Indiens neuer Premier: ein klassischer Vertreter der Konzerninteressen

Als Manmohan Singh am Samstag vergangener Woche in Indien als Premierminister vereidigt wurde, da war den einheimischen Großunternehmern und ausländischen Investoren völlig klar, dass nun ihr Mann die Regierungsgeschäfte leiten wird. Singh ist bekannt als "Vater der indischen Wirtschaftsreform" und steht im Rufe eines Saubermanns, der "die indische Wirtschaft befreit" habe. Seine Ernennung garantiert den Finanzmärkten, dass die neue, von der Kongresspartei geführte Koalitionsregierung das Programm der Privatisierung und Umstrukturierung der Wirtschaft mit unvermindertem Tempo weiterführen wird.

Die bisherige, von der Bharatiya Janatha Party (BJP) geführte Koalitionsregierung hatte die Wahlen vor allem deshalb verloren, weil ihre Politik der Marktliberalisierung verheerende Folgen für die verarmten indischen Massen hatte. Aus Angst, dass die neue Regierung diesen Kurs verlangsamen könnte, war es an den indischen Finanzmärkten unmittelbar nach den Wahlen zu starken Kurseinbrüchen gekommen. Die Kurse hatten sich erst wieder stabilisiert, nachdem Sonja Gandhi, die Vorsitzende der Kongresspartei, zugunsten Singhs auf das Amt verzichtet hatte.

Die Vertreter der Wirtschaft und die Finanzanalysten waren des Lobes voll. Martin Hutchinson, ein ehemaliger Investmentbanker aus Washington, erklärte gegenüber den Medien: "Ein Reformer [wie Singh] verankert den ökonomischen Fortschritt, während ein Sozialist der alten Schule oder ein schwacher Führer ohne theoretische Unterfütterung [Gandhi] das Risikoprofil ausländischer Investitionen in unserem Land beträchtlich heraufsetzt."

C. Raja Mohan, Professor für südasiatische Studien an der Jawaharlal Nehru Universität, äußerte sich noch enthusiastischer: "Eine bessere Wahl hätte es nicht geben können... Es ist auch ein sehr gutes Signal an die ausländische Welt. Wenn die indische Wirtschaft weiterhin eine hohe Wachstumsrate aufweist, dann wird sie in der Lage sein, auf internationaler Ebene eine größere Rolle zu spielen."

In den Medien wurde vor allem hervorgehoben, dass Singh in seiner Eigenschaft als Sikh der erste Premierminister ist, der nicht der Hindu-Gemeinde entstammt und damit den Anspruch der Kongresspartei unterstreicht, im Gegensatz zu der Hindu-chauvinistischen BJP die Trennung von Religion und Staat zu vertreten. Doch dies kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der eigentliche Grund für die Begeisterung der Wirtschaftskreise in Singhs langjähriger Tätigkeit als wirtschaftspolitischer Technokrat und skrupelloser Vertreter marktliberaler Reformen besteht.

Vor seiner Ernennung zum Finanzminister im Jahr 1991 durchlief Singh eine lange Karriere als Wissenschaftler und hoher Beamter der indischen Wirtschaftsbehörden. Er wurde 1932 in einem Dorf namens Gah geboren, das im heutigen Pakistan liegt. Seine Ausbildung absolvierte er sowohl an indischen Universitäten als auch in Cambridge und Oxford. Während der 1960er und 1970er Jahre bekleidete er eine Reihe akademischer Posten an der Universität von Neu Delhi.

In den 1970er und 1980er Jahren rückte er auf hohe staatliche Ämter vor. Von 1976 bis 1980 war er Finanzminister, von 1982 bis 1985 Präsident der indischen Zentralbank. Außerdem saß er in einer ganzen Reihe von Aufsichtsgremien und Kommissionen. Er bekleidete Führungspositionen in der Asiatischen Entwicklungsbank (ADB) und im Internationalen Währungsfonds (IWF). Seit der Regierungszeit Indira Gandhis diente er mehreren Premierministern als Wirtschaftsberater. Außerdem war er stellvertretender Vorsitzender der mächtigen Planungskommission Indiens, deren Vorsitz im Allgemeinen der Premierminister selbst führt.

In erster Linie ist Singh jedoch als Initiator der ökonomischen Umstrukturierung bekannt. Die Kongress-Regierung unter Narasimha Rao ernannte ihn zum Finanzminister, der die Wirtschaftskrise des Landes in den Griff bekommen sollte. Die bis zu diesem Zeitpunkt vorherrschende Wirtschaftspolitik, oft fälschlicherweise als "Kongress-Sozialismus" bezeichnet, war von einem hohen Maß an staatlicher Regulierung und hohen Zollmauern bestimmt. Wie in anderen Ländern auch, wurde das indische System der nationalen Wirtschaftssteuerung in den 1980er Jahren durch die globale Integration der Produktionsprozesse unterhöhlt, so dass riesige Haushalts- und Leistungsbilanzdefizite entstanden und die Inflation stark beschleunigt wurde.

Singh nutzte diese Situation zu einer drastischen Umstrukturierung der indischen Volkswirtschaft. Er übernahm das Amt des Finanzministers nur unter der Bedingung, dass er in wirtschaftspolitischer Hinsicht freie Hand erhielt. Seine Professoren in Cambridge, Joan Robinson und Maurice Dobb, waren bekannte Befürworter staatlicher Steuerungsmaßnahmen nach den Rezepten Keynes’ gewesen. Doch wie die meisten anderen Wirtschaftswissenschaftler hatte Sing sich in den 1980er Jahren vorbehaltlos der Marktliberalisierung angeschlossen, wie sie von Ronald Reagan und Margaret Thatcher betrieben wurde.

In einem entlarvenden Interview mit dem US-amerikanischen Fernsehsender PBS TV bekundete Singh im Jahr 2001 seine persönliche Bewunderung für Thatcher: "Viele Menschen in Indien bewundern Mrs. Thatcher. Ich hatte das Privileg, ihr mehrere Male zu begegnen. Ich schätze sie sehr, aber meiner Ansicht nach hatte sie nur sehr wenig Einfluss auf die Wirtschaftsreformen."

Singh senkte im Jahr 1991 zunächst die Einfuhrzölle und öffnete das Land für ausländische Investoren, darunter die amerikanischen Konzerne Ford und AT&T. Er verfügte eine rasche Abwertung der indischen Rupie und begann damit, das staatliche System der Lizenzvergabe und der Kontrolle über die Privatwirtschaft abzubauen.

Gurcharan Das, ein ehemaliger Geschäftsführer von Procter & Gamble Indien, kommentierte Singhs Rolle in einer Zeitungskolumne folgendermaßen: "In erster Linie ist er ein gestandener Ökonom, und ich bin davon überzeugt, dass er auf die Märkte vertraut. Sein historisches Vermächtnis der Jahre 1991 bis 1993 ist ein grundlegender Wandel... Wir verdanken ihm eine Menge."

Um seine Politik durchzusetzen, walzte Singh jede Opposition rücksichtslos nieder. In seiner Antrittsrede als Finanzminister zitierte er Victor Hugo: "Nichts kann eine Idee aufhalten, deren Zeit gekommen ist." Die Auswirkungen der Marktliberalisierung trafen vor allem die Arbeiterklasse und die arme Landbevölkerung. Arbeitsplätze wurden in Massen abgebaut, Subventionen gestrichen und die Rechte der Arbeiter beschnitten.

Die BJP nutzte die allgemeine Unzufriedenheit aus, um Nationalismus und Hindu-Chauvinismus zu schüren. Als die Opposition gegen die Wirtschaftsreformen immer weiter anwuchs und die Kongresspartei in den Jahren 1992 und 1993 in mehreren wichtigen Bundesstaaten die Wahlen verlor, wurde auch innerhalb seiner eigenen Partei Kritik an Singh laut. "Das schränkte meinen Bewegungsspielraum deutlich ein", erklärte er vergangenen Dezember gegenüber dem Financial Express. An seiner Politik aber änderte es nichts.

Wie wenig Unterstützung Singh in der Bevölkerung genießt, sieht man schon daran, dass er nie ins Parlament gewählt wurde. Als er zum Finanzminister berufen wurde, schanzte ihm die Kongresspartei einen Sitz im Rajya Sabha, im indischen Oberhaus zu. Die Mitglieder des Oberhauses werden nicht von der Bevölkerung, sondern von den Parlamenten der Bundesstaaten gewählt. Ein einziges Mal, im Jahr 1999, kandidierte Singh für einen Sitz im Unterhaus, doch er fiel in seinem Wahlbezirk in Süd-Delhi durch.

Während die herrschenden Kreise Singhs Ernennung zum Premierminister allgemein begrüßen, stellen sie sich doch die Frage, ob er fähig sein wird, die Wirtschaftsreformen durchzusetzen und seine brüchige Koalitionsregierung zusammenzuhalten. Der Kongress hat sich nicht nur mit einem runden Dutzend kleiner regionaler und kasten-basierter Parteien verbündet, sondern hängt auch von der Unterstützung der beiden größten stalinistischen Parteien ab - der Kommunistischen Partei Indiens (KPI) und der Kommunistischen Partei Indiens - Marxisten (KPI-M).

P. K. Basu, der Vorsitzende von Robust Economic Analysis, warnte: "Aus der Sicht des Marktes wäre es sehr zu begrüßen, wenn der Vater des indischen Reformprogramms Premierminister würde. Dennoch warne ich vor übertriebener Begeisterung. Dr. Singh hat zwar einen guten Ruf als Wirtschaftsreformer, seine Fähigkeiten als politischer Manager aber hat er noch nicht unter Beweis gestellt."

Singh selbst weiß genau, dass sein Wirtschaftsprogramm auf breite Ablehnung stößt. Schließlich verdankte die Kongresspartei ihren Wahlsieg ihrer Kritik an der Wirtschaftspolitik der Vorgängerregierung und an deren Auswirkungen auf Arbeitsplätze, Lebensbedingungen und Einkommen der Bevölkerung. Nachdem er vergangene Woche vom Staatspräsidenten mit der Regierungsbildung beauftragt worden war, erklärte er: "Wir werden der Welt und unserem Volk ein Modell von Wirtschaftsreformen liefern, das die Entwicklungsprozesse beschleunigt und den Armen und Niedergedrückten neue Chancen eröffnen wird."

Singhs Ankündigung, seine Reformen würden "den Armen und Niedergedrückten" helfen, wird nicht mehr Erfolg haben, als die entsprechenden Versprechungen der BJP. Vor den jüngsten Wahlen verschwendete die von der BJP geführte Regierung rund 20 Millionen Dollar auf ihre Wahlkampagne, in der sie unter dem Motto "Indien glänzt" die Vorteile anpries, die Indiens Verwandlung in eine Billiglohnregion für IT-Dienstleistungen mit sich gebracht habe. Eine beträchtliche Schicht der Mittelklasse hat von den wachsenden ausländischen Investitionen in Indien profitiert. Doch die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung, deren Lebensstandard sich verschlechterte, fand diese Kampagne wenig überzeugend - die BJP wurde abgewählt.

Singh wird sich insbesondere auf die politischen Dienste der stalinistischen Parteien stützen müssen, wenn er den Unmut über die Regierungspolitik ablenken will. Während des Wahlkampfes rechtfertigen KPI und KPI-M ihre offene Unterstützung für die Kongresspartei - die traditionelle Partei der indischen herrschenden Klasse - damit, dass sie gegenüber der rechten, chauvinistischen BJP das kleinere Übel darstelle. Kaum hatte Singh das Amt des Premiers übernommen, sprang ihm die KPI-M auch schon zu Hilfe. Mit seinen Äußerungen über die "Armen" und "Niedergedrückten", lobte Sitaram Yechury vom Politischen Büro der KPI-M, habe er "eine positive Note angeschlagen".

In Wirklichkeit unterstreicht die Ernennung Singhs nur die tiefe Kluft zwischen dem gesamten politischen Establishment Indiens, zu dem auch die KPI und die KPI-M gehören, und der Masse der einfachen arbeitenden Bevölkerung, deren Interessen nur durch die Schaffung einer wirklich sozialistischen Alternative gewahrt werden können.

Siehe auch:
Wahlen in Indien - Regierungspartei BJP reagiert auf schlechte Umfragewerte mit einer chauvinistischen Kampagne
(8. Mai 2004)
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