Das Referendum in Tschetschenien: Eine Abstimmung vor Gewehrläufen

Der Erfolg des Referendums in Tschetschenien, das unter der direkten Kontrolle des Kreml stattfand, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich um eine schändliche Polizeifarce handelte.

Laut offiziellen Angaben beteiligten sich etwa 80 Prozent der Bevölkerung an der Abstimmung und 95 Prozent von ihnen bejahten die drei zur Abstimmung stehenden Fragen. Die "demokratische Stimmabgabe" fand aber faktisch vor den Gewehrläufen der russischen Armee statt. Es ging um die Zustimmung zu einer neuen Verfassung für Tschetschenien und zu zwei Wahlgesetzen. Das eine regelt die Wahl des Präsidenten, das andere legt das Verfahren für Parlamentswahlen fest.

Zu den 540.000 Abstimmungsberechtigten zählten 80.000 Angehörige der russischen Armee, die auf dem Territorium Tschetscheniens stationiert sind, d. h. mehr als jeder siebente war nicht Einwohner dieser Kaukasusrepublik. Von diesen 80.000 ging fast die Hälfte zu den Urnen.

Jedes der 416 Wahlbüros wurde am 23. März, dem Tag der Abstimmung, von mindestens 20 Soldaten bewacht. Besonders stark war die Bewachung der Wahlbüros in Grosny, der Hauptstadt Tschetscheniens.

Die Begleitumstände dieser "freien Abstimmung" wurden in einem Artikel der Zeitung Gaseta am 21. März wie folgt illustriert: "Grosny erinnert gegenwärtig wenig an die Hauptstadt einer Republik oder eine vormals blühende Stadt. Es erinnert vielmehr an Stalingrad nach der Kapitulation von Feldmarschall Paulus."

Das Jeshenedelny Journal bemerkte zwei Tage früher, am 19. März: "Die Willensbekundung, die unter der Kontrolle der vereinten Streitkräfte geschehen soll, ist per Definition nicht frei."

Bei der Auswertung der Abstimmungsergebnisse stellte sich heraus, dass zum Beispiel in Inguschetien, der westlich gelegenen Nachbarrepublik, in zwei Wahlbüros, die in dortigen Flüchtlingslagern errichtet wurden, mehr Menschen an der Abstimmung teilnahmen als auf den Listen eingetragen waren. Anstelle von 2900 Eingetragenen gingen über 5500 zu den Urnen.

Der Leiter des Wahlausschusses, Weschnjakow, gab dazu eine bemerkenswerte Erklärung ab: Es handle sich um Leute, die sich zur Teilnahme am Referendum nicht angemeldet und sich erst am Abstimmungstag für eine Stimmabgabe entschieden hätten.

Diese Erklärung gibt klarere Auskunft über die "demokratischen" Prinzipien des gesamten Verfahrens als alle ausgearbeiteten propagandistischen Kniffe: Jeder Tschetschene musste sich vorher schriftlich zur Teilnahme am Referendum anmelden. Tat er das nicht, machte er sich zur potenziellen Zielscheibe einer "zufälligen" Vergeltung, wenn nicht sogar einer der nächsten "Säuberungen".

Über die neuen Verfassung, die als Kern des Referendums dargestellt wurde, gab es praktisch keine öffentliche Diskussion. Der Verfassungstext wurde im Kreml ausgearbeitet und kaum von jemandem gelesen. Korrespondenten der Iswestija berichteten am 24. März im Nachgang der Abstimmung: "Von den ungefähr einhundert Leuten, die wir befragten, konnten sich nur zwei im Text orientieren. Diejenigen, die ihn nicht gelesen hatten, erklärten ihre Gleichgültigkeit mit ungefähr den selben Worten: Es sei doch nicht so wichtig, worum es da gehe. Gegen Geschriebenes könne immer verstoßen werden..."

Ein solches Beispiel genügt, um die Erklärung, die Präsident Wladimir Putin nach der Abstimmung abgab, hinreichend zu würdigen: "Das tschetschenische Volk hat seine Wahl getroffen, direkt und auf demokratischste Weise."

Die Ergebnisse der Abstimmung kamen selbst für die Organisatoren völlig unerwartet. Die Autorität der russischen Regierung und der von ihr völlig abhängigen tschetschenischen Regierung unter Achmad Kadyrow ist äußerst gering. Während der gesamten letzten Monate war die Atmosphäre in der Republik von äußerster Instabilität geprägt. Es genügt, daran zu erinnern, dass Ende Dezember 2002 vor dem Regierungsgebäude in Grosny zwei schwere Sprengsätze explodierten, die fast den gesamten Gebäudekomplex zerstörten, mit 80 Toten und über 300 Verletzten.

In Moskau gab es große Befürchtungen, dass das Plebiszit scheitern könnte. Aus diesem Grund wurde vor dem Referendum eine großangelegte Kampagne von Einschüchterungen und Almosen, Zuckerbrot und Peitsche organisiert. Putin rief die Bevölkerung Tschetscheniens in den Tagen vor der Abstimmung in Fernsehansprachen direkt dazu auf, die "richtige Wahl" zu treffen. Die Konsequenzen einer "falschen Wahl" seien sehr gut bekannt: Allein im ersten Tschetschenienkrieg (1994 bis 1996) kamen etwa 120.000 Zivilisten ums Leben. Die Verluste der zweiten "Kampagne in Tschetschenien", die seit dem Herbst 1999 im Gange ist, dürften kaum geringer ausfallen.

Gleichzeitig versuchte die Putin-Regierung unverhüllten moralisch-politischen Druck auszuüben, indem sie eine breite Amnestie versprach, unter die auch diejenigen fallen könnten, die an Kriegshandlungen gegen die russische Armee beteiligt waren. Doch unmittelbar nachdem der erfolgreiche Ausgang des Referendums feststand, wurde das Amnestievorhaben wieder eingeschränkt: Nur noch "Bürger Russlands" können jetzt darauf hoffen.

Am Vorabend der Abstimmung wurde eine Kampagne zum "Abzug überflüssiger Truppen" initiiert. Sie war jedoch rein dekorativ. Sie betraf nur eine völlig unbedeutende Zahl von Soldaten und hatte nicht die geringsten Auswirkungen auf die russische Militärstärke in dieser Region.

Warum sind also die Bewohner Tschetscheniens zur Abstimmung gegangen? Der Hauptgrund ist natürlich die enorme Ermüdung durch den Krieg, der Wunsch, wie auch immer die Flut alltäglicher Gewalt aufzuhalten und wieder zu einer Art normalem Leben zurückzukehren. Die Abstimmung der Tschetschenen ist eine Geste der Verzweiflung in einem Moment, in dem jegliche Veränderung dem gegenwärtigen Zustand vorgezogen wird.

Ein anderer Faktor ist die völlige Diskreditierung der islamischen Separatisten. Ihr Verhalten ist nicht besser als das der föderalen Truppen. Die islamischen Kämpfer stützen sich auf ein reaktionäres politisches Programm und herrschen, genau wie der Kreml, im Sinne ihrer eigennützigen Interessen. Für sie bedeutet eine "Unabhängigkeit" Tschetscheniens vor allem die Möglichkeit, ihre Kontrolle über die Reste der tschetschenischen Wirtschaft zu errichten, insbesondere über die Ölförderung.

So wie die russischen "Föderalen" behaupten auch die bewaffneten islamistischen Separatisten ihre Macht in Tschetschenien mit nackter Gewalt und Methoden organisierter Einschüchterung und des Terrors.

Schließlich spielen auch geopolitische Veränderungen eine Rolle bei der veränderten Stimmung in der Bevölkerung. Seitdem Moskau nach den Anschlägen vom 11. September 2001 seine Unterstützung Amerikas im "Kampf gegen den internationalen Terrorismus" erklärte, rückten die westlichen Regierungen von jeglicher Kritik an Russland wegen seines Vorgehens im Nordkaukasus ab. Für die im Kampf gegen die russische Kriegsmaschine ihrem Schicksal überlassenen Bewohner des kleinen und völlig zerstörten Tschetscheniens verblieb fast kein anderer Ausweg als der Versuch, sich auf die Forderungen des mächtigen Aggressors einzulassen.

Dem Kreml gelang es, sein juristisches und politisches Vorhaben zu verwirklichen, mit dem die jetzige prorussische Regierung Achmad Kadyrows legitimiert wird. Obwohl Tschetschenien eine "weitgehende Autonomie" zugesichert wurde, heißt es im ersten Kapitel direkt: "Das Territorium der Republik Tschetschenien ist untrennbarer und integraler Bestandteil des Territoriums der Russischen Föderation."

In der lobenden Erklärung Präsident Putins heißt es, dass "wir das letzte ernsthafte Problem erledigt haben, das in Bezug auf die territoriale Einheit Russlands bestand", aber in Wirklichkeit ist nicht eines der grundlegenden Probleme dieses Konfliktes gelöst.

Den Worten Präsident Putins zufolge "hat sich das Volk Tschetscheniens für den Frieden entschieden". Gerade Frieden und Wohlergehen wird das Volk Tschetscheniens aber nicht von dieser Kremlregierung bekommen. Sie vertritt die Interessen einer dünnen oligarchischen Elite, deren Reichtum auf der direkten Ausplünderung der Wirtschaft des ganzen Landes und der Ruinierung und Erniedrigung seiner Bewohner gründet. Für diese Elite ist der Nordkaukasus Austragungsort ihrer geopolitischen Machtkämpfe.

Siehe auch:
Die politischen und historischen Fragen im Zusammenhang mit Russlands Angriff auf Tschetschenien
(20. Januar 2000)
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