Die Auswirkungen der bevorstehenden EU-Osterweiterung

Ab 2003 will die Europäische Union in der Lage sein, neue Mitglieder aufzunehmen. Derzeit werden Beitrittsverhandlungen mit zwölf Staaten - Polen, Ungarn, Tschechische Republik, Lettland, Estland, Slowenien, Litauen, Slowakei, Rumänien, Bulgarien, Malta und Zypern - geführt. Außerdem wurde der Türkei auf dem Gipfel in Helsinki 1999 offiziell ein Kandidatenstatus zuerkannt.

Seit Frankreich, Deutschland, Italien, Belgien, die Niederlande und Luxemburg 1957 die Römischen Verträge zur Gründung einer Wirtschaftsgemeinschaft unterzeichneten, ist die Gemeinschaft in vier Beitrittsrunden auf derzeit 15 Mitgliedsstaaten angewachsen. Zuletzt traten 1995 Österreich, Finnland und Schweden bei.

Der bisher wohl bedeutendste Schritt wurde 1993 mit dem Inkrafttreten der Maastrichter Verträge getan. Sie legten die Grundlage für die Wirtschafts- und Währungsunion, deren dritte Stufe mit der Einführung des Euro in Kraft trat. Die Europäische Gemeinschaft, im Wesentlichen eine Zollunion, wurde zur Europäischen Union fortentwickelt, in deren Rahmen auch die Außen- und Sicherheitspolitik sowie die Bereiche Inneres und Justiz koordiniert werden sollen.

Die bisherige Entwicklung des Bündnisses war von der Notwendigkeit bestimmt, einen einheitlichen Europäischen Binnenmarkt zu schaffen, in dem es keine Schranken für den Verkehr von Waren, Kapital und Arbeit gibt. Mit den bisherigen Erweiterungsrunden wurde Europa in die Lage versetzt, in der globalisierten Weltwirtschaft eine zentrale Rolle einzunehmen und in Konkurrenz mit anderen Wirtschaftsmächten, vor allem den USA, zu treten.

Vor diesem Hintergrund spielt die anstehende Erweiterung nach Osteuropa eine bedeutende Rolle, denn mit der Integration der Staaten Osteuropas entsteht der größte Wirtschaftsraum der Welt, von dem sich die europäische Finanzelite eine hervorragende Ausgangsposition für den internationalen Wettbewerb verspricht.

Strikte Beitrittskriterien

Derzeit sind die Erweiterungsrunden noch nicht konkret festgelegt. Es gibt mehrere mögliche Szenarien, die teilweise den gleichzeitigen Beitritt von bis zu zehn Ländern vorsehen. Als allgemein realistisch wird jedoch zuerst die Aufnahme der Staaten der sogenannten "ersten Welle" - Polen, Estland, Tschechische Republik, Ungarn, Slowenien und Zypern - gesehen. Der Abschluss der Verhandlungen ist aber noch völlig ungewiss.

Die Kandidaten müssen strikte Beitrittskriterien, besonders in den Bereichen Finanz- und Sozialpolitik, erfüllen, die mit drastischen sozialen Einschnitten verbunden sind. So wurde in nahezu allen Staaten das Haushaltsdefizit, zumeist zu Lasten der sozialen Sicherung, stark reduziert, um unter die erforderlichen 3 Prozent des Bruttoinlandprodukts zu kommen. Lediglich Tschechien bildet hier eine Ausnahme, was sich allerdings nach den anstehenden Wahlen in diesem Jahr ändern wird.

Die EU machte von jeher deutlich, dass eine Konsolidierung des Haushalts absolute Priorität in der Wirtschaftspolitik der Beitrittsländer genießen muss. In einem Bericht des Bundesfinanzministeriums des vergangenen Jahres wurde Polen beispielsweise gerügt, weil es, was Steuereinnahmen und Privatisierungserlöse anbelangt, hinter den Erwartung geblieben sei. Es heißt dort: "Die Sozialausgaben werden mehr als 55% der Staatsausgaben ausmachen und das Defizit ohne Gegenmaßnahmen auf mehr als 10% des BIP steigen. Mit welchen Maßnahmen die neue Regierung die Budgetlücke begrenzen will, bleibt abzuwarten."

Neben der Haushaltsdisziplin ist die Errichtung einer "funktionsfähigen Marktwirtschaft, die dem Wettbewerbsdruck und den Marktkräften in der Union stand halten kann", oberstes Ziel. Zu diesem Zweck werden seit Jahren in den Beitrittsländern die ehemals staatlichen Unternehmen privatisiert oder umstrukturiert. Dieser Prozess ist bereits weit fortgeschritten. So sind zwischen 80 Prozent (in Ungarn) und 55 Prozent (in Slowenien) bereits privatisiert. Darunter fallen besonders die Bereiche Stromerzeugung, Telekommunikation, Transportwesen, Öl- und Gasindustrie, Bergbau und Wasserversorgung.

Dass dieser Prozess mit einem starken Anwachsen von Arbeitslosigkeit verbunden ist, versteht sich fast von selbst. In Polen ist die Arbeitslosenrate von 6,5 % (1990) und 10,5% (1998) auf über 16% (in einigen Regionen sogar über 30%) angestiegen. In der Slowakei und Bulgarien liegt sie bei über 17%. In Estland stieg sie von 0,6% (1990) über 9,6% (1998) auf 12,4% (2001).

Während die Arbeitslosigkeit in den letzten zehn Jahren enorm angestiegen ist, sind die sozialen Sicherungssysteme - Renten- und Arbeitslosenversicherung, Gesundheitswesen - immer weiter reduziert oder abgeschafft worden.

In Ungarn liegt das Rentenniveau bei 58% des Durchschnittslohns und damit nicht weit über dem statistisch ausgewiesenem Existenzminimum. Die Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung beschränken sich, wie in den meisten Beitrittsländern, auf minimale Basisleistungen. Zahnbehandlungen sind darin beispielsweise nicht enthalten. In Polen existiert ein ausgedehnter grauer Markt, auf dem gegen inoffizielle Zuzahlungen Leistungen zu erhalten sind.

Tschechien ist bestrebt, den Leistungsumfang der gesetzlichen Rentenversicherung auf eine Basisversorgung zu reduzieren, um Anreize für eine private Zusatzversorgung zu schaffen. Im Zuge dessen sank die Durchschnittsrente gemessen am Bruttoeinkommen von 55,1% (1990) auf 43,7% (1996). Im Falle von Arbeitslosigkeit gibt es in Tschechien maximal 9 Monate Unterstützung in Höhe von 60 bzw. 50% des bisherigen Bruttolohnes.

In Estland wird die Grundrente seit 1994 vom Parlament je nach dem verfügbaren Budget festgesetzt. Die Altersrente liegt bei 42,5% des durchschnittlichen Bruttolohnes. Bei Arbeitslosigkeit besteht für maximal 180 Tage Anspruch auf 80% des staatlichen Mindestlohnes, was weniger als 10% des durchschnittlichen Nettolohnes entspricht.

Auswirkungen auf Westeuropa

Findet die Erweiterung wie geplant statt, wird sich das auch auf die Lebenssituation der Bevölkerung in der bisherigen EU auswirken.

Es ist davon auszugehen, dass es zu einer starken Migration von Ost nach West kommen wird, da sich das Niveau der Löhne und der sozialen Leistungen zwischen den EU-Ländern und den Beitrittskandidaten deutlich unterscheidet. Selbst in ärmeren EU-Ländern wie Spanien mit 1410 US-$ (1998) und Portugal mit 667 US-$ (1998) liegen die Durchschnittslöhne wesentlich höher als in den Beitrittsländern. In Deutschland (3000 US-$ 1999), Frankreich, Österreich, Luxemburg und den skandinavischen Ländern übersteigen die Löhne die der Beitrittsländer um das Fünf- bis Zehnfache.

Auch die Absicherung bei Krankheit, Arbeitslosigkeit und Alter ist, trotz des Abbaus der letzten Jahre, in West- und Mitteleuropa wesentlich besser. Für die Arbeitslosenversicherung beispielsweise gilt im Durchschnitt eine erheblich längere Bezugsdauer und die Leistungen, die sich meist nach dem zuletzt erhaltenen Lohn bemessen, sind auf Grund des höheren Lohnniveaus wesentlich besser. Dasselbe gilt für die Rentenversicherung.

Die Gesundheitsversorgung ist im Gegensatz zu den Beitrittskandidaten nicht nur auf reine Basisleistungen beschränkt. Außerdem sind die Gesundheitseinrichtungen technisch weit besser ausgestattet. Die Qualifikation sowie die Flächenabdeckung ist ebenso höher.

Aufgrund der geographischen Lage werden von der Migration Deutschland und Österreich voraussichtlich am stärksten betroffen sein. Sie grenzen direkt an Slowenien, Ungarn, Polen und Tschechien. Über die genaue Anzahl der Zuwanderer gibt es eine Vielzahl von unterschiedlichen Schätzungen, die davon abhängen, welche Länder wann aufgenommen werden. Die meisten gehen von einer Zuwanderung in der Größenordnung von 2 bis 4 Millionen Menschen in den ersten Jahren aus.

Dazu kommen noch einige Hunderttausend Pendler, die besonders in den Grenzregionen von Österreich und Deutschland nach Arbeit suchen werden. Zum einen wird es sich dabei um jüngere, gut ausgebildete Zuwanderer handeln, zum anderen um gering und nicht qualifizierte Arbeitskräfte, vor allem im handwerklichen und im Dienstleistungsbereich.

Eine Analyse gelangt zu dem Schluss, "dass das zusätzliche Arbeitsangebot in der EU nicht sofort absorbiert werden kann. Vielmehr wird in einem gewissen Maße höhere Arbeitslosigkeit zunächst in Kauf genommen werden müssen. Dabei obliegt es den relevanten Akteuren, Lohnflexibilität nach unten zuzulassen und damit die Anpassungsphase kurz zu gestalten."

Veränderungen in der Landwirtschaft

Auch für die Landwirtschaft bedeutet eine erweiterte EU gewaltige Veränderungen. In Osteuropa sind noch wesentlich mehr Menschen im Agrarsektor beschäftigt als in den bisherigen EU-Ländern. Der Anteil am BIP beträgt im Durchschnitt etwa 6%, im Vergleich zu weniger als 2% in der jetzigen EU. 22% der Erwerbstätigen sind in der Landwirtschaft tätig, im EU-Durchschnitt dagegen nur 4,7% und in Deutschland nur 2,8%. Andererseits ist die Produktivität sehr gering. Sie liegt bei etwa 10% des EU-Durchschnitts.

Wird der Agrarsektor integriert, resultiert daraus eine Steigerung der Produktivität und gleichzeitig eine starke Rationalisierungstendenz. Bereits ein Anstieg auf 50 % der Produktivität der EU würde eine Verringerung der Beschäftigten von 10 auf 6 Millionen zur Folge haben.

Für das erweiterte Europa wird es die bisherige Subventionspraxis, die für das Bestehen der meisten kleineren und mittleren Betriebe verantwortlich war, nicht mehr geben. Politiker und Wirtschaftsexperten sind sich darin einig, dass die Übernahme des bisherigen Systems nicht finanziert werden könne. Gleichzeitig werden die hohen Subventionen in den jetzigen EU-Ländern systematisch zurückgefahren und damit das "Bauernsterben" vorangetrieben.

Das Ziel der EU besteht darin, die riesigen Ressourcen Osteuropas im landwirtschaftlichen Bereich zu nutzen und gleichzeitig Subventionen und ineffiziente Strukturen - dazu gehören auch Millionen Beschäftigte - zu beseitigen, um im globalen Wettkampf die Stellung zu behaupten.

Politische Folgen

Angesichts der katastrophalen Lage in den potentiellen Beitrittsländern aber auch den sich immer weiter zuspitzenden sozialen Gegensätzen in den jetzigen EU-Staaten birgt die Osterweiterung ein enormes Konfliktpotenzial.

Die Ausweitung der EU führt nicht zur Anpassung der Löhne und Sozialleistungen in den Beitrittsländern an das westliche Niveau, sondern zur Senkung dieser Werte im gesamten Wirtschaftsraum auf einen extrem niedrigen Wert. Die verstärkte Arbeitslosigkeit wird dabei als Hebel benutzt, um tarifliche Bestimmungen, Mindestlöhne usw. zu beschneiden oder abzuschaffen.

Die Mehrheit der sozialdemokratischen und konservativen Parteien unterstützen diese Entwicklung im Interesse der europäischen Konzerne. Diese Tatsache konnten extrem rechte, nationalistische und europafeindliche Tendenzen ausnutzen, um Einfluss gewinnen. Wurden vor vier Jahren noch beinahe sämtliche EU-Staaten von Sozialdemokraten und ihren Bündnispartnern regiert, so hat sich dies grundlegend geändert. In Österreich, Italien, Portugal, Frankreich und jüngst in Holland haben rechte Allianzen teilweise unter Einbindung ultrarechter Kräfte die Oberhand gewonnen. Den meisten gelang dies, indem sie die Angst vor einem weiterem sozialen Niedergang in Europa in fremdenfeindliche Kanäle lenkten.

In Österreich agitiert die rechte FPÖ Jörg Haiders unter verschiedenen Vorwänden gegen einen EU-Beitritt Tschechiens und löst damit immer wieder Regierungskrisen aus. In Deutschland hat der Kanzlerkandidat der Union, Edmund Stoiber, die Aufhebung der sogenannten Benes-Dekrete als Vorbedingung für die Aufnahme Tschechiens in die EU bezeichnet. Diese Forderung wird kaum eine tschechische Regierung erfüllen können, weil dann massive Entschädigungs- und Rückgabeforderungen von Deutschen drohen, die das Land nach dem Sturz des Naziregimes verlassen mussten.

Auch in Osteuropa konnten teilweise extrem rechte, nationalistische Parteien die wachsende Verelendung ausnutzen.

Die Gewerkschaften, soweit sie überhaupt reagieren, gießen Öl ins Feuer des Nationalismus. Auch sie verlangen eine stärkere Abschottung der Grenzen. So unterstützen die Gewerkschaften in Deutschland und Österreich Erweiterungsmodelle, die zwar dem Kapital völlig Bewegungsfreiheit gewähren, aber bei der Einführung von Freizügigkeit für Arbeitskräfte zwei- bis zehnjährige Übergangsfristen fordern. Sie führen ähnliche Argumente gegen die Osterweiterung ins Feld, wie Mittelstandsvertreter und die extreme Rechte

Diese Politik stärkt die Rechten und ist kein Ausweg für die Arbeiterklasse. Diese muss den reaktionären, anti-europäischen Populismus und jede Art von Nationalismus ebenso zurückweisen wie den Versuch der europäischen Finanzelite, ein Europa zu errichten, in dem sie ihre Profite auf Kosten der breiten Bevölkerung maximiert. Die einzige Lösung ist die Vereinigung Europas auf der Grundlage eines sozialistischen Programms.

Quellen:

Michael Böhmer: Migrationseffekte der Osterweiterung auf die EU-Arbeitsmärkte, VWF 2001

Bundesministerium der Finanzen: Wirtschaftslage und Reformprozeß in den EU-Beitrittskandidaten Ende 2001/Anfang 2002

Siehe auch:
Was bedeutet der Euro für die Arbeiterklasse?
(12. Januar 2002)
EU-Osterweiterung und die Grenzen
( 26. April 2001)
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