Hintergründe der indisch-pakistanischen Annäherung

In den vergangenen Wochen gab es eine ganze Reihe von Initiativen, um die Spannungen zwischen Indien und Pakistan abzubauen. Die beiden Atommächte hatten erst im Jahre 2002 am Rande eines ausgewachsenen Krieges gestanden.

Am 26. November beendeten Indien und Pakistan die seit 14 Jahren praktisch täglich stattfindenden militärischen Scharmützel und setzten einen "allgemeinen" Waffenstillstand in Kraft - einen Waffenstillstand, der die internationale Grenze zwischen Indien und Pakistan, die so genannte Line of Control, und die umstrittene Bergregion Siachen in Kaschmir betrifft. Nachfolgend kamen Indien und Pakistan überein, Luft- und Eisenbahnverbindungen wieder aufzunehmen, die im Dezember 2001 von Indien unterbrochen worden waren, und beschlossen weitere "vertrauensbildende" Maßnahmen, darunter gemeinsame Militärpatrouillen an der internationalen Grenze.

Der Waffenstillstand und andere Schritte wurden von sämtlichen Großmächten begrüßt, unter anderem von der Europäischen Union, Russland, China und Japan. Die Bush-Regierung, die das pakistanische Militärregime als wichtigen Alliierten in ihrem "Krieg gegen den Terrorismus" unterstützt und Indien als potenziellen strategischen Partner der Vereinigten Staaten betrachtet, ist eine der treibenden Kräfte hinter der indisch-pakistanischen Annäherung. Doch bislang hält Washington es für taktisch klug, die eigene Rolle herunterzuspielen. Amerikanische Vertreter geben lediglich zu, die beiden Seiten zu Gesprächen ermutigt zu haben, obwohl die Bush-Regierung unübersehbar das wachsende ökonomische und militärische Gewicht der Vereinigten Staaten in Zentral- und Südasien einsetzt, um die beiden Seiten an den Verhandlungstisch zu bringen.

Große Aufmerksamkeit fand auch das Verhalten der indischen und pakistanischen Führer beim Gipfeltreffen der Südasiatischen Vereinigung für regionale Zusammenarbeit (SAARC), das vom 4. bis zum 7. Januar in Islamabad stattfand.

Der indische Premierminister Atal Behari Vajpayee, der erst im Dezember seine Teilnahme an dem SAARC-Treffen zugesagt hatte, traf am Rande der Konferenz mit seinem pakistanischen Amtskollegen Zafarulla Jamali und dem starken Mann Pakistans, General Pervez Musharraf zusammen. Musharraf hatte als Kopf der pakistanischen Streitkräfte im Jahre 1999 die Staatsmacht durch einen Putsch übernommen und sich später zum Präsidenten des Landes ernannt.

Vajpayee spielte jedoch im Vorfeld des SAARC-Gipfels die Bedeutung seines geplanten Zusammentreffens mit dem pakistanischen Führer herunter. Am 25. Dezember bekräftigte er den Standpunkt, den Indien seit Dezember 2001 eingenommen hat, als Neu Delhi die normalen Beziehungen zu Pakistan abbrach und seinem Nachbarland die Verantwortung für einen terroristischen Angriff auf das indische Parlament zuschrieb: Demnach wird Indien so lange nicht ernsthaft mit Pakistan verhandeln, bis sich Pakistan vom "grenzüberschreitenden Terrorismus" verabschiedet und die Basen von anti-indischen Kämpfern im pakistanischen Teil Kaschmirs schließt.

Vajpayees Stellungnahme und die zögerliche Haltung Neu Delhis in der Frage, ob der indische Premierminister mit Musharraf zusammentreffen würde, verdeutlichen, auf welch dünner Basis die Verbesserung der indisch-pakistanischen Beziehungen steht.

Selbst bei den jeweiligen Vorschlägen zur Normalisierung der Beziehungen war spürbar, dass jede Seite bemüht war, der anderen den Rang abzulaufen. Beide Länder versuchten, in der Gunst Washingtons zu steigen, indem sie sich als besonders eifrige Vertreter einer Entspannungspolitik darstellten. Nur wenige Tage, nachdem Vajpayee öffentlich über die Möglichkeit eines Südasiens mit offenen Grenzen und einer gemeinsamen Währung nachgedacht hatte, gab Musharraf ein Interview, in dem er seine Bereitschaft erklärte, in der von Pakistan seit Jahrzehnten vertretenen Forderung nach Durchsetzung der UN-Resolutionen zu Kaschmir eine flexible Haltung einzunehmen. Diese sehen die Möglichkeit des Anschlusses an Pakistan mittels einer Volksabstimmung vor.

Wichtiger ist in diesem Zusammenhang, dass Pakistan scharf gegen den Bau eines Zauns entlang der Line of Control durch Indien protestiert hat, obwohl dieser mehrere Meilen entfernt von der Demarkationslinie verläuft. Indien hatte lange vor dem Waffenstillstand mit dem Bau begonnen, doch wegen der Grenzgefechte waren die Bauarbeiten nicht vorangekommen..

Eine tiefverwurzelte Feindschaft der Eliten

In der indischen und pakistanischen Bevölkerung trifft die Entspannungspolitik auf große Unterstützung - eine Tatsache, die sogar Vajpayee anerkennen musste, als er vor ein paar Monaten erklärte, das "Friedenslager" in Indien sei viel größer als die Gruppe derjenigen, die die Aufrechterhaltung der Feindschaft mit Pakistan wünschen. Und trotzdem stößt jede indisch-pakistanische Annäherung unvermeidlich auf eine starke Opposition von mächtigen Teilen der Elite in beiden Ländern, insbesondere wenn die Kaschmir-Frage berührt wird.

Seit der Teilung des Subkontinents im Jahre 1947 entlang ethnischer und religiöser Linien haben sowohl die indische als auch die pakistanische Bourgeoisie den Konflikt mit dem verfeindeten Nachbarstaat zur ideologischen Grundlage ihrer Herrschaft gemacht. Die pakistanische Elite, vor allem ihre politisch einflussreichen Militärführer, haben die "Befreiung" von Jammu und Kaschmir, dem einzigen indischen Bundesstaat mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit, zu einer nationalen wenn nicht heiligen Frage erhoben. Die indischen Herrscher auf der anderen Seite haben die "ausländische Einmischung" der Pakistanis für unzählige innenpolitische Probleme verantwortlich gemacht. Ein Grundprinzip ihrer Regierungspolitik lautet, dass jedes Infragestellen der Grenzen von 1947 eine nicht hinzunehmende Bedrohung der multinationalen Einheit Indiens darstellen würde.

Die derzeit herrschenden Regimes in Indien und Pakistan zeichnen sich beide durch extremen Chauvinismus und Militarismus aus. Setzen sie ihren Annäherungskurses fort, geraten sie unweigerlich in Konflikt mit wichtigen Teilen ihrer traditionellen Wählerschaft.

Die stärkste Kraft in Indiens Koalitionsregierung der Nationaldemokratischen Allianz (NDA) ist die chauvinistische Bharatiya Janata Party (BJP), die die Überlegenheit des Hinduismus behauptet. Die BJP und ihre Vorläuferin, die Jana Sangh, haben sich immer auch gegen die begrenzte Autonomie gestellt, die der Bundesstaat Jammu und Kaschmir nach der indischen Verfassung genießt. Sie haben ihre politischen Gegner mit dem Vorwurf attackiert, sich als "weich" gegenüber Pakistan zu erweisen, und wiederholt die große muslimische Minderheit in Indien beschuldigt, illoyal zu sein und auf Seiten Pakistans zu stehen. Kurz nachdem sie 1998 an die Macht gekommen war, erklärte die BJP Indien zur Atommacht, führte trotz internationaler Protest Atomwaffentests durch und begann mit einer massiven und noch nicht abgeschlossenen Aufrüstung der indischen Streitkräfte. Die von der BJP geführte NDA gewann die Neuwahlen im Jahre 1999, indem sie den Abzug pakistanischer Truppen aus der Kargil-Region in Kaschmir nach einer sechsmonatigen indischen Offensive in dem Gebiet als einen großen militärischen und geostrategischen Sieg darstellte, den Indien aufgrund seiner weisen Führer errungen habe.

Die BJP-Regierung nahm sich die Reaktion der Bush-Regierung auf die Terrorangriffe vom 11. September 2001 zum Vorbild und nutzte die terroristische Attacke auf das indische Parlament am 10. Dezember 2001, um zehn Monate lang indische Truppen an der Grenze zu Pakistan zusammenzuziehen. Es drohte Pakistan mit einer Invasion, falls das Land nicht zugeben würde, ein Förderer des Terrorismus zu sein.

Musharraf seinerseits verdankt seine Herrschaft den Militär- und Sicherheitskräften und damit jenem Teil der pakistanischen Elite, der am stärksten mit dem anti-indischen Chauvinismus und der Förderung des islamischen Fundamentalismus in Verbindung steht.

Musharraf war der Kopf hinter dem pakistanischen Einmarsch in Kargil im Jahre 1999. Seine Überzeugung, dass der damalige pakistanische Premierminister Nawaz Sharif dem amerikanischen Druck nachgegeben und die Kargil-Operation verfrüht abgebrochen habe, war ausschlaggebend für seine Entscheidung, den Premierminister zu stürzen und die Regierungsmacht zu übernehmen. Unter starkem Druck der Vereinigten Staaten sah sich Musharraf gezwungen, die pakistanische Unterstützung für das Taliban-Regime aufzugeben und ein schärferes Vorgehen gegen bewaffnete islamische Gruppen in Pakistan anzukündigen. Er unterzeichnete jüngst einen politischen Pakt mit der islamischen Opposition im Parlament, der Muthadia Majlis-I-Amal oder Vereinigten Aktionsfront. Während der Krise 2001/02, als Indien und Pakistan kurz vor dem Waffengang standen, drohte Musharraf einen Angriff Indiens mit dem Einsatz von Atomwaffen zu vergelten.

Trotzdem hat der Waffenstillstand - der erste in 14 Jahren - bis jetzt gehalten, und Gespräche über verstärkte Wirtschaftsbeziehungen, unter anderem über den Bau einer Erdgaspipeline vom Iran über pakistanisches Gebiet nach Indien, sollen Fortschritte machen. Musharraf setzt sich fraglos großen persönlichen Gefahren aus, wenn er den Waffenstillstand unterstützt, der Indien im Kampf gegen die Aufständischen in Kaschmir stärkt; dennoch hält er bis jetzt an der Annäherung fest.

Die Rolle Washingtons

Es gibt eine Reihe von Faktoren, die zu dem Waffenstillstand und der Aussicht auf ernsthafte Verhandlungen zwischen der indischen und pakistanischen Elite über ihre zwischenstaatlichen Beziehungen beigetragen haben, aber Washington hat dabei zweifellos eine Schlüsselrolle eingenommen.

Während des Kalten Krieges war Pakistan ein enger Alliierter der Vereinigten Staaten. Doch im vergangenen Jahrzehnt verstärkte sich bei den USA die Auffassung, dass Indien ein wünschenswerter Partner für das 21. Jahrhundert sei. Eine Expertengruppe zu Südasien, die zum Teil von einem höchst einflussreichen außenpolitischen Think Tank in Washington, dem Counsil on Foreign Relations, finanziert wurde und mehrere Mitglieder hat, die früher als amerikanische Botschafter in Indien und Pakistan tätig waren, veröffentlichte vor Kurzem einen Bericht, in dem es heißt: "Die Wende in den amerikanisch-indischen Beziehungen ist bemerkenswert, wenn man sie vor dem Hintergrund der vorangegangenen 50 Jahre der Entfremdung betrachtet. Wenn Neu Delhi und Washington weiterhin ihre offiziellen und inoffiziellen Verbindungen ausweiten und vertiefen, sind die Aussichten gut, dass die beiden größten Demokratien der Welt bis zum Jahre 2010 eine wirkliche Partnerschaft gefestigt haben werden."

Washingtons neue Zuneigung zu Indien zeigte sich 1999 in der Auseinandersetzung um Kargil, als der damalige amerikanische Präsident Bill Clinton persönlich intervenierte, um Sharif dazu zu bewegen, einseitig die pakistanischen Truppen und die von Pakistan unterstützten Kräfte zurückzuziehen. Dennoch kennt die amerikanische Bereitschaft, den aggressiven Kurs Indiens gegen Pakistan zu unterstützen, definitive Grenze. Wenn Indien in den Jahren 2001/02 letztlich seine Kriegsdrohungen nicht wahr machte, lag dies größtenteils daran, dass die Vereinigten Staaten und ihre Alliierten deutlich machten, dass sie eine indische Invasion Pakistans als Angriff auf ihre Interessen betrachten würden. Eine solche Invasion hätte die Gefahr eines nuklearen Schlagabtausche mit sich gebracht und überdies das amerikanische Besatzungsregime in Afghanistans gefährdet.

Pakistan bleibt - trotz amerikanischer Unzufriedenheit mit dem mangelnden pakistanischen Vorgehen gegen islamische Extremisten - höchst wichtig für die Vereinigten Staaten bei ihrem Vorgehen gegen Al Qaeda, ihrer Besetzung Afghanistans und allgemein der Ausweitung des amerikanischen Einflusses in der ölreichen zentralasiatischen Region. Im Unterschied zu vielen Vertretern der hindu-chauvinistischen BJP ist Washington darüber hinaus weit genug vom indisch-pakistanischen Konflikt entfernt, um zu erkennen, dass der unablässige militärische Druck Indiens Pakistan - ein von zahlreichen ethnisch-religiösen Konflikten zerrissenes und beim Ausland hoch verschuldetes Land - implodieren lassen könnte, was destabilisierende Folgen für ganz Zentral-, West- und Südasien hätte.

So heißt es in dem bereits zitierten Bericht der Expertengruppe zu Südasien: "Die Vereinigten Staaten haben ein großes Interesse an einem stabilen Pakistan, das mit sich selbst und seinen Nachbarn in Frieden lebt". Die Hilfe an Pakistan, empfiehlt die Expertengruppe, sollte dennoch an Islamabads Fortschritte bei der Umsetzung der vom Internationalen Währungsfond diktierten Privatisierungsplänen und Kürzungen bei den öffentlichen Ausgaben gebunden werden sowie an "die Sperrung des eigenen Territoriums für die Unterstützung von Aufständen gegen die Nachbarn und die Erfüllung ihrer Verantwortlichkeiten hinsichtlich der Nichtverbreitung von Atomwaffen".

In der Vergangenheit hatten die Vereinigten Staaten den indisch-pakistanischen Konflikt weitgehend ignoriert. Tatsächlich hatte Washington im Kalten Krieg sogar ein Interesse an der Aufrechterhaltung des Konflikts, da er Pakistan stärker an die Vereinigten Staaten band. Jetzt hat Washingtons eine andere Gangart eingelegt. Es wird als wichtig für die strategischen Interessen der Vereinigten Staaten erachtet, die von Pakistan unterstützte Erhebung in Kaschmir zu beenden und eine langfristige Lösung für den indisch-pakistanischen Konflikt und die beidseitigen Ansprüche auf Kaschmir zu finden, und zwar aus mehreren Gründen: Zum Einen glaubt Washington, dass Kaschmir zu einer Brutstätte für den antiamerikanischen islamischen Extremismus geworden ist; zum Anderen, und dies ist der wichtigere Grund, läuft der indisch-pakistanische Konflikt den amerikanischen Ambitionen in der Region zuwider.

Die amerikanische Wirtschaft hat Indien als wichtiges Gebiet für zukünftige Expansionen ausgemacht. Jetzt, wo Indien praktisch alle Beschränkungen für ausländische Investitionen abgeschafft hat, sind die amerikanischen transnationalen Konzerne eifrig bemüht, Zugang zu den indischen Märkten, Rohstoffen und zu dem großen Reservoir an gelernten und ungelernten billigen Arbeitskräften zu erhalten. Im vergangenen Jahrzehnt sind die Vereinigten Staaten zum weitaus größten Handelspartner Indiens geworden, wobei ein Großteil des Handels sogenannte Informationsdienste, alles von Call-Centern bis hin zur Softwareentwicklung, betrifft.

Nicht weniger wichtig ist, dass amerikanische Strategen Indien als wichtiges wirtschaftliches und militärisches Gegengewicht zu China betrachten. Indien ist nicht allein in Hinblick auf die Größe vergleichbar, sondern grenzt auch an China - die Grenze verläuft ebenfalls in der strategischen Region - und China und Indien haben bereits seit Jahrzehnten einen Grenzstreit, über den 1962 ein Krieg ausbrach. Die Vereinigten Staaten haben bereits wichtige militärische Verbindungen zu Indien geknüpft und führen gemeinsame Marine- und Armeeübungen durch.

Pakistans schrumpfender Handlungsspielraum

Da Pakistan von einem kriegerlüsternen Indien bedroht wird, die über zwei Jahrzehnte lang betriebene Afghanistanpolitik des Landes in Scherben liegt und Militärausgaben sowie Schuldendienste die Hälfte des pakistanischen Staatshaushalts auffressen, erweist sich das Land als äußerst wehrlos gegenüber dem amerikanischen Druck. Aber der Druck der Vereinigten Staaten allein kann Musharrafs neue versöhnliche Haltung gegenüber Indien nicht erklären. Es gibt Anzeichen dafür, dass die islamisch-fundamentalistische Führung, die dem Kaschmir-Aufstand mit Hilfe Islamabads aufgezwungen wurde, letzteres einen beachtlichen Teil seiner Unterstützung in der Bevölkerung gekostet hat. Der islamisch-fundamentalistische Terrorismus hat zudem die religiösen und ethnischen Auseinandersetzungen innerhalb Pakistans verschärft. Daher stellen Teile der pakistanischen Elite zunehmend den Sinn und Nutzen einer unbegrenzten Unterstützung des Kaschmir-Aufstands in Frage.

Und nicht zuletzt wächst die Kluft zwischen der Größe der indischen und pakistanischen Ökonomien ununterbrochen, was es für Pakistan immer schwerer macht, mit der Aufrüstung Indiens Schritt zu halten.

Musharraf, so scheint es, ist zu dem Schluss gekommen, dass es angesichts der Schwäche Pakistans das Klügste ist, sich an Washington anzupassen und dem amerikanischen Wunsch folgend die Spannungen mit Indien abzubauen. Indem er diesen Kurs verfolgt, kann er sich nicht nur der anhaltenden Unterstützung der Bush-Regierung sicher sein, sondern ein Abkommen mit Neu Delhi in Angriff nehmen, bevor die Machtdifferenz zwischen den beiden Staaten zu groß wird und solange Washington Pakistan noch als einen wichtigen Alliierten im "Krieg gegen den Terrorismus" erachtet.

Traditionell hat Pakistan darauf bestanden, dass der gesamte ehemalige Fürstenstaat Jammu und Kaschmir als Territorium mit einer vorwiegend muslimischen Bevölkerung rechtmäßig zu Pakistan gehört. Aber wenn Musarraf jetzt verlauten lässt, Pakistan sei bereit, weniger zu akzeptieren, als durch die UN-Resolutionen festgelegt, lässt er die Möglichkeit anderer Lösungen offen. Eine Lösung, von der es heißt, dass sie von Islamabad bevorzugt wird, wäre die Teilung Kaschmirs entlang religiös-ethnischer Linien, wodurch das von einer muslimischen Mehrheit bewohnte Kaschmirtal Pakistan, der größte Teil der Jammu-Region dagegen Indien angegliedert würde. Es gibt jedoch keinen Grund davon auszugehen, dass die indische Elite einen solchen "Kompromiss" akzeptieren wird. Indien fordert weiterhin die pakistanische Provinz Azad Kaschmir, obwohl Neu Delhi in der Vergangenheit signalisiert hat, möglicherweise die derzeitige Line of Control als internationale Grenze akzeptieren zu können.

Indiens Hegemonialstreben in Südasien

Die Mobilmachung und Kriegsvorbereitung der indischen Regierung im Dezember 2001 - Operation Parakam - wird in den Politik- und Sicherheitskreisen Indiens mittlerweile weitgehend als Fehler angesehen. Eine laute Minderheit der Militärführer und Strategen attackiert die NDA-Regierung, weil sie die Nerven verloren und die Kriegsdrohungen nicht zum Vorteil Indiens umgesetzt habe. Aber die Meisten betrachten die zehnmonatige, eine Million Mann umfassende Mobilmachung als eine kolossale Verschwendung von Geld und Ressourcen, die nur klar gemacht habe, dass bei dem gegenwärtigen indisch-pakistanischen Kräfteverhältnis Indien nicht in der Lage ist, Islamabad auf die Art zu bedrohen und einzuschüchtern, wie die Bush-Regierung es mit Staaten macht, die es zu Förderern des Terrorismus erklärt.

Im Zuge der Operation Parakam hatte die NDA-Regierung Schritte unternommen, um eine Reihe neuer Waffensystem zu erwerben, und bekräftigte so ihr Ziel, eine militärisch-strategische Überlegenheit zu erlangen. Damit war auf indischer Seite die Hoffnung verbunden, dass ein Wettrüsten zumindest zu einer weiteren Schwächung Pakistans führen würde.

Aber angesichts des - zumindest kurzfristigen - Scheiterns ihrer bevorzugten Strategie der militärischen Konfrontation war die NDA-Regierung gezwungen, andere Optionen in Erwägung zu ziehen, unter anderem auch die Möglichkeit der Verhandlung mit den Separatisten in Kaschmir. Obwohl sich Neu Delhi in der Vergangenheit immer vehement gegen eine äußere Einmischung in den Kaschmir-Konflikt gewehrt hat, haben die Times of India und andere gewichtige Stimmen angedeutet, dass es angesichts Washingtons Bereitschaft, eine strategische Partnerschaft mit Indien einzugehen, klug wäre, das amerikanische Hilfsangebot, Pakistan an den Verhandlungstisch zu bringen, anzunehmen und de facto die Vermittlung der Vereinigten Staaten in dem Konflikt zuzulassen.

Ein solcher Kurswechsel wird nicht zuletzt auch von einflussreichen Teilen der indischen Wirtschaft gewünscht. Auch wenn die neu geschöpfte Zuversicht der indischen Bourgeoisie hinsichtlich ihrer Zukunftsaussichten sicherlich übertrieben ist - Indiens Anteil am Welthandel beträgt weiterhin weniger als ein Prozent und die Wachstumsraten des Landes liegen weit hinter denen Chinas zurück - haben die neue Rolle als Global Player und die Erfahrung des Freihandelsabkommen mit Sri Lanka das indische Kapital zu dem Schluss kommen lassen, dass vermehrte Handelsverbindungen die dominante Rolle Indiens in Südasien festigen können. Die wirtschaftliche Hegemonie Indiens würde entscheidend dazu beitragen, das Land zur regionalen Supermacht zu machen, indem sie Neu Delhis Streben nach militärischer Macht unterfüttert.

Im vergangenen September, lange vor dem derzeitigen Waffenstillstand, hatte der indische Unternehmerverband CII ein "indisch-pakistanisches Direktorenforum" gegründet, um sich für freiere Handelsbeziehungen zwischen den Ländern einzusetzen; gleichzeitig verfolgt und unterstützt der CII das Ziel, bis zum Jahre 2006 eine südasiatische Freihandelszone zu errichten. Währenddessen versucht Indien jedoch weiteren Druck auf Islamabad auszuüben, indem bilaterale Handelsabkommen mit anderen SAARC-Mitgliedsnationen angedroht werden, sollte sich Pakistan den Vorschlägen der SAARC für einen den gesamten Subkontinent umfassenden Handelsblock entgegenstellen.

Trotz allem Gerede über Frieden und Versöhnung ist also erkennbar, dass die drei großen Beteiligten an der indisch-pakistanischen Annäherung - Washington, Islamabad und Neu Delhi - ihre eigenen nationalen Interessen und Vorteile verfolgen.

Die Teilung des indischen Subkontinents im Jahre 1947 war eine der größten Tragödien des 20. Jahrhunderts - eine Tragödie, in deren Folge zwei Millionen Menschen starben, 14 Millionen Menschen aus ihrer Heimat vertrieben wurden und eine jahrzehntelange Rivalität entstand, die drei Kriege hervorgebracht hat und Südasien mit einer Atomkatastrophe bedroht. Der britische Imperialismus und seine Strategie des Teile und Herrsche tragen eine große Verantwortung für die ethnisch-religiösen Feindseligkeiten in Südasien. Aber die Teilung wurde von den Führern des Indischen Nationalkongress und des Muslimischen Bundes - den politischen Repräsentanten der südasiatischen Bourgeoisie - vorgeschlagen und durchgeführt, um den antiimperialistischen Kampf zu beenden und zu unterdrücken.

Sechs Jahrzehnte später kann eine wirkliche und fortschrittliche Lösung der Probleme, die durch die Teilung der Ressourcen des Subkontinents unter seiner Vielzahl an ethnischen und religiösen Gruppen hervorgerufen werden, nur durch einen gemeinsamen Kampf gegen den Imperialismus und die rivalisierenden nationalen Bourgeoisien erreicht werden. Dieser Kampf kann nur von der Arbeiterklasse angeführt werden und muss die Schaffung der Vereinigten Sozialistischen Staaten Südasiens zum Ziel haben.

Siehe auch:
Eine sozialistische Strategie gegen Krieg auf dem indischen Subkontinent
(6. Juni 2002)
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