rot-grüne Koalition auch hier in Deutschland über die demokratische Substanz hinwegsetzt?

Wie gesagt, ich will Ihnen keine Auffassungen unterstellen, die sie nicht geäußert haben. Aber als politisch denkender Mensch müssen auch Sie Sich fragen, warum plumpe Vorurteile gegen die amerikanische Bevölkerung plötzlich auf der Titelseite einer führenden deutschen Tageszeitung erscheinen können, ohne heftigen Widerspruch hervorzurufen.

Anscheinend hat das auch etwas mit deutscher Innenpolitik zu tun. SPD und Grüne sind, seit sie an der Spitze der Bundesregierung stehen, auf allen Feldern der Politik weit nach rechts gerückt und haben entsprechend an Unterstützung verloren. In der Sozialpolitik, bei der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, in der Umwelt-, der Ausländer- und Innenpolitik haben sie kaum eine der an sie gestellten Erwartungen erfüllt. Hinsichtlich der Bundeswehreinsätze im Ausland haben sie eine Kehrtwende um 180 Grad vollzogen.

Die Dämonisierung Amerikas - was etwas völlig anderes ist, als Kritik an der Regierung Bush - macht blind gegenüber dieser Rechtsentwicklung im eigenen Land. Wenn - um Ihre Worte zu gebrauchen - wir in Europa eben andere Erfahrungen haben und für manches sensibler geworden sind als andere, wäre es vielleicht ratsam, die Kritik an der eigenen Regierung erst einmal zurückzustellen und gemeinsame Sache mit ihr gegen Amerika zu machen. Schließlich hat ja auch sie Vorbehalte gegenüber Bushs Außenpolitik.

Sie mögen das vielleicht nicht so sehen, aber politische Standpunkte entwickeln ihre eigene Logik.

Ihr Wunsch, dass nie wieder "eine deutsche Regierung unter Missachtung des Völkerrechts handelt", könnte dann bald enttäuscht werden. Auch die Regierung Schröder-Fischer setzt sich im Bemühen, das eigene diplomatische und militärische Gewicht in der Weltarena zu erhöhen, immer großzügiger über das Völkerrecht hinweg. Die KSK-Einheiten, die zur Zeit in Afghanistan unter höchster Geheimhaltung nach angeblichen Al-Qaida und Taliban-Kämpfern jagen und diese töten oder gefangen nehmen, werden das Völkerecht kaum penibler interpretieren, als die entsprechenden amerikanischen Truppen dies tun. So werden Präzedenzfälle geschaffen.

Die einzige Möglichkeit, der undemokratischen und militaristischen Politik der Regierung Bush entgegenzutreten, besteht darin, ein Bündnis zwischen der amerikanischen und der europäischen Bevölkerung zu schaffen. Für dieses Ziel setzt sich das World Socialist Web Site ein.

Mit freundlichen Grüßen,

Peter Schwarz

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Leserbriefe aus den USA

Lieber Herr Schwarz,

vielen Dank, dass Sie Sich an den Rest von uns in den USA (die Anti-Bushies) erinnert haben. Ich bin weder religiös noch prüde, obwohl ich als hart arbeitend gelte. Ich kann mich jedoch sehr leicht mit dem Saxofon Spielen identifizieren.

Europa und die restliche Welt haben Recht, wenn sie sich Sorgen über den militaristischen Kurs der Bush-Rechten machen. Sie sind illegitim an die Macht gelangt (eingesetzt durch einen rechtslastigen Obersten Gerichtshof) und tun weiterhin, was ihnen passt. Dabei verletzten sie nicht nur verfassungsmäßige Bürgerrechte, sondern werfen auch alle Verträge über den Haufen, die ihren Zielen im Weg stehen. Bitte lassen Sie die Leute in Deutschland wissen, dass die Mehrheit der US-Bürger NICHT für Bush gestimmt hat und seine Verbrechen und Vergehen auf der Weltbühne NICHT unterstützt.

Meine Freunde und ich sind entsetzt über die gegenwärtige Lage. Und sie wird schlimmer. Heute wurde uns im Fernsehen eine Reihe von Farbcodes vorgeführt, die gesendet werden, damit jedermann weiß, in welchem "Alarmzustand" sich das Land gerade befindet. Es wird, als lebte man in einem Science-Fiction-Film. Aber es ist wichtig, dass man sich dem widersetzt, was die Bush-Regierung tut. Und sie tut es nicht in MEINEM Namen!

CZ

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Lieber Herr Schwarz,

vielen Dank, dass Sie die Missverständnisse aus dem Weg geräumt haben. Die anti-amerikanischen Artikel, die selbst in den von Ihnen erwähnten seriöseren deutschen Zeitungen erscheinen, können nur von Leuten geschrieben worden sein, die keine Ahnung vom Marxismus haben und deren intellektuelle Entwicklung irgendwo in der Pubertät stecken geblieben ist. Eine andere mögliche Erklärung für derart unreife Ansichten ist, dass die Autoren an etwas leiden, was man als angeborene Nationalitis bezeichnen könnte - ein Syndrom, das in Deutschland häufiger vorkommt als in jedem anderen mir bekannten Land.

Personen, die an dieser Krankheit leiden, neigen zu Verallgemeinerungen und kategorischen Urteilen. Unfähig, feine Nuancen zu unterscheiden oder den unendlichen Reichtum und die Vielfalt individueller Unterschiede zu würdigen, zögern sie keinen Augenblick, Sie in eine etikettierte Schublade zu stecken (wobei sie Hautfarbe, Religion und Geburtsort bevorzugen). Dann schreiben sie Ihnen großzügig zahlreiche weitere Eigenschaften zu, mit denen Sie gar nie gerechnet hätten. Und haben sie Sie einmal in dieser Schublade gesteckt, bleiben Sie für den Rest Ihres Lebens dort. So verhält es sich mit den Autoren, die uns über "die Amerikaner" und ihren "Nationalcharakter" aufklären.

Leider ist es so, dass wenn die wirklichen Fragen und die Auseinandersetzung in den Hintergrund rücken, Nebensächlichkeiten und Belanglosigkeiten das Vakuum füllen. Hoffen wir, dass diesem atavistischen Trend bald Einhat geboten wird und wir uns wieder den wirklichen Problemen zuwenden können, die bald gelöst werden können und müssen, wenn die Natur die Menschheit nicht als gescheitertes Experiment zurückweisen soll.

Viele Grüße,

RT

Siehe auch:
Die deutsche Presse wird anti-amerikanisch
(7. März 2002)
Anti-Amerikanismus: Der "Anti-Imperialismus" von Dummköpfen
( 23. September 2001)
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