Berlin, Leipzig, Frankfurt:

Über 50.000 demonstrieren gegen Bildungs- und Sozialabbau

Zur bislang größten Demonstration der seit Wochen andauernden Studentenproteste gingen am Samstag in Berlin rund 40.000 Menschen auf die Straße, nach Angaben der Veranstalter sogar über 50 000. Auch in anderen deutschen und europäischen Städten fanden Demonstrationen statt. In Frankfurt am Main gingen 10.000 Menschen auf die Straße, in Leipzig sogar über 20.000. Hier waren neben Studierenden aus Sachsen auch Demonstranten aus Sachsen-Anhalt, Thüringen und Bayern gekommen.

Inzwischen regt sich in ganz Deutschland Widerstand gegen die Politik von Bundes- und Landesregierungen. 14 Hochschulen werden bestreikt: HU Berlin, TU Berlin, FU Berlin, Uni Frankfurt/Main, FH Frankfurt/Main, Uni Marburg, Uni Gießen, Hochschule für Gestaltung Offenbach, FH Darmstadt, TU Darmstadt, Uni Göttingen, FH Wiesbaden, Uni Kassel, FH Fulda. Die Studenten sind konfrontiert mit Landesregierungen unterschiedlichster Couleur, von der PDS und SPD in Berlin bis hin zum rechten Koch-Flügel der CDU in Hessen.

Die Demonstration in Berlin

Erstmals hatten neben den Studentenvertretungen der drei Berliner Universitäten auch Schülervertretungen, Gewerkschaften und Sozialverbände zur Demonstration aufgerufen, darunter die Gewerkschaften IG-Metall, Ver.di, GEW, IG Bau, sowie Eltern- und Arbeitsloseninitiativen. Die Demonstration richtete sich laut Motto gegen "Bildungsabbau und Sozialklau". Auch aus Städten in Brandenburg, Niedersachsen, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein waren Demonstranten angereist.

In Berlin war es während der vergangenen Woche abermals zu Besetzungsaktionen gekommen - Studierende drangen in die Niederlassung des Bertelsmann-Verlages, dessen Vertreter Zustimmung zur Bildungspolitik des Senats geäußert hatten, und die Bundeszentrale der SPD ein. Beide Besetzungen wurden von der Polizei durch Räumung der Gebäude beendet.

Bei der Großdemonstration sollten die Proteste verschiedener Gesellschaftsgruppen verbunden werden, die gleichermaßen von der Sparpolitik der Landesregierung betroffen sind. Diese beinhaltet neben den Kürzungen bei den Universitäten auch scharfe Einschnitte für öffentlich Beschäftigte, Schulen, Familien und Sozialhilfeempfänger.

Schon seit Beginn der Studentenproteste wurde daher wiederholt darauf hingewiesen, dass der Widerstand gegen Bildungsabbau und Studiengebühren mit dem Widerstand anderer Bevölkerungsgruppen verbunden werden müsse. Die Demonstration am Samstag wurde von vielen als Startsignal für gemeinsame Proteste der Berliner Bevölkerung gesehen. Tatsächlich stehen laut Umfragen 83% der Berliner den Protesten der Studenten positiv gegenüber.

Beginn der Demonstration war am Brandenburger Tor, wo sich zunächst nur etwa 5000 Teilnehmer eingefunden hatten. Innerhalb kurzer Zeit jedoch schwoll der Demonstrationszug auf über 40.000 Teilnehmer an.

Am Potsdamer Platz sollte der Demonstrationszug mit einer Demonstration der Gewerkschaften zusammentreffen, um gemeinsam zur Abschlusskundgebung zu ziehen. Doch obwohl mehrere Gewerkschaften, darunter die IG Metall, Ver.di, GEW und IG Bau ihre Unterstützung versichert hatten, war am Potsdamer Platz nur ein kleines Grüppchen zusammengekommen, das im Regen stehend auf den Demonstrationszug wartete. Diese geringe Beteiligung steht in Einklang mit der Politik der Gewerkschaften, jeden Protest gegen die sozialen Einschnitte der rot-grünen Bundesregierung - die sogenannte Agenda 2010 - zu unterdrücken und aufzuhalten.

Ein Mitglied der IG Bau sagte der WSWS, dass außer einem halben Dutzend Arbeitsloser niemand von seiner Gewerkschaft sich an den Protesten beteilige. Er führte das auf die Zusammenarbeit der Gewerkschaften mit der Regierung zurück, bei der sie sich durch breiteren Protest diskreditieren würde. Er machte seiner Wut Luft, indem er über beide gleichermaßen schimpfte.

Nach Ankunft des Demonstrationszuges fand am Potsdamer Platz eine Zwischenkundgebung statt. Eine Vertreterin der Studierenden an der Humboldt-Universität Berlin sprach zu den Demonstranten, hatte aber wenig zu sagen. Obwohl die Proteste seit Wochen andauern und der Senat keinerlei Zugeständnisse gemacht hat, versuchte sie ein Gesprächsangebot der PDS an die Studierenden als "Sieg" darzustellen. Sie schloss mit dem Aufruf, weiter zu protestieren und den Druck aufrecht zu erhalten.

Auf der Abschlusskundgebung nahe dem Alexanderplatz sprachen Vertreter der verschiedenen Organisationen, die zu der Demonstration aufgerufen hatten - ein Vertreter des Berliner Sozialforums, eine Studierende der Freien Universität, zwei Vertreter des "Sozialrevolutionären Blocks" sowie ein Redner der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW).

Alle Redner betonten, wie wichtig es sei, dass sich die Studenten mit anderen sozialen Gruppen zusammenschließen. Der Vertreter des "Berliner Sozialforums" erklärte, die Protestierenden dürften sich nicht spalten und nicht gegeneinander ausspielen lassen. Er forderte "eine Welt, in der die notwendige Arbeit gleichmäßig verteilt wird".

Der Vertreter der Gewerkschaft GEW bediente sich der Sprache des Berliner Senats und versuchte, das Recht auf Bildung vom Standpunkt der Zukunftsfähigkeit des Standorts Deutschland zu verteidigen. Es sei gerade wirtschaftlich nötig, die Zahl der Hochschulabsolventen in Deutschland zu verdoppeln. Anstatt sich durch die Einführung von Studiengebühren aus dem Bildungssystem zurück zu ziehen, solle der Staat Bildung als "Zukunftsinvestition" sehen. Er appellierte an die Politik, nachzudenken und "vernünftiger" vorzugehen.

Eine weitreichendere Perspektive für den Kampf gegen die Bildungs- und Sozialmisere vermochte keiner der Redner zu geben. Mehrfach wurde als Erfolg gefeiert, dass Berlins Wissenschaftssenator Flierl auf Druck seiner Partei hin zugesagt habe, die Studienkonten noch einmal zu überdenken. Und auch die SPD, so wurde erklärt, würde ihre Ohren nicht länger verschließen können.

Bei den Teilnehmern der Demonstration scheint diese Ansicht weit weniger verbreitet zu sein. An ein Einlenken von SPD und PDS scheinen wenige zu glauben.

Im Interview mit der WSWS sagte Anika, 22, die an der Freien Universität Berlin Linguistik studiert: "Die Proteste werden nichts ändern. Die Politiker spielen auf Zeit." Dennoch nahm sie an der Demonstration teil: "Die Proteste sollen der Öffentlichkeit klar machen, was an den Unis gekürzt wird. Die Bedingungen sind jetzt schon katastrophal." Auf den rot-roten Senat angesprochen zeigte sie sich enttäuscht: "Ich glaube, viele Studenten haben Wowereit gewählt und fühlen sich jetzt hintergangen. Von der PDS hätte ich das nie erwartet."

Ähnlich äußerte sich Jakob, 22, über die Berliner Landesregierung: "Gegenüber der PDS kann man nur noch resignieren." Jakob studiert an der Technischen Universität Geowissenschaften und befürchtet eine Verschlechterung der Studienbedingungen. "Noch geht es uns relativ gut, aber wo soll das enden?"

Anfangs sagte er, dass er sich von den Protesten einen Kompromiss erhoffe, und sprach dann darüber, was dem entgegen stehe. Angesichts des Schuldenberges bleibe dem Senat nichts anderes übrig, als zu kürzen. "Es wird aber an der falschen Seite gespart. Für die Sanierung einer Bank oder für Spitzengehälter ist Geld da, während das Bildungselend immer größer wird." Man müsse "den Parteien zeigen, dass die breite Wählerschaft gegen die Kürzungspolitik ist". Die Demonstration solle wach rufen. "Es geht nicht nur um Berlin, sondern um bundesweite Kürzungen."

Werner K., Regisseur und Autor, beteiligte sich an den Protesten in Berlin. "Ich halte die Demonstration für wichtig, weil auf die Probleme hingewiesen werden muss." Dass der Senat die Kürzungen rückgängig macht, hält er für ausgeschlossen: "Die machen so weiter. Da will eine Regierung Neoliberalismus durchsetzen, da will man nach dem Motto ‚Wir sind wieder wer!' unser Militär überall in die Welt schicken. Das ist ein ganz gefährlicher Rechtsruck." Was bei der Bildung gekürzt wird, sagte Werner, werde für die Aufrüstung verschwendet.

"Das ist ungeheuerlich, was hier zurzeit statt findet.", meinte auch André, der an der Humboldt Universität studiert. "Ich habe im Abgeordnetenhaus die Diskussion mitverfolgt, das ist einfach nur Wahlkampf gewesen." Auch über die Grünen, die an der Landesregierung in Berlin nicht beteiligt sind, hat André keine bessere Meinung; sie seien für die Einführung von Studiengebühren in anderen Bundesländern verantwortlich. Die Ursache für den Bildungsabbau sieht er in der vorherrschenden neoliberalen Politik. "Es wird verdammt viel privatisiert und in die Unternehmen gepfeffert. Irgendwo muss das Geld herkommen und jetzt gehen sie an die Leute ran, an die Arbeiter, an die Studenten, Leute, die sich angeblich nicht wehren können."

Mitarbeiter des WSWS verteilten über tausend Flugblätter auf der Demonstration, führten Diskussionen mit Teilnehmern und hatten einen Büchertisch aufgebaut. Am 18. Dezember wird an der Humboldt-Universität eine Veranstaltung mit dem Thema "Bildung ist ein Grundrecht, keine Ware" stattfinden.

Die Demonstration in Frankfurt am Main

In Frankfurt nahmen an der Demonstration etwa 10.000 Studenten teil, die aus Aachen, Bonn, Duisburg, Freiburg, Karlsruhe, Köln, Konstanz, Mannheim, Trier, Tübingen und aus allen hessischen Universitätsstädten (Frankfurt, Darmstadt, Kassel, Gießen, Offenbach, Marburg) gekommen waren. Die Demonstration führte vom Hauptbahnhof durch die Innenstadt zum alten Campus an der Bockenheimer Warte.

Die Demonstranten trugen Transparente und Plakate mit Aufschriften wie: "Freie Bildung ist ein Recht, kein Privileg" -"Freie Bildung für freie Menschen" - "Nichts gelernt aus Pisa? Alles wird miesa!" - "Uni Duisburg-Essen: Erst fusioniert, dann abkassiert. Bildung für alle!" - "Die neue Kultur des (H)aushaltens: Hunger ist der beste Koch!"- "Kostenlose Kindergartenplätze!".

Die Studenten hatten sich auch bemüht, internationale Kontakte aufzunehmen: So brachte die Streikzeitung der Goethe-Uni Frankfurt ausführliche Berichte über die aktuellen Streiks in Frankreich; auf der Kundgebung sprach eine Studentin aus Amsterdam und es wurden Grußbotschaften aus mehreren europäischen Ländern verlesen.

Hauptsprecher war Klemens Himpele, Geschäftsführer des Aktionsbündnisses gegen Studiengebühren (ABS). Er nannte zwei Gründe dafür, dass sich die Demonstration gegen Bildungs- und Sozialabbau richtete:

"Erstens ist Bildungsabbau Sozialabbau. Durch die Kürzungen und Sparmaßnahmen an Kindergärten, Schulen und Hochschulen werden die betroffen, die sich die Gebühren hier wie dort nicht leisten können, also die, die man gerne als bildungsferne Schichten bezeichnet.

Zweitens ist die Argumentation, die für den Sozialabbau herhalten muss, die gleiche wie für den Bildungsabbau: Die öffentlichen Kassen seien leer. Das ist zweifellos wahr, aber warum sind die Kassen leer? Das ist eine Folge der Steuerreformen der Bundesregierung, die allein im Jahr 2001 zu Mindereinnahmen des Staates von 24 Mrd. Euro geführt hat. Jetzt ist sogar noch das Vorziehen der Steuerreform geplant. Das muss abgelehnt werden, weil dadurch die höheren Einkommen begünstigt werden."

Er kritisierte die nordrhein-westfälische SPD-Schatzmeisterin, die "in einem Bettelbrief an die Parteimitglieder schreibt, die Kosten der sozialen Sicherung würden den Staatshaushalt belasten und nicht genug Raum für Bildung lassen. "Wir dürfen uns nicht gegeneinander ausspielen lassen", sagte Himpele.

Er wandte sich gegen die Agenda 2010 sowie gegen die Propaganda von der "Eigenverantwortung" und schloss mit den Worten: "Wir sagen nein zu dieser Steuerreform. Die Vermögenssteuer muss wieder her, und die Erbschaftssteuer muss angehoben werden, und das alles kann nur der Anfang sein auf dem Weg in eine freie, solidarische Gesellschaft."

Der WSWS -Artikel "Bildung ist ein Grundrecht, keine Ware", der als Flugblatt verteilt wurde, stieß auf Interesse und Zustimmung.

Carsten, ein Lehramtsstudent von der FH Darmstadt, meinte, die Politiker würden sich dem Druck nicht beugen. "Die Demonstrationen sind ihnen völlig egal", sagte er. "Gerade in Hessen legen sie heute keinen Wert mehr auf ein liberales Image. Sie bauen sich eher das Image einer Durchdrückerpolitik auf: Sie stellen es so hin, als wollten die Menschen gegen die ganzen Unsicherheiten wieder eine starke Hand und jemanden, der für Ordnung sorgt. Mindestens die hessische CDU setzt heute auf Autorität."

Er fuhr fort: "Wir hatten den Corts [den hessischen Minister für Wissenschaft und Forschung] bei uns in der Technischen Uni zu einer Diskussion. Da kam nichts dabei raus, es ist ihm wirklich egal, der drückt das durch. Der Mann ist eine rhetorische Leerhülse, er versucht es so hinzubiegen, dass er viele Worte macht und möglichst wenig dabei sagt."

Carsten sagte, er glaube nicht, "dass wir bis zur dritten Lesung die Herren zur Einsicht gebracht haben. Das liegt schon alleine daran, dass gar nichts da ist, was zur Einsicht gebracht werden könnte." Das Problem sei die globale kapitalistische Wirtschaftsordnung. Der Bildungsabbau sei Bestandteil einer "Politik der Effektivitätssteigerung, die eine ganz klare neo-liberale Ausrichtung hat. Und dazu gibt's unserer Meinung nach in der ganzen Parteienlandschaft so gut wie keine Alternativen mehr. Das ist unser Problem, mit dem wir es zu tun haben."

Auf die Frage nach den weiteren Perspektiven hatte Carsten, wie die meisten seiner Kommilitonen, keine klare Antwort: "Es ist die wichtigste, aber auch die schwierigste Frage", sagte er. Man dürfe wegen der Tatsache, dass die Gesetze ohne Rücksicht auf die Proteste verabschiedet werden, jetzt nicht resignieren. "Das Wichtigste ist, aus dem Potential an Kreativität und Motivation, das wir hier in den letzten Wochen gesehen haben, den Mut zu schöpfen, um weiterzumachen und sich zu engagieren und immer wieder an die Öffentlichkeit zu gehen."

Siehe auch:
Bildung ist ein Grundrecht keine Ware
(12. Dezember 2003)
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