Hundert Jahre seit Albert Einsteins Annus mirabilis

Teil 4

Dies ist der vierte und letzte Teil einer vierteiligen Serie über Einsteins wissenschaftliche Arbeiten.

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Die Betrachtung von Einsteins weiterer wissenschaftlichen Laufbahn erfordert einen kurz gefassten Überblick über einen weiteren Strang der modernen Physik, den Einstein in seiner ersten Arbeit aus dem Jahr 1905 mitzubegründen half - die Quantenmechanik. Es war kein Zufall, dass das Nobelpreiskomitee bei der Verleihung des Preises an Einstein den photoelektrischen Effekt in den Vordergrund stellte und nicht die Quantentheorie des Lichts, die Einstein selber für "sehr revolutionär" hielt. Viele Wissenschaftler schreckte die Idee, dass sich Licht gleichzeitig wie eine Welle und ein Teilchen verhalten sollte. Wie konnte es möglich sein, dass etwas stetig ist und sich wie eine Welle ausdehnt, und gleichzeitig diskret und lokalisiert ist wie ein Teilchen?

Die Reaktion des Experimentalphysikers Robert Andrews Millikan auf seine eigenen Resultate im Jahr 1914, die Einsteins Voraussagen zum photoelektrischen Effekt bestätigten, resümieren die vorherrschende Haltung: "Wir befinden uns [...] in der überraschenden Lage, dass diese Tatsachen vor neun Jahren richtig und genau von einer Form der Quantentheorie vorhergesagt wurden, die inzwischen so gut wie aufgegeben worden ist." [18] Mit dem Fortschreiten der Untersuchungen des Atoms stellte sich der duale Wellen-Teilchen-Charakter als alldurchdringendes Naturprinzip heraus. So wie Licht auch als Teilchen betrachtet werden konnte, mussten umgekehrt subatomare Teilchen als Wellen beschrieben werden, um deren Verhalten erklären zu können.

Joseph John Thomson entwickelte das sogenannte "Rosinenpuddingmodell" des Atoms, nach welchem dieses aus einer Mischung gleicher Teile negativ geladener Elektronen und positiv geladener Partikel bestünde. Die Elementarphysik lehrt uns, dass positive und negative Ladungen sich gegenseitig anziehen. Nach Thomson würden sich gleiche Anzahlen positiver und negativer Ladungen gegenseitig neutralisieren und das Atom wäre folglich elektrisch neutral. Doch Ernest Rutherford machte im Jahr 1912 die überraschende Entdeckung, dass das Atom hauptsächlich aus leerem Raum besteht und dass sich die Elektronen in Bahnen um einen kleinen, schweren, positiv geladenen Kern herum bewegen.

Dieses Atommodell - Elektronen, die um einen kompakten Kern herumschwirren - ist heute so allgemein akzeptiert, dass seine bildliche Darstellung sofort erkannt wird. Doch am Anfang des 20. Jahrhunderts warf es beunruhigende Fragen auf. Wenn sich die Elektronen um einen positiven Kern herum bewegen, was hielt sie davon ab, in einer Spiralbewegung allmählich zum Kern hin zu treiben? Und wenn dies passierte, so würden die Elektronen elektromagnetische Strahlung emittieren, einschließlich Lichtstrahlung, in einem kontinuierlichen Spektrum verschiedener Frequenzen. Man fand jedoch, dass energetisierte Atome nur Licht ganz bestimmter Frequenzen emittieren - mit anderen Worten, ihre beobachteten Spektra bestanden nicht aus dem ganzen Regenbogen von Farben, sondern aus einer Reihe scharf abgetrennter, einzelner Linien.

Der Kern warf also ein Dilemma auf. Wenn er aus positiv geladenen Teilchen - Protonen - bestand, was hielt ihn zusammen? Schließlich lehrt die Schulwissenschaft, dass sich gleiche Ladungen gegenseitig abstoßen, und die Schwerkraft war viel zu schwach, um das Problem zu beantworten. Es musste eine andere, unbekannte Nuklearkraft am Werke sein. Tatsächlich stellte sich heraus, dass es zwei solche Kräfte gibt - die starke und die schwache - nebst einem veritablen Zoo weiterer Nuklearteilchen. Das erste davon, 1932 von James Chadwick identifiziert, war das Neutron - ein elektrisch neutrales Teilchen, das ein wenig schwerer ist als das Proton.

Doch es war das Problem der Elektronbahnen, das direkt zur Quantenmechanik führte. In einer Reihe von Artikeln aus dem Jahr 1913 entwickelte Niels Bohr die These, dass Elektronen sich nicht auf beliebigen Bahnen um den Kern herum bewegen könnten, sondern auf eine Anzahl fester Bahnen fixiert seien. Sie bewegten sich nicht spiralförmig, sondern in "Sprüngen" zwischen zwei solchen Bahnen. Um von einem niedrigeren auf ein höheres Energieniveau zu springen, benötige das Elektron einen Betrag oder ein Quantum Energie von fester Größe. Beim Sprung von einem höheren auf ein niedrigeres Niveau dagegen emittiere es ein solches Energiequantum. Die Energie des Quantums sei, laut Planck und Einstein, direkt proportional zu seiner Frequenz. In dieser Form bestätigte die Theorie die beobachteten Spektren: die "Sprünge" von Elektronen produzieren bestimmte Lichtfrequenzen, d.h. scharf abgetrennte Spektrallinien.

Bohrs Theorie war ziemlich behelfsmäßig und begrenzt. Sie galt nur für ein aus lediglich einem Elektron und einem Proton bestehendes Atom - das Wasserstoffatom - und selbst dann berücksichtigte sie eine Anzahl seiner Eigenschaften nicht. Ein radikal anderer Ansatz, der Bohrs Ideen mit einbezog, wurde im Jahr 1924 von Louis de Broglie vorgeschlagen. Er meinte, dass man die verschiedenen Energieniveaus erklären könne, wenn man das Elektron nicht als diskretes Teilchen sondern als Welle ansehe - dass es, grob gesprochen, als um seine Bahn ausgebreitet vorzustellen sei. Statt sie als willkürliche Annahme in die Theorie einzuführen, könne man Bohrs Energieniveaus aus der Wellenlänge der de Broglieschen Materiewellen ableiten. Einstein wies darauf hin, dass, wenn de Broglie recht hatte, Elektronen wellenartige Eigenschaften - etwa Beugung - aufweisen müssten. Dies wurde im Jahr 1927 von Clinton Davisson und Lester Germer experimentell bestätigt.

De Broglies Vorschlag ließ freilich die offensichtliche Frage offen: Wellen wovon? Erwin Schrödinger legte erst nahe, dass die Wellen "verschmierte" Elektronen seien, aber es gibt keinen experimentellen Hinweis auf Bruchteile von Elektronen. Im Jahr 1926 stellte Max Born die radikale Idee auf, die bis heute im Zentrum der Quantenmechanik steht: dass die "Elektronenwellen" als "Wahrscheinlichkeitswellen" interpretiert werden könnten. Die "Berge" der Welle entsprächen den Orten mit einer hohen Wahrscheinlichkeit, ein Elektron tatsächlich vorzufinden; die "Täler" solchen Regionen, in denen die Wahrscheinlichkeit, ein Elektron zu finden, gering sei.

Im Jahr 1926 formulierten Erwin Schrödinger und, unabhängig von ihm, Werner Heisenberg eine vollständige Theorie der Quantenmechanik, in der Borns Idee einen zentralen Platz einnahm. Im folgenden Jahr formulierte Heisenberg seine "Unschärferelation", die sich aus dem paradoxen Welle-Teilchen-Dualismus der Materie ergab: danach gibt es eine absolute Grenze für unsere Fähigkeit, bestimmte Paare von Eigenschaften gleichzeitig zu messen. Zum Beispiel könne man nicht gleichzeitig die exakte Position und Geschwindigkeit eines Elektrons bestimmen. Heisenberg erklärte: "An der scharfen Formulierung des Kausalgesetzes ‚Wenn wir die Gegenwart genau kennen, können wir die Zukunft berechnen’, ist nicht der Nachsatz, sondern die Voraussetzung falsch. Wir können die Gegenwart in allen Bestimmungsstücken prinzipiell nicht kennenlernen." [19]

Wahrscheinlichkeit und das Universum

Der Physiker Brian Greene kommentierte: "Dies ist eine eigentümliche Idee. Was hat die Wahrscheinlichkeit in der Formulierung der Fundamentalphysik zu suchen? Wir sind gewohnt, dass die Wahrscheinlichkeit bei Pferderennen, Münzwürfen und am Roulettetisch eine Rolle spielt, aber in diesen Fällen reflektiert sie nur unser unvollständiges Wissen." Im Fall der Roulettescheibe ist es laut Greene denkbar, sofern genügend Informationen und hinreichend leistungsfähige Computer zur Verfügung stehen, mit Hilfe der Newtonschen Mechanik exakt zu berechnen, wo der vom Croupier losgelassene Ball landen wird. "Wir sehen, dass die Wahrscheinlichkeit am Roulettetisch nichts Grundlegendes über das Wirken der Welt widerspiegelt. Die Quantenmechanik dagegen verbindet die Welt auf einer viel grundlegenderen Ebene mit dem Konzept der Wahrscheinlichkeit. Nach Born und einem halben Jahrhundert nachfolgender Experimente sieht es so aus, als habe die Wellennatur der Materie zur Folge, dass die Materie selbst grundsätzlich auf wahrscheinlichkeitstheoretische Weise beschrieben werden muss." [20]

Im Falle makroskopischer Objekte wie Roulettescheiben und -kugeln ist der Wellencharakter unerheblich und die Newtonsche Mechanik taugt als höchst genaue Annäherung. Doch in subatomaren Gefilden hat sich die Quantenmechanik als unverzichtbares Werkzeug für die Vorhersage oftmals merkwürdiger Prozesse erwiesen. Die ihr zugrundeliegenden Annahmen bedeuten dennoch, wie Greene hervorgehoben hat, eine tiefgehende Erschütterung unseres Weltbildes. Einstein etwa sorgte sich, dass die Quantenmechanik die Kausalität untergrabe und die Physik nicht mehr genaue Ergebnisse, sondern nur noch die Wahrscheinlichkeit unterschiedlicher Ergebnisse vorhersagen könne.

Im Verlauf der späten 1920er und der 1930er Jahre debattierten Einstein und Bohr über die Bedeutung der weithin anerkannten Kopenhagener Interpretation der Quantenmechanik, für die Bohr verantwortlich zeichnete. Zentrale Bestandteile der Kopenhagener Interpretation waren die Heisenbergsche Unschärferelation und das verwandte Bohrsche Konzept der Komplementarität - die im wesentlichen aussagen, dass der Welle-Teilchen-Dualismus der Materie als grundlegende Eigenschaft angesehen werden müsse. Bohr bestand darauf, dass ein Phänomen nicht getrennt von dem Apparat angesehen werden könne, der für seine Beobachtung oder Messung nötig ist. Seine Interpretation ging in Richtung eines völligen Verzichts auf eine objektive Wirklichkeit, in jedem Falle wurde sie von verschiedenen philosophischen Idealisten als Beweis ihrer Weltsicht gewertet.

Im Verlauf der Debatte entwarf Schrödinger, der auf der Seite Einsteins stand, ein Gedankenexperiment, das die Fragen aus der eher obskuren Welt subatomarer Teilchen in die Sphäre makroskopischer Alltagsobjekte hob. Was wäre, so Schrödinger, wenn man eine lebendige Katze in eine Kiste mit einer Giftampulle und einem Auslöser steckte, der durch den Zerfall einer radioaktiven Substanz ausgelöst wird. Zu einem bestimmten Zeitpunkt, so sagt uns die Quantenmechanik, besteht eine 50:50 Wahrscheinlichkeit, dass der Auslöser aktiviert und das Gift freigesetzt wurde. Wenn wir die Kiste zu diesem Zeitpunkt öffnen, wird die Katze entweder tot oder lebendig sein. Aber was ist mit dem Zeitpunkt unmittelbar vor Öffnung der Kiste? Nach der Kopenhagener Interpretation existiert die Wellenfunktion der Katze in zwei überlagerten Zuständen - tote Katze/lebendige Katze. Mit anderen Worten, sie ist gleichzeitig tot und lebendig - eine Ansicht, die Einstein und Schrödinger für absurd hielten.

Einstein stellte nicht das Vermögen der Quantenmechanik infrage, experimentelle Resultate vorherzusagen, doch war er der festen Überzeugung, dass sie nur eine teilweise Erklärung lieferte, die schließlich von einer umfassenderen Theorie abgelöst werden würde. In einem Brief an Max Born aus dem Jahr 1926 fasste Einstein seinen Standpunkt wie folgt zusammen: "Die Quantenmechanik ist sehr achtung-gebietend. Aber eine innere Stimme sagt mir, dass das doch nicht der wahre Jakob ist. Die Theorie liefert viel, aber dem Geheimnis des Alten bringt sie uns kaum näher. Jedenfalls bin ich überzeugt, dass der nicht würfelt." [21]

Einsteins Einwände entstammten der tief verwurzelten Überzeugung, dass Materie unabhängig vom Beobachter existiert, von Gesetzen bestimmt wird und dem Wissen vollständig zugänglich ist. Seine Anspielungen auf Gott (den "Alten") bedeuteten keine Rückwendung zur Religion, sondern drückten eine bestimmte Ehrfurcht vor dem Wirken der Natur aus. Wie er bei mehreren Gelegenheiten betont hat, benutzte er den Begriff in der gleichen Weise wie der außerordentliche Philosoph der frühen Aufklärung, Benedikt Spinoza. Für Spinoza, einen de facto Atheisten, waren "Gott" und "Natur" austauschbare Begriffe - die Gesetze Gottes waren die Naturgesetze, und es gab keinen Raum für göttliches Eingreifen. Für Einstein war es undenkbar, dass die Naturgesetze, auf welchem Niveau auch immer, das Ergebnis blinden Zufalls sind, der keiner tieferen Erklärung zugänglich ist.

Wer hatte Recht? Das unausgesprochene Urteil vieler war, dass Bohr siegreich aus dem Streit hervorging. Den Beweis betrachteten sie die Praxis, wo die Quantenmechanik erfolgreich angewendet wurde. Mehrere Generationen von Physikern haben gelernt, mit Hilfe von Schrödingers Wellenfunktion zahlreiche Probleme zu lösen, ohne viel nach ihrer Bedeutung zu fragen. Die Bohr-Einstein-Debatte war bis vor kurzem weitgehend in Vergessenheit geraten. Nach seinen großen Durchbrüchen in der Relativitätstheorie, so wurde gesagt, habe sich Einstein erfolglos der donquichotischen Anstrengung gewidmet, eine einheitliche Feldtheorie unter Berücksichtigung aller bekannten Kräfte zu entwickeln.

Freilich wäre die Annahme, Einstein habe nach 1915 oder nach der Debatte mit Bohr wissenschaftlich zum alten Eisen gehört, äußerst kurzsichtig. Abgesehen von dem anhaltenden Strom seiner wissenschaftlichen Arbeiten zu verschiedenen Themen, waren Einsteins Einwände gegen die Quantenmechanik nicht etwa der Ausdruck eines ihm eigenen Konservatismus, sondern seiner Bemühungen um eine tiefergehende Erklärung des Universums. Bohr sah in Einstein jedenfalls einen ernstzunehmenden intellektuellen Widersacher, der ihn zur Verfeinerung seiner eigenen Ideen nötigte. Und Einstein blieb bis zu seinem Tode im Jahr 1955 ein reger Teilnehmer an den anhaltenden Diskussionen über die Quantenmechanik.

Abraham Pais, ein Kollege und Biograph Einsteins, bemerkte: "Mir wurde beim Anhören beider Seiten [Einstein und Bohr] klar, dass das Aufkommen der Quantenmechanik 1925 einen weit größeren Bruch mit der Vergangenheit darstellte, als es beim Erscheinen der speziellen Relativitätstheorie 1905 oder der allgemeinen Relativitätstheorie 1915 der Fall gewesen war. Das war mir vorher nicht bewusst gewesen, da ich zu einer Generation gehörte, die sich einer bereits ‚fertigen’ Quantenmechanik ausgesetzt sah. Ich begann zu verstehen, wie falsch ich damit lag, den ziemlich weit verbreiteten Glauben zu akzeptieren, dass sich Einstein nicht mehr um die Quantenmechanik kümmerte. Im Gegenteil war sein höchstes Ziel die Auffindung einer einheitlichen Feldtheorie, die nicht nur die Gravitationskraft und die elektromagnetischen Kräfte miteinander verbinden, sondern auch die Grundlage für eine neue Deutung der Quantenphänomene abgeben würde. Über die Relativitätstheorie sprach er mit Distanz, über die Quantentheorie mit Leidenschaft. Das Quantum war sein Dämon." [22]

Schrödingers Katze wurde zum Thema einer langanhaltenden Debatte. Die Kopenhagener Interpretation ist nicht das einzige System für die Quantenmechanik, und die Diskussion hat sich im Verlauf jahrzehntelanger Bemühungen verfeinert. In jedem Falle bleiben Einsteins Bedenken über die Interpretation der Quantenmechanik bestehen. Mehr noch, selbst da wo Einstein widerlegt wurde, erwiesen sich seine "Irrtümer" als bemerkenswert fruchtbar. Ein Beispiel war eine Arbeit, die Einstein 1935 zusammen mit Boris Podolsky und Nathan Rosen schrieb. Die sogenannte EPR-Arbeit enthielt eines von Einsteins "Gedankenexperimenten", das den Nachweis erbringen sollte, dass die Kopenhagener Interpretation nicht in allen Situationen gelten konnte.

Nach der Heisenbergschen Unschärferelation war es unmöglich, gleichzeitig Ort und Impuls mit über einen bestimmten Wert hinausgehender Genauigkeit zu bestimmen. Was wäre, so Einstein, wenn zwei subatomare Teilchen miteinander in Wechselwirkung gerieten und danach in verschiedenen Richtungen davonflögen. Man könnte ihren Impuls zum Zeitpunkt der Wechselwirkung messen und später die Position von Teilchen A und den Impuls von Teilchen B. Diese Information könnte dann verwendet werden, um den Impuls und die Position beider Teilchen mit beliebiger Genauigkeit zu bestimmen. Der einzige Weg, die Unschärferelation zu retten, wäre die Annahme, dass eine Messung am Teilchen A eine sofortige Wirkung auf das Teilchen B ausübte, und umgekehrt. Einstein verwarf diese Möglichkeit als "spukhafte Fernwirkung".

Einem Mitarbeiter Bohrs zufolge traf die EPR-Arbeit Bohr "wie ein Blitz aus heiterem Himmel", und er verbrachte sechs angestrengte Wochen, eine Erwiderung auf die Herausforderung zu formulieren. Die Diskussion geriet weitgehend in Vergessenheit, bis im Jahr 1966 der Physiker John Stewart Bell, der Einsteins Bedenken über die Quantenmechanik teilte, ein Verfahren entwickelte, um das EPR-Gedankenexperiment einer praktischen Überprüfung zu unterziehen. Erst in den 1980er Jahren wurden die technischen Mittel verfügbar, um den Bellschen Versuch auf schlüssige Weise durchzuführen. Ein Team von Experimentatoren unter der Leitung von Alan Aspect studierte dazu das Verhalten von Photonen und bestätigte die Voraussagen der Quantenmechanik. Die "spukhafte Fernwirkung", besser bekannt als Quantenkorrelation, ist heute Gegenstand intensiver Untersuchungen.

Die Quantenkorrelation unterstreicht freilich nur ein grundlegenderes Problem. Wenn Teilchenpaare über jede mögliche Distanz sich unmittelbar beeinflussen können, dann erscheint die Relativitätstheorie als verletzt, da sich nichts schneller als mit der Lichtgeschwindigkeit fortbewegen kann. Dies stellt freilich bloß einen Hinweis auf die wohlbekannte Tatsache dar, dass die beiden Säulen der modernen Physik - die Quantenmechanik und die allgemeine Relativitätstheorie - auf einer grundlegenden Ebene im Widerspruch zueinander stehen. Jahrzehntelange Versuche, die beiden Theorien zusammenzuführen, haben nur teilweise Erfolge erbracht.

Am Anfang seines Buches "Das elegante Universum" fasst Brian Greene das Problem wie folgt zusammen: "Über viele Jahre der Forschung hindurch haben Physiker mit beinahe unvorstellbarer Genauigkeit alle Vorhersagen bestätigt, die beide Theorien machen. Doch die gleichen theoretischen Werkzeuge führen unerbittlich zu einer weiteren, beunruhigenden Schlussfolgerung: so, wie sie gegenwärtig formuliert sind, können die allgemeine Relativitätstheorie und die Quantenmechanik nicht beide zugleich wahr sein. Die beiden Theorien, die den Fortschritten der Physik über die letzten hundert Jahre zugrunde liegen - Fortschritte, die die Expansion des Sternenhimmels und die fundamentale Struktur der Materie erklärt haben - sind nicht miteinander vereinbar." [23]

Einsteins ständige Beschäftigung mit der Formulierung einer einheitlichen Feldtheorie war darauf zurückzuführen, dass er sich dieses Widerspruchs bewusst war. In vielerlei Hinsicht weist die Lage der Physik am Anfang des 20. Jahrhunderts eine frappierende Ähnlichkeit zu der Situation vor 1905 auf. Zwei Theorien - die allgemeine Relativitätstheorie und die Quantenmechanik -, beide in ihrem jeweils eigenen Bereich außerordentlich erfolgreich, werfen fundamentale theoretische Probleme auf, wenn Versuche zu ihrer Vereinigung gemacht werden. Die Aufgabe wird um so dringlicher, als die experimentellen Daten immer tiefer in das Atom eindringen und neue astronomische Beobachtungen Herausforderungen für die Entwicklung einer umfassenden Theorie des Universums aufwerfen. Die neuen Probleme verlangen mehr als die bisherigen spontanen Versuche, die beiden Theorien miteinander zu vermengen. Eine neue Synthese ist nötig.

Ist dies möglich? Greenes Buch widmet sich der populären Darstellung der Superstringtheorie, die gegenwärtig als aussichtsreichste Bewerberin für die "Theorie von Allem" gilt, wie sie etwas locker genannt wird. Eine weitere bemerkenswerte Parallele ist ebenfalls bezeichnend für unsere Zeit. Die Reaktion auf die gegenwärtige Gärung in der Physik hat eine Vielfalt von Meinungen hervorgebracht, die jenen von 1905 ähneln: sie reichen von solchen, die eine neue Synthese für unmöglich halten und in manchen Fällen sogar religiöse Antworten suchen, bis hin zu anderen, die eine tiefe Krise der Wissenschaft ausrufen. Ein Autor behauptet sogar, dass nicht mehr viel zu tun übrig bleibe [24]. Letzten Endes kann kein Zweifel daran bestehen, dass sich Einsteins grundlegende Vorstellung am Ende als korrekt erweisen wird: die objektive Wirklichkeit verhält sich gesetzmäßig, und es ist möglich, immer tiefer in diese Gesetzmäßigkeiten einzudringen.

Ein bedeutsamer Unterschied zwischen 1905 und 2005 besteht jedoch in der allgemeinen ideologischen Atmosphäre, die von dem zugrunde liegenden sozialen Verfall des Kapitalismus geprägt ist. Während im Jahr 1905 ein Klima des Optimismus und der enthusiastischen Anteilnahme an wissenschaftlichen Fortschritten vorherrschte, ist die Wissenschaft heutzutage gezwungen, ihre grundlegendsten Annahmen gegen Aberglauben, Mystik und antiwissenschaftlichen Unsinn zu verteidigen, der zu politisch reaktionären Zwecken verbreitet wird. Die Aufmerksamkeit, welche die Medien kürzlich dem Ableben des Papstes und den sich darum rankenden mittelalterlichen Ritualen widmeten, stellt beispielsweise jede Betrachtung des Beitrags von Einstein für die letzten 100 Jahre in den Schatten. Für Sozialisten und alle, die sich um die Zukunft der Menschheitsentwicklung sorgen, ist dies ein Grund mehr, Einsteins erstaunlichen Leistungen Anerkennung zu zollen und diejenigen in Schutz zu nehmen, die sein Vermächtnis weiterführen: die Erweiterung der Grenzen unseres Wissens über die Natur und das Universum.

Schluss.

Fußnoten:

18. Zitiert nach: Rigden (2005), a.a.O. (s. Fn. 5), S. 36

19. Werner Heisenberg (1927): Über den anschaulichen Inhalt der quantentheoretischen Kinematik und Mechanik, in: Zeitschrift für Physik 43 (1927), S. 172-198, hier: S. 198. Zitiert nach: Fölsing (1993), a.a.O. (s. Fn. 2), S. 666

20. Brian Greene: The Elegant Universe, Vintage, 2000, S. 106

21. Zitiert nach: Fölsing (1993), a.a.O. (s. Fn. 2), S. 665

22. Pais (1982), a.a.O. (s. Fn. 3), S. 6

23. Greene, a.a.O. (s. Fn. 20), S. 9

24. Siehe Chris Talbot: A Postmodernist attack on science (Rezension von: John Horgan, The End of Science. Facing the Limits of Knowledge in the Twilight of the Scientific Age, Little Brown & Co., 1996), World Socialist Web Site, 18. Mai 1999

Siehe auch:
Hundert Jahre seit Albert Einsteins Annus mirabilis - Teil 1
(10. August 2005)
Hundert Jahre seit Albert Einsteins Annus mirabilis - Teil 2
( 11. August 2005)
Hundert Jahre seit Albert Einsteins Annus mirabilis - Teil 3
( 12. August 2005)
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