Studentenproteste an den Berliner Universitäten

Die Studentenproteste an den Universitäten Berlins dauern an. Während die Studenten der Technischen Universität (TU) schon vor drei Wochen in Streik getreten sind, schlossen sich vor gut einer Woche auch die beiden anderen Universitäten der Stadt, Humboldt- und Freie Universität, den Protesten gegen die unsoziale Bildungspolitik des Berliner Senats an. Auch an anderen Universitäten Deutschlands wird gestreikt, so in Frankfurt, Gießen, Hannover und vielen anderen.

Die Uni-Streiks sollen der Vorbereitung und Durchführung von Protestaktionen dienen, zu deren Organisation normalerweise kaum Zeit bestünde. Die Liste der bislang durchgeführten Aktionen ist lang. Einige Beispiele: Vor gut drei Wochen begann der Streik der TU mit der zweimaligen Besetzung des Kreisverkehrs am Ernst-Reuter-Platz, einer zentralen Straßenkreuzung der Stadt. Vorlesungen und Seminare werden, statt in Universitätsgebäuden, an öffentlichen Plätzen und in S-Bahnen abgehalten, um die Öffentlichkeit auf die Berliner Bildungsmisere aufmerksam zu machen. Jeden Samstag finden Demonstrationen durch das Stadtzentrum Berlins statt. Am Donnerstag, den 27. November fanden diese Demonstrationen ihren vorläufigen Höhepunkt mit über 20.000 Studenten, die vom Potsdamer Platz zum Roten Rathaus zogen.

Am 25. November besetzten protestierende Stundenten das Bürogebäude von Wissenschaftssenator Thomas Flierl (PDS). Zweifach wurde die Räumung durch die Polizei verhindert, indem sich Hunderte von Studierenden zu Spontandemonstrationen einfanden. Am 26. November ging dann die Besetzung friedlich zu Ende.

Am selben Tag wurde die Bundeszentrale der PDS besetzt. Die Partei kündigte sogleich an, sie wolle die Polizei aus dem Spiel lassen und einen friedlichen Ablauf der Besetzung gewährleisten. Die Studenten wurden zu "Gästen auf unbestimmte Zeit" erklärt. Es wäre jedoch Augenwischerei, hierin ein Entgegenkommen der PDS zu erblicken - gerade diese Partei unternimmt im Senat den sozialen und bildungspolitischen Kahlschlag. Dass sie sich nun verständnisvoll zu gebärden versucht, zeigt lediglich ihre Angst, auch den letzten Rest von Unterstützung in der Bevölkerung zu verlieren.

Im Verlauf der letzten drei Wochen lässt sich augenscheinlich eine zunehmende Radikalisierung der Proteste feststellen - was mit öffentlichen Vorlesungen und Straßenblockaden begann, entwickelte sich zu Besetzungen von Amtsgebäuden und Parteizentralen. Doch im Widerspruch zu dieser Radikalisierung steht die inhaltliche Ausrichtung der Proteste und das politische Verständnis, das ihnen zugrunde liegt. Nach einer fundierten Analyse der Politik des Senats sucht man in aller Regel vergeblich.

Die Sparpläne des Berliner Senats

Anlass der Proteste sind die geplanten Kürzungen, die der von SPD und PDS geführte Berliner Senat an den Hochschulen vornehmen will. Zunächst ist für die Jahre 2004 und 2005 eine Einsparung von 50 Mio. Euro vorgesehen. Bis zum Jahr 2009 sollen dann die Jahresbudgets der Universitäten um 75 Mio. Euro gegenüber 2003 gesenkt werden. Was dies für die Universitäten bedeutet, ist unschwer auszumachen: Abbau von Professoren- und Mitarbeiterstellen, Wegfall von Studienplätzen und die Schließung von Instituten, z.T. sogar von ganzen Fakultäten.

Geplant ist beispielsweise die Streichung von 250 der 1082 Professuren in Berlin. An der TU droht die Schließung von bis zu drei der acht Fakultäten, an der HU der Abbau von bis zu 500 Stellen für Mitarbeiter der Universität. Institute, die für die Ausbildung der Studenten zwingend notwendig sind, stünden vor dem Ende. An der FU beispielsweise soll das Institut für mittelalterliche Geschichte sieben von 16 Professuren abbauen. Da sämtliche Geschichtsstudenten Pflichtkurse an diesem Institut besuchen und Hausarbeiten anfertigen müssen, stellt sich die Frage, wie das Geschichtsstudium überhaupt noch gewährleistet werden kann.

Besonders stark wären auch die Universitätsbibliotheken betroffen, die für jedes Studium unabdingbar sind. Stellen und Geldmittel sollen hier gleichermaßen in großem Umfang den Streichungen zum Opfer fallen.

Schon heute ist die Situation in Berlin ruinös. In überfüllten Hörsälen und Seminarräumen kann kaum noch ein vernünftiger Unterricht gegeben werden. Die Seminare bieten längst nicht mehr überall ausreichend Teilnahmeplätze für alle Studenten. Die nun geplanten Einsparungen wären für einige Studiengänge der Todesstoß.

Studiengebühren

Der Gipfel der Grausamkeiten liegt bei der Erhebung von Studiengebühren. Letztere stoßen auf den breitesten Widerstand in der Studentenschaft. Besonders niederträchtig erscheint dieses Vorhaben angesichts der Tatsache, dass bereits 10 Mio. Euro aus Studiengebühren im Haushalt von 2005 eingeplant sind. Diese werden in keiner Form den Unis zugute kommen, sondern für die Sanierung des Landeshaushaltes verwendet werden.

Eine wenig verdeckte Form der Studiengebühren steht mit den sogenannten "Studienkonten" zur Debatte. Dem Studierenden soll hiernach eine gewisse Anzahl von Seminaren, Praktika und Studiensemester kostenlos zur Verfügung stehen. Überschreitet er die Regelstudienzeit oder muss er Kurse wiederholen, ist dies kostenpflichtig.

Die Regelstudienzeit ist in den meisten Fällen weitaus zu kurz bemessen und zwar aus mehreren Gründen: Eine "termingerechte" Absolvierung des Studiums ist besonders für Studierende, die sich mit Nebenjobs finanzieren müssen, kaum machbar; durch die Streichung von Professuren und Geldmitteln wird auch der Besuch von Pflichtveranstaltungen für einen Großteil der Studenten zum gewaltigen Problem - die Seminare sind überfüllt, Plätze werden schon heute oft anhand langer Wartelisten vergeben.

Darüber hinaus können die Studienkonten jederzeit verkleinert werden, ohne dass dies von der Öffentlichkeit wesentlich wahrgenommen wird. Die Studienkonten stellen somit eine kaum verhüllte Einführung von Studiengebühren dar.

Zerstörung des öffentlichen Bildungssystems

Betrachtet man die Dinge aus einem weiteren Blickwinkel, so erkennt man, dass derzeit in Berlin und auf Bundesebene nichts geringeres stattfindet als die Zerstörung des öffentlichen Bildungssystems - auf allen Ebenen und Schritt für Schritt, von der Kindertagesstätte bis zur Hochschule.

Die ruinöse Bildungspolitik des Berliner Senats ist nicht auf die Universitäten beschränkt. Schon vor über einem Jahr wurde die Privatisierung der Hälfte aller Kita-Plätze beschlossen. Damit einher geht die Streichung von 1100 Erzieherstellen. Die Gruppengröße wurde von 16 auf 21 Kinder je Erzieher heraufgesetzt. Eine vernünftige Schulbildung wurde Kindern einkommensschwacher Familien dahingehend erschwert, dass die Eltern nun selbst für die Lehrmittel ihrer Kinder aufkommen müssen. Den Familien wurde damit eine zusätzliche Belastung von 100 Euro pro Jahr und Kind aufgebürdet.

Die Schulen in ganz Deutschland befinden sich wegen des faktischen Bankrotts vieler Kommunen in einer Dauerkrise - ausgelöst ganz wesentlich durch den von Rot-Grün auf Bundesebene durchgesetzten Wegfall der Körperschaftssteuer für Unternehmen, die in der Vergangenheit eine der wichtigsten Geldquellen der Kommunen ausgemacht hatte.

An den Hochschulen wird in vielen Bundesländern die Aufspaltung der Studien in Bachelor- und Masterstudien eingeführt. Der Bachelor-Abschluß entspricht im Grunde dem bisherigen Grundstudium von meist vier Semestern - er soll kostenlos angeboten werden. Wer jedoch tatsächlich ein vollständiges Studium absolvieren will, der muss weiter studieren bis zum Master-Abschluß - wofür dann aber Gebühren verlangt werden. Zur Debatte steht somit die Einführung einer Elitebildung für diejenigen, die sie sich leisten können. Dem großen Rest der Bevölkerung wird der Zugang zu guter und fundierter Bildung verwehrt bleiben.

Zur gleichen Situation führt auch die Einführung von Studiengebühren in der einen oder anderen Form. Studiengebühren bedeuten nichts anderes, als dass Hochschulbildung zum Privileg derer wird, die sie sich leisten können.

Die Wandlung in der Bildungspolitik

Die Bildungs- und Erziehungspoltik ist dabei nur ein Teil der sozialen Grausamkeiten in Berlin und der gesamten Bundesrepublik. Mit der Agenda 2010 und der Umsetzung der sogenannten Hartz-Konzepte betreibt die rot-grüne Bundesregierung einen Sozialabbau, der weit über das hinausgeht, was ihre schwarz-gelbe Vorgängerin jemals vorhatte. Der von SPD und PDS geführte Berliner Senat hat in seiner kurzen Amtszeit systematisch damit begonnen, den Sozialstaat in allen Bereichen aufzubrechen. Dass gerade diese Regierung eine Vorreiterrolle bei der Zerschlagung des allgemeinen Bildungssystems übernimmt, verdient allerdings besondere Beachtung.

Als sich die SPD am Ende des 19. Jahrhunderts zur Massenpartei der deutschen Arbeiter entwickelte, legte sie großen Wert auf kultur- und bildungspolitische Fragen. Die Erhöhung des kulturellen und politischen Bewusstseins unter den Arbeitern galt als notwendige Vorraussetzung für ihre Emanzipation und war damit zentrale Aufgabe der deutschen Sozialdemokratie. Die SPD veröffentlichte in hoher Auflage Bücher, Magazine und Zeitschriften, errichtete öffentliche Leihbibliotheken und führte zahlreiche Lehrgänge zu Politik, Geschichte und Wissenschaft durch. Die Forderung nach einem allgemeinen und freien Zugang der Arbeiterklasse zu einer hochwertigen Bildung war zentraler Bestandteil und ein Eckpfeiler des sozialdemokratischen Programms.

Noch in den 1970er Jahre führte die von Willy Brandt geführte Bundesregierung eine umfassende Bildungsreform durch, die das ausdrückliche Ziel verfolgte, den Anteil von Arbeiterkindern an den Universitäten zu erhöhen. Mit der Errichtung von Gesamtschulen und der Einführung des Bafög wurde tatsächlich erreicht, dass der Anteil von Arbeiterkindern unter den Abiturienten und Hochschulabsolventen beachtlich stieg, auch wenn er nie annähernd das Verhältnis erreichte, das ihrem proportionalen Anteil an der Gesamtbevölkerung entspricht.

Der Trend ist aber seit Jahren wieder rückläufig. SPD und auch PDS tragen auf allen Ebenen zur Destruktion des allgemeinen Bildungssystems bei und fördern in allen Bereichen Eliten- statt Massenbildung. Mit den aktuellen Kürzungsvorhaben stellt sich der Berliner Senat einmal mehr an die Spitze dieser Entwicklung.

Die rot-rote Politik ist Teil eines internationalen Prozesses. 1994 wurde im Rahmen der Welthandelsorganisation das "General Agreement on Trade und Services" (GATS) geschlossen, das die Vertragspartner, zu denen die EU-Staaten gehören, verpflichtet, ihren Dienstleistungssektor für den freien Handel und den internationalen Wettbewerb zu öffnen. Für die Bildungspolitik bedeutet das mittelfristig, dass staatliche Bildungseinrichtungen wie Universitäten oder Schulen entweder gar nicht mehr gefördert werden dürfen oder alle entsprechenden privaten Institutionen gleiche Subventionen genießen müssen.

Siehe auch:
Berliner Studierende wehren sich gegen Angriffe des Senats
(23. Mai 2003)
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