Politischer Gezeitenwechsel in Deutschland

Lehren aus der Niederlage der IG Metall

Manchmal sind es Ereignisse, die sich nur ein oder zwei Tage in den Schlagzeilen halten, die einen grundlegenden politischen Wendepunkt markieren. Erst später wird ihre historische Bedeutung in vollem Umfang sichtbar.

Die Entscheidung des IG-Metall-Vorstands, am vergangenen Sonntag den vierwöchigen Arbeitskampf in der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie für gescheitert zu erklären, ist ein solches Ereignis. Es stellt die größte Niederlage der Gewerkschaft seit Jahrzehnten dar. Zum erstenmal seit 1954 hat die Gewerkschaft auf ganzer Linie vor dem Diktat des Arbeitgeberverbandes kapituliert und den Streik nach vier Wochen ohne jedes Ergebnis abgebrochen.

Dieser Streikabbruch hat nicht nur für die unmittelbar Betroffenen Bedeutung, sondern bildet den Auftakt zu einem Generalangriff auf die gesamte Arbeiterklasse. Gleichzeitig leitet er ein neues Stadium des gewerkschaftlichen Niedergangs ein. Als wäre ein Damm gebrochen, werden jetzt Unternehmerverbände und Regierung noch schärfer als bisher gegen alles vorgehen, was sich die Arbeiterklasse in den vergangenen fünfzig Jahren erkämpft hat. Der Mythos, dass die deutschen Gewerkschaften durch ihr relativ hohes Maß an Organisation und ausgeprägte Mitbestimmungsrechte in der Lage seien, amerikanischen Verhältnissen in Deutschland zu trotzen und den Sozialabbau aufzuhalten oder zumindest einzudämmen, ist endgültig widerlegt.

Verspätet, aber mit umso größerer Wucht setzt nun in Deutschland eine Entwicklung ein, die in den USA bereits 1981 begann, als der gewerkschaftliche Dachverband AFL-CIO tatenlos hinnahm, wie Präsident Ronald Reagan die Fluglotsengewerkschaft PATCO zerschlug, oder vor knapp zwanzig Jahren in Großbritannien, als Premierministerin Margret Thatcher den Streik der Bergarbeiter in die Knie zwang. Seitdem löste in diesen Ländern eine Niederlage der Arbeiterklasse die nächste ab.

Nun setzt diese Entwicklung auch in Deutschland ein. Die Schraube der Sozialreformen wird künftig weit schneller nach rückwärts gedreht. Nur zwei Tage nach der Kapitulation des IG-Metall-Vorstands unterschrieb der Vorsitzende der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di, Frank Bsirske, einen Tarifvertrag, der für die 100.000 Beschäftigten des Landes Berlin eine Bruttolohnsenkung von 8 bis 13 Prozent bedeutet.

Von den Medien und den Politikern aller großen Parteien wurde der Abbruch des Streiks, der für eine Angleichung der Arbeitszeit in den Ost-Bundesländern an Westniveau eintrat, überschwänglich begrüßt. Von Anfang an habe es sich bei diesem Arbeitskampf um das "falsche Ziel, zur falschen Zeit, am falschen Ort" gehandelt - so der Tenor der Kommentare. Dass diese Einschätzung über alle Parteigrenzen hinweg vertreten, in Presse, Funk und Fernsehen wiederholt und in Talkshows von Experten breitgetreten wird, ändert nichts daran, dass sie grundfalsch ist.

Der Streik ist nach vier Wochen nicht deshalb gescheitert, weil die Forderung falsch oder der Arbeitskampf unpopulär war. Im Gegenteil! Dass 13 Jahre nach der Wiedervereinigung die Beschäftigten der ostdeutschen Metall- und Elektroindustrie immer noch drei Stunden pro Woche mehr arbeiten müssen als ihre Kollegen in West-Betrieben und das Effektiv-Einkommen im Osten nur 70 Prozent des Westniveaus beträgt, wird nicht nur von den Betroffenen als Skandal empfunden.

Der Streik hatte große Unterstützung. Weit über 80 Prozent der befragten Mitglieder hatten sich dafür ausgesprochen und viele Nicht-Gewerkschaftsmitglieder hatten sich an den Arbeitsniederlegungen und Protestaktionen beteiligt, obwohl sie keinerlei Streikunterstützung erhielten. In den Arbeitergebieten von Sachsen, Brandenburg und Berlin war immer wieder der Standpunkt zu hören: "Es ist höchste Zeit, dass die Gewerkschaft aktiv wird und etwas gegen die schreiende Ungleichheit in der Behandlung der Arbeiter in Ost und West unternimmt." Die Forderung nach mehr Gleichheit, selbst wenn sie auf die Frage der Arbeitszeit beschränkt war, stieß in der Bevölkerung auf viel Sympathie.

Aber die Gewerkschaftsführung war zu keinem Zeitpunkt bereit, diese breite Solidarität zur Stärkung des Streiks zu nutzen. Der machtvolle Propagandaapparat der größten Industriegewerkschaft der Welt lief auf Sparflamme. Die Streikenden wurden systematisch isoliert und schutzlos dem extremen Druck der Medien ausgesetzt.

In den Wirtschaftsverbänden, unter Politikern und Medienvertretern löste die Forderung nach mehr Gleichheit nahezu hysterische Reaktionen aus. Der Streik werde zu einem "Arbeitsplatzmassaker" führen und die Gewerkschaft hinterlasse mit diesem Arbeitskampf eine "blutige Spur" von wachsender Arbeitslosigkeit, war zu lesen. Die - von Ex-Kanzler Helmut Schmidt (SPD) mitherausgegebene - Zeit forderte unverhohlen: "Das Streikrecht muss beschnitten werden."

Ein Grund für die hysterische Reaktion auf die Forderung nach gleichen Löhnen und Arbeitsbedingungen ist die EU-Osterweiterung, die von der deutschen Wirtschaft und Politik energisch unterstützt wird. Sie basiert auf der Voraussetzung, dass Osteuropa auch nach dem Beitritt zur EU ein Reservoir billiger Arbeitskräfte bleibt und die gewaltigen Lohnunterschiede auf lange Zeit erhalten bleiben. Um zu verhindern, dass Polen, Rumänen, Tschechen und Ungarn, die bald alle zur EU-Familie gehören, auch gleichen Lohn und gleiche Arbeitszeiten fordern, sollte diesem Begehren mit aller Macht ein Riegel vorgeschoben werden.

Streikbrecher im IG-Metall-Vorstand

Es waren aber nicht die aggressive Opposition der Unternehmerverbände und die Medienhetze, die den Streik schließlich zu Fall brachten. Gewerkschafter, die das behaupten und endlos über die "Abwehrfront der Unternehmer" lamentieren, müssen sich die Frage gefallen lassen: Was habt ihr denn erwartet? Die ablehnende Haltung der Wirtschaftsverbände war bekannt. Dagegen richtete sich ja der Streik.

Wichtigster Gegner des Streiks war eine rechte Seilschaft innerhalb der IG Metall, angeführt vom Vorsitzenden Klaus Zwickel. Diese Seilschaft fiel den Streikenden offen in den Rücken und sabotierte den Arbeitskampf nach Strich und Faden. Zwickel hatte sich bereits im Frühjahr deutlich gegen die Forderung nach Einführung der 35-Stunden-Woche in Ostdeutschland ausgesprochen und war von Anfang an ein erklärter Gegner des Streiks.

Vor zwei Monaten setzte sich dann der Zweite Vorsitzende Jürgen Peters, zuständig für die Tarifpolitik, im Gewerkschaftsvorstand überraschend als Kandidat für die Nachfolge Zwickels durch, der im Herbst zurücktritt. Der von Zwickel auserkorene Nachfolger, der baden-württembergische Bezirksleiter Bertold Huber, zog den kürzeren. Seitdem verband sich mit dem Streik für die Einführung der 35-Stundenwoche im Osten auch ein Machtkampf innerhalb der IG Metall um die Nachfolge Zwickels.

Sabotage und Streikbruch, anders kann man das Vorgehen von Klaus Zwickel nicht bezeichnen. Hinter dem Rücken der Streikleitung signalisierte er dem Arbeitgeberverband seine Opposition gegen die Forderung der Streikenden und deutete an, dass ihm ein Scheitern des Arbeitskampfs angesichts der innergewerkschaftlichen Auseinandersetzung nicht ungelegen käme. Die Arroganz und das provokante Vorgehen von Martin Kannengießer, dem Präsidenten des Arbeitgeberverbands Gesamtmetall, beruhte vor allem darauf, dass er den Gewerkschaftschef hinter sich wusste.

Gleichzeitig nahm Zwickel Verbindung zu den Betriebsratsvorsitzenden der großen Autowerke im Westen auf und verabredete eine gezielte Kampagne gegen den Streik, sobald der Produktionsausfall in den ostdeutschen Auto-Zulieferbetrieben zu Kurzarbeit in den westliche Stammwerken führen werde. Statt die Streikauswirkungen im Westen zu nutzen, um den Druck auf die ostdeutschen Arbeitgeberverbände zu erhöhen, wurden die Streikenden von mehreren Seiten in die Zange genommen.

In der entscheidenden Verhandlungsrunde am Ende letzter Woche stellten sich daraufhin die Arbeitgeber erneut stur, obwohl die Streikleitung um Jürgen Peters und den IG-Metall-Bezirksleiter von Berlin und Brandenburg, Hasso Düvel, bereit waren, in jedem Punkt weitgehende Zugeständnisse zu machen. Als sich nach zehnstündigen Verhandlungen in den frühen Samstagmorgenstunden Zwickel und Kannengießer zu einem Vier-Augen-Gespräch zurückzogen, platzte Peters in diese vertrauliche Beratung, um - wie er später sagte - einen Deal zu verhindern. Doch die Sache war bereits entschieden. Zwickel brach die Gespräche ab, erklärte die Verhandlungen für gescheitert und kündigte ein Ende des Streiks an.

Die Mitglieder, die vor zwei Monaten mit großer Mehrheit für Streik gestimmt hatten und von denen viele eine Ausweitung des Arbeitskampfes für notwendig hielten, wurden nicht gefragt. Zwickel setzte sich über die Tarifkommission und alle satzungsmäßigen Gremien hinweg und machte deutlich, was er von den viel beschworenen demokratischen Gepflogenheiten der Gewerkschaft hält.

Seitdem begann ein regelrechtes Trommelfeuer gegen Peters, Düvel und andere aus der Streikleitung. Gestützt auf die Betriebsratsfürsten der großen Auto- und Metallbetriebe versucht Zwickel, die konservativsten und rechtesten Elemente innerhalb der Gewerkschaft zu mobilisieren, um doch noch seinen Favoriten Bertold Huber als Nachfolger durchzusetzen.

Rücksicht auf die Regierung

Huber und Zwickel vertreten eine Schicht von Gewerkschaftsfunktionären und Betriebsräten, die sich als Co-Manager verstehen und ihre Aufgabe darin sehen, den Abbau sozialer Leistungen und Entlassungen in enger Zusammenarbeit mit der jeweiligen Geschäftsleitung möglichst reibungslos abzuwickeln und jeden Widerstand dagegen zu unterdrücken.

Huber bezeichnet sich selbst als "Reformer" und tritt in der Gewerkschaft als "Gegner der Besitzstandswahrer" auf. Schröders "Agenda 2010" kritisiert er von rechts. Er fordert einen "massiven Ausbau der privaten Alterversorgung" und verlangt in der Rentendebatte eine Erhöhung der Lebensarbeitszeit. Das Rentenzugangsalter, das gegenwärtig bei real 61 Jahren liegt, soll seiner Auffassung nach auf das gesetzlich vorgeschriebene Niveau von 65 Jahren angehoben werden.

Die vorgesehene Kürzung der Bezugsdauer des Arbeitslosengelds für Ältere hält Huber zwar für falsch, will aber stattdessen die Bezüge für Jüngere "auf unter 12 Monate" senken. "Die Substanz des Sozialstaats ist nicht gefährdet, wenn einzelne Leistungen gekürzt wenden", erklärte er in einen Gespräch mit dem Handelsblatt und forderte, dass Freizeitunfälle und andere Risiken privat versichert werden. Die Quintessenz seiner Politik lautet: Sozialabbau und Rationalisierungen im Interesse des Produktionsstandorts Deutschland.

Peters, Düvel und ihre Unterstützer haben diesem Kurs nichts Ernsthaftes entgegenzusetzen. Sie sind von der rechten Offensive innerhalb der Gewerkschaft eingeschüchtert, fordern mehr Geschlossenheit und erinnern an die großen Kampfzeiten der siebziger Jahre. Nicht einer von ihnen wagt es, gegen die rechte und korrupte Bande um Zwickel vorzugehen und den Streikbruch in der Chefetage der Gewerkschaft beim Namen zu nennen. Statt dessen hat Düvel seinen Rücktritt "zum geeigneten Zeitpunkt" angekündigt und Peters "auch eigene Fehler" der Streikleitung eingeräumt.

Jetzt rächt sich, dass niemand in der Führung dieser Gewerkschaft gegen Zwickel aufgetreten war, als seine Machenschaften als Arbeitnehmervertreter im Aufsichtsrat von Mannesmann aufflogen. Zwickel hatte im Frühjahr 2000 durch Stimmenthaltung Abfindungen in Millionenhöhe an den Vorstand ermöglicht, der damit für sein Nachgeben in der Übernahmeschlacht mit dem Vodafone-Konzern entschädigt wurde. Die Affäre war so anrüchig und roch derart stark nach Korruption, dass die Düsseldorfer Staatsanwaltschaft zu Beginn dieses Jahres Anklage gegen fünf ehemalige Manager und Aufsichtsratsmitglieder erhoben hat - unter ihnen Zwickel. Aber auch da regte sich in der IG Metall kein Widerstand.

Der Grund für diese politische Feigheit und das ständige Kuschen vor den Rechten liegt auf der Hand: Kein Flügel innerhalb der Gewerkschaftsführung ist bereit, den Konflikt bis zu einem Punkt zu treiben, an dem er das Überleben der Regierung in Frage stellt. Schließlich sind nahezu alle Spitzenfunktionäre der Gewerkschaft Mitglied in einer der beiden Regierungsparteien und unterstützen deren Politik.

Schon in der ersten Woche des Metallerstreiks hatte der DGB alle Kundgebungen und Proteste gegen die Agenda 2010 der Bundesregierung eingestellt und um ein Gespräch im Kanzleramt gebeten. Damit war auch die erste Vorentscheidung über das Schicksal der Metaller gefallen, standen doch deren Forderungen in unversöhnlichem Gegensatz zur Agenda 2010, die einen umfassenden Sozialabbau zum Inhalt hat.

Nur einen Tag vor dem Streikabbruch trafen sich die Vorsitzenden von acht Einzelgewerkschaften und dem DGB dann bei Kanzler Schröder und boten ihm die Zusammenarbeit bei der Durchsetzung der Agenda 2010 an, was in den Medien als Kotau bezeichnet wurde. "Keiner tat dies so schön, wie der IG-Bau-Chef Klaus Wiesehügel", schrieb der Spiegel. Noch Anfang Mai habe Wiesehügel über den Rücktritt des Kanzlers spekuliert und dessen Sparpläne als "zynisch und einen üblen Verstoß gegen die Menschenwürde" bezeichnet. "Nun säuselte er", man habe erkennen müssen, dass der Einfluss der Gewerkschaften auf die Parteien geringer sei, "als wir dachten", und kündigte an, "fortan werde man die Entscheidungen der Regierung beratend begleiten".

Auch Ver.di-Chef Frank Bsirske - Mitglied der Grünen -, der dem Kanzler im März "Verrat" und "blanken Sozialabbau" vorgeworfen hatte, bot nun Zusammenarbeit an und warnte davor, dass die Gewerkschaft sonst ihre Handlungsfreiheit verlieren werde. Mittlerweile hat Bsirske für die Berliner Beschäftigten im öffentlichen Dienst eine Tarifvertrag unterschrieben, der rund zehn Prozent Einkommensverlust bedeutet.

Mit diesem Rechtsruck reagieren die Gewerkschaften auf die Folgen des Irakkriegs. Der scharfe Konflikt zwischen den USA und Europa, der vor und während des Kriegs deutlich wurde, hat den Spielraum für soziale Kompromisse und Zugeständnisse weiter eingeengt. Die Bundesregierung reagiert auf die amerikanische Herausforderung, indem sie amerikanische Verhältnisse in Europa einführt und Sozialleistungen und Löhne gnadenlos nach unten treibt.

Die Gewerkschaften haben dem nichts entgegenzusetzen. In den USA und Großbritannien waren es vor zwanzig Jahren rechte Regierungen, die diese Angriffe durchsetzten. Dass nun in Deutschland eine rot-grüne Regierung das selbe macht, eine Regierung, die vor fünf Jahren an die Macht gebracht wurde, um die unsoziale Politik der Kohl-Regierung zu beenden, zeigt in aller Deutlichkeit, dass die Arbeiterklasse eine neue politische Orientierung braucht. Sie braucht eine Partei, die die prinzipielle Verteidigung der sozialen Rechte und Errungenschaften aller Arbeiter zum Mittelpunkt ihres Programms macht und ein internationales, sozialistisches Programm vertritt.

Siehe auch:
Metallerstreik in Ostdeutschland - Amoklauf der Medien gegen gleiche Arbeitszeit in Ost und West
(28. Juni 2003)
Staatsanwälte erheben Anklage gegen Mannesmann-Manager und IG-Metall-Chef Klaus Zwickel
( 8. März 2003)
IG-Metall-Chef Klaus Zwickel in Millionendeal bei Mannesmann verwickelt
( 25. August 2003)
(Dieser Artikel ist auch in der gleichheit - September/Oktober 2003 enthalten.)
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