Berichte sprechen von 26 Toten

Bolivianische Truppen massakrieren Streikende

Die bolivianische Armee tötete am Sonntag mindestens 26 Arbeiter und Bauern und verwundete etwa 90 weitere. Die von den Vereinigten Staaten gestützte Regierung unter Präsident Gonzalo Sanchez Lozada setzt auf diese mörderische Unterdrückungspolitik, um eine seit Monaten anhaltende Rebellion gegen die vom Internationalen Währungsfond (IWF) diktierte Austeritätspolitik seiner Regierung zu zerschlagen.

Die Armee marschierte in den Industriebezirk El Alto ein, einen Vorort von La Paz, der das Zentrum der Streiks und Proteste gegen die Regierung darstellt. Nach Augenzeugenberichten eröffneten Soldaten mit Maschinengewehren das Feuer auf die Einwohner, die nicht mehr als Stöcke und Steine zur Verfügung hatten, um sich zu verteidigen.

"Sie massakrieren uns", berichtete Roberto de la Cruz, ein Gewerkschaftsführer und Organisator des Streiks in El Alto. "Es gibt keinen Kampf. Sie schießen uns willkürlich ab, feuern in die Menge." Unter den Toten ist ein fünfjähriger Junge, der vom Maschinengewehrfeuer niedergestreckt wurde. Die örtlichen Krankenhäuser quollen vor Verwundeten über und es wurde um Blutspenden gebeten.

Auch ein Kampfhubschrauber kam zum Einsatz bei dem Angriff, der die buchstäbliche Belagerung von La Paz durch Streikende und Demonstranten niederschlagen sollte. Das unmittelbare Ziel der Armee bestand darin, die schwindenden Lebensmittel- und Treibstoffreserven der Hauptstadt wieder aufzufüllen.

El Alto ist Boliviens drittgrößte Stadt und zählt eine Bevölkerung von 600.000 Menschen. Sie liegt etwa 4.000 Meter über dem Meeresspiegel und ist sowohl das Zentrum der Ölraffinerien als auch der Nahrungsmittellager. El Alto ist ebenfalls einer der ärmsten Bezirke des Landes. Seine größtenteils indigene Bevölkerung stammt aus ländlichen Gebieten und ist auf der Suche nach Arbeit in die Stadt gekommen. Die Mehrheit der Alteños lebt in einem wild wuchernden Slum.

Eine Erklärung, die von der Katholischen Kirche Boliviens, Menschenrechtsorganisationen und dem wichtigsten Presseverband herausgegeben wurde, fordert die Regierung auf, sofort sämtliche Soldaten und Polizisten aus El Alto abzuziehen. "Wir können nicht länger von Auseinandersetzungen sprechen, sondern müssen es vielmehr ein wahres Massaker nennen", heißt es in der Erklärung. Es werden zahlreiche Berichte zitiert, die "den Einsatz großkalibriger Waffen, darunter auch schwerer Maschinengewehre, gegen die bolivianische Bevölkerung bestätigt haben."

Oppositionsführer beschuldigten die US-Botschaft, sie habe die Regierung dazu bewegt, den Protest in Blut zu ersticken. Der amerikanische Botschafter David Greenlee diente in den 1980-er Jahren als leitender CIA-Agent in dem Land. Viele in Bolivien schreiben ihm die Verantwortung für die drakonische Repression gegen Kokabauern und insbesondere das Massaker in Villa Tunari im Jahre 1988 zu, das 28 Bauern das Leben kostete.

In der derzeitigen Auseinandersetzung tritt die US-Botschaft für eine gewaltsame Unterdrückung ein. Sie vertritt damit die Interessen derselben Handvoll von Energiekonzernen mit politischen Beziehungen, deren Interessen auch schon die amerikanische Aggression im Irak und anderswo gesteuert haben.

In den vergangenen Monaten haben Hunderttausende bolivianischer Arbeiter, Bauern und Studenten eine Reihe von Kämpfen gegen die pro-amerikanische Regierung von Sanchez Lozada geführt, die im Land als "Gaskrieg" bezeichnet werden.

Neben dem Rücktritt des Präsidenten fordern die Demonstranten, dass das Erdgas, die letzte natürliche Ressource Boliviens, die sich noch nicht in den Händen transnationaler Konzerne befindet, nicht über einen chilenischen Hafen in die Vereinigten Staaten exportiert werden soll.

Wie der Rest von Lateinamerika haben auch die Bolivianer in den vergangenen zwei Jahrzehnten erleben müssen, wie die Ressourcen des Landes an die Transnationalen verscherbelt wurden, während die erbärmliche Armut der Bevölkerung sich nur verschärfte. Die Bolivianer fürchten zurecht, dass die Geschichte sich wiederholt, wenn das geplante Gasgeschäft zustande kommt. Das Land war bereits durch den Abbau in Silber und Zinn verwüstet worden, als amerikanische Unternehmen die Minen über das 20. Jahrhundert hinweg ausbeuteten und sie verließen, als sie nicht mehr profitabel waren.

Der geplante Erdgasexport ist eine Operation im Wert von 7 Milliarden Dollar, die der Pacific LNG zugesagt wurde. Die Pacific LNG ist ein Exportkonsortium, das die Bechtel Group, Amoco, British Petroleum und verschiedene andere Energiegiganten umfasst. Nach einer bereits früher getroffenen Vereinbarung zu Ölexporten verdienen die ausländischen Ölkonzerne 1,3 Milliarden Dollar pro Jahr, während Bolivien nur 70 Millionen Dollar an Steuern und Tantiemen erhält.

Der Funken, der den derzeitigen Massenaufstand gegen die Regierung entzündet hatte, war ein Massaker an der indigenen Bevölkerung in Warisata, bei dem am 20. September sieben Menschen starben und Dutzende verletzt wurden.

Nach dem Warisata-Massaker rief die wichtigste Gewerkschaft des Landes COB zum zeitlich unbegrenzten Generalstreik auf.

Gleichzeitig intensivierte die Gewerkschaft der Landarbeiter CSUTCB, die größte Bauernorganisation des Landes, ihre Politik der Straßenblockaden und erreichte damit, dass La Paz, die größte Stadt und der Regierungssitz des Landes, abgeschnitten wurde.

Die Kokabauern unter Führung von Evo Morales, dem Kopf der wichtigsten Oppositionspartei Bewegung zum Sozialismus (MAS), unterstützten den Streik nicht und beschränkten sich auf Straßenblockaden.

In La Paz erhielt der Ruf nach einem Generalstreik die sofortige Unterstützung von Händlern, Schlachtern, Transportarbeitern im Fracht- und Personenverkehr, Bergarbeitern und Bauern. Die Märkte schlossen und die Stadt kam zum Stillstand.

In den letzten zwei Wochen dehnte sich die Unterstützung für den Streik auf Pflegepersonal, Lehrer, Studenten und Wohltätigkeitsgruppen aus. Es gab täglich Demonstrationen durch La Paz, auf denen der Rücktritt von Sanchez Lozada gefordert wurde. Viele wurden bei Auseinandersetzungen mit der Polizei verhaftet. Am 10. Oktober marschierten Tausende durch die Innenstadt von La Paz und schlugen dabei auf Töpfe.

In La Ceja, dem wichtigsten Knotenpunkt in Boliviens Straßennetz, blockierten Militante der CSUTCB die Fahrbahn und legten damit den nationalen und internationalen Transport lahm. Berichten zufolge warfen LKW-Fahrer ihre Ladung in den Fluss, um nach Hause zurückzukehren. Im chilenischen Hafen Arica liegt Fracht mit einem Gesamtgewicht von 17.000 Tonnen, die nicht transportiert werden kann, weil die Eisenbahn zwischen Arica und La Paz stillgelegt ist.

Andere Städte, in denen Demonstrationen von Arbeitern, Bauern und Studenten stattfanden, sind Cochabamba, El Alto und die Bergbauzentren Oruro und Potosi, die letztgenannte ist dabei eine der ärmsten Regionen des Landes.

Die Regierung reagierte darauf, indem sie das Militär in die Region um La Paz und El Alto schickte. Die 12 Kilometer lange Straße zwischen El Alto und La Paz wurde von der Armee übernommen. Mittlerweile haben die Soldaten den internationalen Flughafen umstellt, um ihn offen zu halten. In verschiedenen Städten hat sich die Armee rund um die Universitäten postiert.

Schon vor dem Massaker am Sonntag hatte es in El Alto viele Zusammenstöße zwischen Einwohnern und der Polizei und Armee gegeben. In einem eindeutig ungleichen Gefecht kämpften die Alteños mit Steinen, Stöcken, Schleudern und Dynamit gegen eine Armee und Polizei, die mit spezieller Kampfausrüstung und gepanzerten Fahrzeugen einrückte.

Nachdem im vergangenen Monat während einer Auseinandersetzung ein kleines Mädchen durch die Kugel eines Soldaten getötet worden war, verlangten Tausende zorniger Alteños nach Waffen, um die Armeebaracken in der Region anzugreifen. Die Bewohner El Altos riefen den "Belagerungszustand" aus und erklärten, sie könnten nicht länger für das Leben der Soldaten und Polizisten garantieren.

Bolivien wird immer häufiger ein umfassender Bürgerkrieg vorausgesagt. In einem symbolischen Akt holten die Soldatenwitwen des Kriegs von El Chaco die Mauser-Gewehre heraus, die sie als Andenken an die im Kampf gegen Paraguay 1932-35 Gefallenen aufbewahrt hatten. Die einzige andere Gelegenheit, bei der diese altmodischen Gewehre benutzt wurden, waren die revolutionären Kämpfe des Jahres 1952.

Eine seit fünf Jahren anhaltende Wirtschaftskrise hat die heftige Armut großer Teile der bolivianischen Bevölkerung noch verschärft. Bolivien ist nach Haiti das ärmste Land auf dem amerikanischen Kontinent. Fast 60 Prozent der Bevölkerung leben in absoluter Armut. In den ländlichen Gebieten, wo 40 Prozent der Bevölkerung leben, sind neun von zehn Menschen arm.

Bolivianische Bauern leben unter vorindustriellen Bedingungen. Da sie keinen Strom haben, sind sie auf Öllampen als Lichtquellen, Guano als Düngemittel und Holz zum Kochen angewiesen. Sie verwenden Koka, Urin und Heilpflanzen als Medizin, weil sie keine Ärzte und Kliniken haben. Viele Kinder sterben an Durchfallerkrankungen und Mangelernährung oder werden einfach ausgesetzt.

Untersuchungen haben gezeigt, dass das Durchschnittseinkommen von Bauernfamilien in den letzten 15 Jahren um 50 Prozent gesunken ist. Nach Angaben der Regierung leiden fünf von zehn Bauern Hunger und weitere vier von zehn haben kaum genug zu essen.

Mehr als 80 Prozent aller Bolivianer zählen zur indigenen Bevölkerung. Diese Menschen stellen nicht nur die große Mehrheit der Bauern sondern auch der Bergarbeiter, die ihrer Geschichte nach die militanteste Schicht der bolivianischen Arbeiterklasse darstellen, und viele der Lehrer in den ländlichen Regionen. In den anderen Teilen der Arbeiterklasse findet man sie nicht in großer Anzahl.

Die indigene Bevölkerung ist die am stärksten ausgebeutete und unterdrückte Schicht der bolivianischen Bevölkerung. Ihre Aymara- und Quechua-Wurzeln reichen bis in das Inka-Reich zurück, das vor 500 Jahren von den spanischen Konquistadoren erobert wurde. Sie haben eine lange Geschichte des Kampfes gegen Unterdrückung - während der Kolonialzeit und gegen die Regierungen, die seit der Unabhängigkeit von Spanien im Jahre 1825 an der Macht waren.

Wie im Rest von Lateinamerika finden sich auch hier zwei Länder in einem: Ein Bolivien der Unterdrückten und Armen und ein anderes Bolivien der schmalen Bevölkerungsschicht, die von ihren Beziehungen zu amerikanischen Banken und Konzernen profitiert.

Der jetzige Präsident Sanchez Lozada, 73, ist ein wohlhabender Geschäftsmann aus dem Bergbaubereich, der in den Vereinigten Staaten erzogen wurde und lieber Englisch als Spanisch spricht - ganz zu schweigen von Aymara und Quechua, den zwei anderen offiziellen Sprachen Boliviens.

Die Popularität des Präsidenten ist auf magere 9 Prozent gesunken. Die Forderungen der bolivianischen Massen, die sich gegen den Verkauf von Erdgas an die Vereinigten Staaten richten, stellen eine Zurückweisung der Politik des freien Marktes dar, die in den vergangenen 15 Jahren praktiziert wurde. Während dieser Zeit wurde Boliviens gesamte Rohstoffe und Infrastruktur mit Ausnahme des Erdgases - von Öl und Strom über Eisenbahn und Kommunikation - an die Transnationalen verkauft.

Die amerikanische Botschaft spielte eine zentrale Rolle dabei, Gonzalo Sanchez Lozada im August 2002 als Präsidenten zu installieren, nachdem er nur 22 Prozent der Stimmen erhalten hatte. Damit der Führer der Kokabauern, Evo Morales von der MAS, nicht die Präsidentschaftswahlen gewann, half Washington beim Schmieden einer Koalition zwischen der Nationalistisch-Revolutionären Bewegung (MNR) von Sanchez Lozada, der Linksrevolutionären Bewegung (MIR) des ehemaligen Präsidenten Jaime Paz Zamora, der Nationaldemokratischen Aktion (ADN) des ehemaligen Präsidenten und Diktators Hugo Banzer und zwei weiteren kleineren Parteien.

Washington fürchtete, dass im Falle eines Wahlsiegs der MAS sowohl der Kokavernichtungsapparat der Vereinigten Staaten als auch die Pacific LNG des Landes verwiesen worden wären. Bolivien erhält nach Kolumbien am meisten amerikanische Gelder, um den Kokaanbau zu bekämpfen.

Sanchez Lozada setzt bereitwillig alle vom IWF diktieren Maßnahmen durch, so z.B. neue Steuern, die drastische Senkung des Einkommens- und Rentenniveaus, den Abbau staatlicher Subventionen für Gas und Benzin, die Senkung der Staatsausgaben und vermehrte Exporte.

Eine der drastischsten Maßnahmen, die der IWF fordert, ist das so genannte Bürgersicherheitsgesetz, das eine friedliche Umgebung für das in Bolivien tätige ausländische Kapital schaffen soll. Das Gesetz erlaubt der Regierung, Bauernführer und militante Arbeiter, die das Programm des freien Marktes ablehnen, ins Gefängnis zu werfen.

Sanchez Lozada wurde von der US-Botschaft und den transnationalen Ölkonzernen mit Unterstützung der bolivianischen Armee an die Macht gebracht. An der Macht halten kann er sich allerdings aufgrund der Ängstlichkeit und des Verrats derjenigen, die sich als die Führung der bolivianischen Arbeiter und Bauern ausgeben.

Nach einer Massenerhebung im Februar 2003, die das Ende der Regierung hätte bedeuten können, unterzeichneten die Führer der MAS und COB einen Sozialpakt mit Sanchez Lozada, verschafften ihm dadurch die bitter benötigte Atempause und verrieten die Kämpfe der Lehrer, Pfleger, landlosen Bauern, Bergarbeiter und anderer Teile der Arbeiterklasse.

Weil keines der Versprechen des Sozialpaktes jemals verwirklicht wurde, trat ein Teil der Arbeiter und Bauern nach dem anderen wieder in den Kampf, so dass schließlich am 19. September, dem Tag vor dem Warisata-Massaker, eine gewaltige Demonstration von 150.000 Menschen durch La Paz marschierte.

Während sich die bolivianischen Massen wiederum in der offenen Rebellion befinden, zeigen sich ihre angeblichen Führer ein weiteres Mal versöhnlich gegenüber der Regierung.

Evo Morales und der COB-Führer Jaime Solares bitten die Regierung, mit ihnen in Dialog zu treten, was die Regierung bislang abgelehnt hat, da die aufgestellten Forderungen den Interessen der amerikanischen Unterstützer zuwiderlaufen.

Offensichtlich um den wachsenden Zorn nach dem Massaker in El Alto zu zerstreuen, hatte Sanchez Lozada am Montag ein Dekret herausgegeben, dass ankündigte, bis zum Ende des Jahres werde "kein Erdgas zu den neuen Märkten exportiert". Er behauptete, bis dahin würde seine Regierung "Konsultationen und Debatten" über das geplanten Gasgeschäft organisieren. Direkt nach der Bekanntgabe des Dekrets macht ein Regierungssprecher jedoch deutlich, dass die Ergebnisse jeglicher Konsultationen oder Debatten nicht bindend wären. Die Regierung hat auch versucht, mit Führern der Bewohner von El Alto in einen "Dialog" zu treten.

Es gibt keine Hinweise darauf, dass diese armseligen und reichlich späten Gesten in irgendeiner Weise die Massenprotestbewegung dämpfen. Öffentliche und privaten Transportarbeiter traten am Montag aus Solidarität mit den Menschen von El Alto in Streik. Die Bäcker bereiteten ihren Streikeintritt vor. Die Kokabauern, die sich den Protesten noch nicht angeschlossen haben, kündigten einen Marsch auf La Paz und eine Blockade der Straßen an. In La Paz, Cochabamba und anderen Regionen wurde zu Massendemonstrationen und Protesten aufgerufen.

Trotz der Militärentsendung der Regierung hielt in El Alto selbst der Protest nach dem Massaker an. Einwohner entzündeten Signalfeuer und bewarfen Armeepatrouillen mit Steinen.

Siehe auch:
Bush verordnet Lateinamerika Armut
(4. April 2002)
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