Afghanistan: "Demokratie" nach dem Diktat der USA

Nach dreiwöchigem Geschacher, Gefeilsche und Gezänk haben die 502 weitgehend ungewählten Abgeordneten der US-geförderten Loya Jirga oder Großen Ratsversammlung in Afghanistan diese Woche eine Verfassung verabschiedet. Deren Ziel besteht darin, die wankende Stellung des von Washington ausgewählten Interimspräsidenten Hamid Karzai zu stärken.

Nachdem der Sondergesandte von US-Präsident George Bush und Botschafter in Afghanistan, Zalmay Khalilzad, sowie der UN-Sondergesandte Lakhdar Brahimi erheblichen Druck auf die Fraktionsführer ausgeübt hatten, segnete die Versammlung - ein großes Zelt voller Vertreter von Warlords, Mullahs und US-Marionetten - die Verfassung am 4. Januar ab.

Obwohl Presseberichte das Ergebnis als Triumph der Demokratie darstellten, war die Versammlung von Anfang bis Ende ein Hohn. Karzai ernannte 50 Delegierte selbst, während die restlichen von den verschiedenen Milizen sowie den ethnischen und religiösen Eliten ausgewählt wurden, die den USA bei der militärischen Besetzung des Landes als Komplizen dienten. Angesichts des wachsenden Widerstands gegen das Marionettenregime konnte die Versammlung nur unter schwerer Bewachung tagen. Trotzdem wurden die Sitzungen durch mehrere Raketenangriffe bedroht. Einer davon fand am letzten Wochenende statt.

Das vielleicht entlarvendste Ereignis war der Auftritt von Malalai Joya, einer 26-jährigen Sozialarbeiterin aus der ländlichen Provinz Farah, die den Vorsitzenden der Jirga-Ausschüsse kriminelle Verbrechen vorwarf. Anstatt mit einflussreichen Ämtern versehen zu werden, sagte sie, sollten sie vor Gericht gestellt werden. Joya wurde erst aus der Versammlung verwiesen, dann wieder zugelassen und muss nun wegen Todesdrohungen von der UN bewacht werden.

Bei den Verbrechen, die sie ansprach, handelt es sich um Raketenangriffe, Folter, Vergewaltigung und Massaker an Zivilisten in großem Stil, mit denen die islamisch fundamentalistischen Warlords - die Mudschaheddin oder heiligen Krieger - von 1992 bis 1996 das Land überzogen hatten, bevor sie von den extremistischen Taliban entmachtet wurden. Heute stützen sich die USA und ihre Verbündeten wieder auf diese Gangster, um das Land zu regieren. Zu den prominentesten Abgeordneten zählte General Abdul Raschid Dostum, dessen Nordallianz-Streitkräfte während der US-Invasion im November 2001 in der Wüste bei Mazar-i-Sharif Tausende Taliban-Gefangene umgebrachten.

Das ganze Verfahren war derart undemokratisch, dass über die endgültige Version des Verfassungsdokuments noch nicht einmal abgestimmt wurde. Stattdessen standen auf Aufforderung des Vorsitzenden die meisten Anwesenden lediglich kurz auf, um ihre Zustimmung zu signalisieren. Nur drei Tage vorher war ein Chaos ausgebrochen, als 40 Prozent der Delegierten die erste und einzige Abstimmung der Versammlung boykottierten. Die Sitzung musste unterbrochen werden.

Unter Führung des früheren Präsidenten Burhanuddin Rabbani trat ein Bündnis von Fraktionen ethnischer Minderheiten - darunter sein eigener tadschikischer Klan, Usbeken und Hasara - für die Einrichtung des Amtes eines Premierministers ein, um die umfassenden Vollmachten des Präsidenten einzuschränken. Sie verlangten auch die offizielle Anerkennung von Minderheitensprachen und ein Verbot der Übernahme von Ministerämtern durch Personen mit doppelter Staatbürgerschaft. Letzteres richtete sich vorwiegend gegen das Lager Karzais, in dem sich viele US-Staatsbürger befinden.

Doch nachdem Khalilzad und Brahimi ein Machtwort gesprochen hatten, akzeptierten Rabbani und seine Verbündeten ein autokratisches Präsidentenamt. Der Präsident regiert ohne Premierminister. Er hat die Vollmacht, Minister, hohe Beamte, Richter, Militär-, Polizei- und Geheimdienstführer sowie einen Drittel des Oberhauses der Nationalversammlung zu ernennen und zu entlassen. Er ist Oberbefehlshaber der Streitkräfte und kann über das ganze Land oder Teile davon den Notstand verhängen.

Als Gegenleistung machten Karzai und seine Hintermänner geringe Zugeständnisse. Sie stimmten einem zweiten Vizepräsidenten zu, der Minderheiteninteressen vertritt, und gaben der Nationalversammlung das Recht, einigen Ernennungen des Präsidenten zuzustimmen. Neben den beiden offiziellen Amtssprachen, Paschtu (Paschtunen) und Dari (Tadschiken), werden andere Sprachen in Regionen anerkannt, wo sie von der Mehrheit der Bevölkerung gesprochen werden. Karzai soll sich sogar bereit erklärt haben, Usbekisch zu lernen. Die doppelte Staatsbürgerschaft wird nicht verboten, aber die Nationalversammlung kann individuelle Beamte ablehnen, die einen ausländischen Pass besitzen.

Karzai gelangte auch zu einer Übereinkunft mit kompromisslosen islamischen Fundamentalisten, indem er eine Passage in die Verfassung aufnahm, wonach kein Gesetz dem Islam widersprechen darf. Das bedeutet, dass reaktionäre islamische Grundsätze den Ton angeben werden, trotz der Lippenbekenntnisse zu demokratischen Rechten, einschließlich der Gleichberechtigung der Frau. Karzai hat bereits Fazl Hadi Schinwari zum Vorsitzenden des Obersten Gerichtshofes ernannt - unter Bruch der Verfassung, da Schinwari die vorgeschriebene Altersgrenze überschritten hat und lediglich im religiösen, nicht aber im säkularen Recht ausgebildet ist.

Er ist mit dem Fundamentalistenführer Ustad Abdul Rasul Sayyaf verbündet, einem von Saudiarabien unterstützen Wahhabiten, der in der Loya Jirga einem Komitee vorsaß. Schinwari hat den Obersten Gerichtshof mit sympathisierenden Mullahs bestückt, tritt für Strafen im Stile der Taliban ein und hat das verhasste Taliban-Ministerium zur "Förderung der Tugend und Verhinderung von Laster" in Form eines Ministeriums für den Hadsch und religiöse Angelegenheiten wieder eingeführt. Es organisiert Patrouillen, die "unislamisches" Verhalten von Frauen unterbinden sollen.

Laut der neuen Verfassung sollen spätestens im Juni Präsidentenwahlen und anschließend Parlamentswahlen abgehalten werden. Aber die Verschlechterung der wirtschaftlichen und Sicherheitslage im Lande macht dies unwahrscheinlich. Der UN-Gesandte Brahimi hat gegenüber der New York Times bereits erklärt, Parlamentswahlen würden "nahezu unmöglich" sein, da die Bedrohung durch Taliban-Aufständische große Teile des Landes unzugänglich mache.

Was Rabbani betrifft, so hat dieser deutlich gemacht, dass die in der Loya Jirga aufgebrochenen Konflikte keineswegs gelöst sind. Er warnte, der in Kabul hinter den Kulissen ausgeübte Zwang habe die Glaubwürdigkeit der Regierung unterhöhlt und das starke Präsidialregime könne "Afghanistan in eine Diktatur stürzen".

Trotz des völlig reaktionären Charakters der Versammlung in Kabul pries UN-Generalsekretär Kofi Annan das Ergebnis als historische Errungenschaft. Präsident Bush begrüßte die Verfassung und sagte: "Ein demokratisches Afghanistan wird den Interessen und gerechten Bestrebungen des afghanischen Volkes dienen."

Die wichtigsten Medien einschließlich der einst liberalen Presse gaben diese Einschätzung pflichtgemäß wieder. Der Leitartikel der New York Times nannte die Verfassung "aufgeklärt" und bemerkte, die Bush-Administration sei "vom Ergebnis zu Recht begeistert". Er trat für die weitere militärische Kontrolle der USA über das Land ein, "um die politische Unerstützung und militärische Sicherheit zu gewährleisten, die Präsidenten- und Parlamentswahlen möglich machen".

Keine Demokratie

Unter diesen Umständen von Demokratie zu sprechen ist eine reine Farce. Washington hat auf illegale Weise eines der ärmsten und heruntergekommensten Länder der Welt erobert, seine Regierung gestürzt und sich mit notorischen Schlächtern verbündet, um die Bevölkerung zu unterdrücken und einzuschüchtern. Rund 12.000 amerikanische Soldaten befinden sich weiterhin in Afghanistan und terrorisieren die Bevölkerung mit der Begründung, sie jagten Taliban und Al-Qaida-Anhänger. Sie werden von 5.700-Nato-"Friedenssoldaten" unterstützt, die hauptsächlich die Karzai-Regierung in der Hauptstadt aufrecht halten.

Selbst der Zeitplan für die afghanischen Wahlen wird durch die unmittelbaren innenpolitischen Bedürfnisse der Bush-Administration bestimmt. Diese braucht vor der amerikanischen Präsidentenwahl im November dringend ein symbolisches Zeichen für ihren Erfolg im "Krieg gegen den Terror". Dabei geht sie mit der für sie typischen Mischung aus Zynismus und Kurzsichtigkeit vor. Das Wichtigste in Afghanistan ist ein PR-Erfolg, unabhängig von der katastrophalen Wirklichkeit.

Große Teile des Landes sind für die alliierten Truppen - und auch für UN-Vertreter, Hilfskräfte und gewöhnliche Zivilisten - nicht mehr sicher. Häufige Guerillaattacken haben die Hilfsorganisationen gezwungen, sich auf Kabul zurückzuziehen und selbst elementare Hilfsleistungen einzustellen. Am 18. Dezember musste das Welternährungsprogramm der UN zugeben, dass sein Programm zur Verteilung von Nahrungsmitteln aufgrund der schlechten Sicherheitslage stark beeinträchtigt ist.

Die schlechter werdende Lage wurde auch am 6. Januar deutlich, als in der Nähe einer Militärbasis in der südlichen Stadt Kandahar eine Autobombe hochging und mindestens sechs Menschen tötete und 52 verwundetet, darunter viele Schulkinder. Obwohl die Aufständischen mit wahllosem Terror vorgehen, scheinen die von den USA angewandten Methoden die Unterstützung für die Taliban-Fundamentalisten zu erhöhen.

Vor allem in den südlichen und östlichen Paschtunen-Regionen verstärkt die grobe Unterdrückung durch US-Truppen die Opposition der Bevölkerung und den Widerstand gegen die Besatzung. Im vergangenen Monat führten die amerikanischen Streitkräfte die größte Operation in Afghanistan seit dem Sturz der Taliban durch, mit dem Ziel, Regierungsgegner aufzuspüren und breitere Unruhen vor dem Zusammentreffen der Loya Jirga zu verhindern.

Karzais Einflussbereich beschränkt sich fast ausschließlich auf Kabul, und US-Truppen bewachen ihn rund um die Uhr. Anderswo treiben sich Privatarmeen herum, die über eine halbe Million Männer unter Waffen halten, von denen einige mit Drogenbaronen verbunden sind, andere mit einzelnen Ministern aus Karzais Regierung.

Unter diesen höllischen und neokolonialen Umständen gibt es nicht das geringste Anzeichen, dass sich in Afghanistan auch nur der Anschein eines demokratischen Regimes entwickeln wird. Demokratie kann nur durch eine echte, von der Arbeiterklasse geführte Volksrevolution entstehen, die sich über den gesamten Mittleren Osten und Zentralasien erstreckt. Nur eine solche Bewegung könnte die Region von der jahrzehntelangen Vorherrschaft der Großmächte befreien und das Erbe von wirtschaftlicher Rückständigkeit, Warlord-Herrschaft und theokratischer Unterdrückung überwinden.

Siehe auch:
Afghanistan versinkt in Armut Unsicherheit und despotischer Herrschaft
(11. Dezember 2002)
Afghanistans Loya Jirga weckt noch nicht einmal den Anschein von Demokratie
( 27. Juni 2002)
Loya Jirga in Afghanistan: ein zynisches Feigenblatt für Neokolonialismus
( 18. Mai 2002)
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