Geiseldrama von Beslan:

Die Lügen der Putin-Regierung und der ihr hörigen Medien

Die tragischen Ereignisse der Geiselnahme in der nordossetischen Stadt Beslan haben deutlich gemacht, in welchem Ausmaß die herrschende Elite in Russland das eigene Volk betrügt. Vier Tage nach dem dramatischen Beginn der Geiselnahme sind die elementaren Fakten noch immer unbekannt. Die Regierung enthält der Bevölkerung das wichtige und elementare Recht auf wahrheitsgemäße, schnelle und umfassende Information vor.

Von Anbeginn der Krise am Morgen des 1. September bis zum fürchterlichen Ende zwei Tage später betrieben die führenden Politiker, die Vertreter der Geheimdienste und die wichtigsten russischen Medien eine bewusste und gezielte Desinformation der öffentlichen Meinung hinsichtlich des Ausmaßes der Katastrophe und deren schrecklichen Auswirkungen.

Lüge Nr. 1: Die Anzahl der Geiseln

Von Beginn an wurde die Anzahl der Menschen, die sich in der Gewalt der Geiselnehmer befanden, herunter gespielt und nur mit einem Bruchteil der wirklichen Zahl angegeben. Bis zum Moment der Erstürmung des Schulgebäudes wiederholten Fernsehkanäle und Regierungsvertreter bei öffentlichen Auftritten ständig die offizielle Zahl von 354 Menschen.

Obwohl Zeitungen und Internet-Magazine frühzeitig höhere Zahlen veröffentlichten, hielten die Fernsehsender an der ersten Angabe fest. Auch als es am 2. September zu Verhandlungen der Geiselnehmer mit dem ehemaligen Präsidenten Inguschetiens, Ruslan Auschew, kam - und 26 Frauen und Kleinkinder freigelassen wurden -, blieben die Medien bei den alten Zahlen, obwohl das wahre Ausmaß nun kaum mehr zu verheimlichen war.

Auschew hatte gesehen, wie viele Menschen in der Turnhalle eingesperrt waren. Eine der freigelassenen Frauen erklärte gegenüber der Presse: "Es sind viele Geiseln, sehr viele. Ich glaube tausend." Eine andere Frau, deren zwei Kinder in der Schule verblieben waren, sagte: "Entsprechend der Liste gehen 860 Kinder in Schule. Vielleicht ist die Hälfte davon nicht zur Einschulungsfeier gekommen. Dazu kommen noch die Eltern. Schauen Sie, wie viele Menschen alleine hier stehen. Hier am Kulturhaus stehen schon tausend Menschen, und von jedem ist mindestens ein Angehöriger in der Schule."

Ähnliche Meldungen gab es in anderen Zeitungen und Internet-Magazinen. Doch das Fernsehen blieb fest bei der einmal festgelegten Linie.

Lüge Nr. 2: Die Terroristen hätten keinerlei Forderungen aufgestellt

Von Anfang an war auf oberster politischer Ebene entschieden worden, dass unter keinen Umständen Forderungen der Terroristen öffentlich gemacht werden. Die Putin-Regierung hat diese Entscheidung als Lehre aus dem Geiseldrama im Moskauer Musical-Theater "Nordost" im Jahre 2002 gezogen. Damals hatten Angehörige der Geiseln im Zentrum der Stadt für die Beendigung des Tschetschenienkrieges demonstriert. Diese Forderung war in breiten Teilen der Bevölkerung auf Zustimmung gestoßen. Dem Kreml gelang es nur unter großen Mühen, diese Stimmen zum Schweigen zu bringen.

Dieses Mal wurde behauptet, die Terroristen hätten keinerlei Forderungen aufgestellt, und die Tatschache, dass unmittelbar nach dem Beginn der Geiselnahme eine islamistische Gruppe die alte Forderung nach Beendigung des Tschetschenienkrieges und Abzug der russischen Truppen erhoben hatte, wurde verheimlicht. Darüber hinaus behauptete die Regierung, all ihre Anstrengungen, mit den Geiselnehmern Kontakt aufzunehmen, seien ignoriert worden.

Am 6. September berichtete die Zeitung Nowaja Gaseta, dass sich schon am Nachmittag des 1. September unweit der Schule "Eltern gefangen gehaltener Schüler in einer Videoaufzeichnung an den russischen Präsidenten wandten. Sie baten alle Forderungen der Terroristen zu erfüllen, um das Leben der Kinder zu retten." Diese Information wurde von den großen russischen Zeitungen und Fernsehanstalten über lange Zeit vollständig verschwiegen.

Unzähligen Aussagen von Geiseln zufolge machten die Besetzer aus ihren Forderungen nie einen Hehl.

Zum Beispiel führte die Iswestija am 3. September ein Gespräch mit einer Lehrerin, die zusammen mit ihrer dreijährigen Tochter freigelassen worden war. Frage: "Sagten Ihnen die Terroristen, was sie forderten?" Antwort: "Sie sagten, dass sie nur eines forderten: den Abzug der föderalen Truppen aus Tschetschenien." Viele ähnliche Beispiele könnten angeführt werden.

Einige Überlebende berichteten, dass die Geiselnehmer anfangs den Gefangenen erlaubten, die Toiletten zu benutzen und Wasser zu trinken. Erst als all ihre Versuche, sich mit den Behörden in Verbindung zu setzen, scheiterten, hätten sie schlagartig die Bedingungen der Opfer verschärft.

Lüge Nr. 3: Die Erstürmung sei nicht geplant gewesen

Unmittelbar nachdem die Geiselnahme bekannt geworden war und die Bevölkerung mit Entsetzen reagierte, erklärten Regierungsvertreter, es werde alles getan, um einen bewaffneten Angriff der Sicherheitskräfte zu vermeiden. Doch in Wirklichkeit wurde nichts unternommen, was eine Stürmung der besetzten Schule verhindert hätte.

Einem Kommentar der Iswestija zufolge vollzog sich das Drama "entsprechend dem schlechtesten Szenario". Die Regierung versuchte die dramatischen Ereignisse, die schließlich zur Katastrophe führten, mit dem Hinweis zu erklären, die Erstürmung des Gebäudes sei nicht vorbereitet und nicht einmal "geplant" gewesen. Diese Behauptung widerspricht einer ganzen Reihe von Fakten und Zeugenberichten.

Die Nesawissimaja Gaseta schrieb schon am 3. September, dass die "Geheimdienste die Erstürmung der besetzten Schule vorbereiteten". Sie verwies dabei darauf, dass in der Nacht vom 1. zum 2. September Militärtransportflugzeuge mit Spezialtechnik und Ausrüstung in Nordossetien landeten. Die Zeitung vermutete, dass auch die Antiterroreinheit "Alfa" eingeflogen worden sei.

Wie jetzt bekannt ist, spielten "Alfa" und die andere Antiterroreinheit "Wimpel" die entscheidende Rolle bei der Erstürmung des Gebäudes. Selbst die Tatsache, dass die Terroristen am 3. September das Feuer eröffneten und installierte Sprengsätze zündeten, als der unerwartete Schusswechsel begann, spricht dafür, dass sie eine Erstürmung erwarteten.

Bei Berücksichtigung aller Fakten - das Verschweigen der Forderungen der Terroristen, die Weigerung der Regierung, Verhandlungen zu führen, die vollständige Informationsblockade über die Ereignisse innerhalb der Schule, die Positionierung der Spezialeinheiten an vorderster Front -, kommt Gaseta.ru am 4. September zum Schluss: "Die Erstürmung wurde in Wirklichkeit vorbereitet und sollte in den nächsten beiden Tagen stattfinden."

Lüge Nr. 4: Die Zahl der Opfer

Selbst als die Katastrophe geschehen war, Bomben in der Turnhalle explodiert waren und deren Dach eingestürzt war, logen die Regierung und die Medien weiter und spielten die Zahl der Opfer herunter.

Regierungsangaben zufolge wurden am Montagmorgen 335 Tote gezählt. Gleichzeitig war von einer zweiten Liste Vermisster die Rede, auf der 260 Familiennamen angegeben waren. Diese Namen fanden sich dem Radiosender "Echo Moskau" zufolge weder in der Auflistung der Toten noch in der Liste der Hospitalisierten.

Die Bewohner von Beslan, die beobachteten, wie Särge mit Getöteten aus dem ausgebrannten Schulgebäude getragen wurden, berichteten schon am Sonnabend, dass sie 500 bis 600 Getötete gezählt hätten.

Vor diesem Hintergrund soll nicht weiter auf die geringfügigeren Lügen der Regierung eingegangen werden: über die Anzahl der Terroristen, die ebenfalls heruntergespielt wurde, oder über den Ablauf der Ereignisse, die in unterschiedlichster Form geschildert wurden.

Das Verhalten von Präsident Putin und seiner Regierung war schändlich und feige. Obwohl er Oberbefehlshaber der Armee ist, übernahm der Präsident keinerlei persönliche Verantwortung für die Ereignisse. Im Verlauf des dreitägigen Geiseldramas wandte er sich nicht einmal mit einer Erklärung an die Bevölkerung. Stattdessen zog er es vor, mit dem Präsidenten der USA, dem Kanzler Deutschlands, dem Präsidenten Frankreichs oder dem König von Saudi Arabien zu sprechen.

Am Samstagmorgen flog Putin zu einer Stippvisite nach Nordossetien, reiste aber nach einem kurzen, medienwirksamen Besuch eines Krankenhauses schnell wieder ab. Ein Gespräch mit Hinterbliebenen der Opfer hielt er nicht für nötig.

Auch das russische Parlament, die Staatsduma, traf nicht zu einer Sondersitzung zusammen. Der Vorsitzende der für die Tagesordnung zuständigen Kommission, Oleg Kowaljow, sagte, dass seiner Meinung nach "kaum ein konkreter Nutzen bei der Lösung der Situation in Beslan erzielt würde, selbst wenn wir zu einer Sondersitzung zusammenkämen". Mit dem für heutige russische Politiker typischen Zynismus erklärte er, dass "ein Zusammentreffen nur zu einer weiteren Erklärung führen könne - das ist sinnlos und hilft niemandem".

Nicht weniger schändlich ist auch das Verhalten der russischen Medien, allen voran der großen Fernsehsender. Während westliche Fernsehkanäle in vielen Sondersendungen über die Ereignisse berichteten und dabei nicht selten mit russischen Kameraleuten zusammenarbeiteten, wurde in Russland das reguläre Programm kaum unterbrochen.

Ein Korrespondent des Fernsehsenders NTW sagte in die Kamera: "Wir können nicht sagen, was passiert, wir können nicht das Vorgehen der Kämpfenden kommentieren!" Es ist also kein Zufall, dass die Fernsehjournalisten von den Bewohnern Beslans körperlich angegriffen wurden. Als die ersten Informationen über die tatsächliche Zahl der Opfer bekannt wurden, stürzten sich Umstehende voller Wut auf die anwesenden Fernsehjournalisten und schlugen auf Kameras und Reporter ein.

Siehe auch:
Geiselnahme in Nordossetien endet mit Blutbad
(4. September 2004)
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