Frankreich: Regierung nimmt Ersteinstellungsvertrag zurück

Präsident Jacques Chirac und Premierminister Dominique de Villepin haben am Montag den umstrittenen Ersteinstellungsvertrag (CPE) zurückgezogen. Dennoch gingen auch am Dienstag wieder Tausende Schüler und Studenten auf die Straße. Die Fortsetzung der Proteste drückt die tiefe Opposition gegen die Regierung und die Skepsis aus, mit der viele junge Menschen die Nachricht vom Deal der Regierung mit den Gewerkschaften über die Rücknahme des CPE aufgenommen haben.

Am Dienstag gingen in Paris und anderen Städten noch etwa 41.000 Studenten auf die Straße, und damit weit weniger als in den vorangegangenen Wochen, als sich Hunderttausende junger Menschen an den Demonstrationen beteiligt hatten. Viele Schüler und Studenten haben jetzt Osterferien, der Hauptgrund für die geringere Mobilisierung war aber das Abkommen, das die Gewerkschaften mit Hilfe der Sozialistischen und der Kommunistischen Partei mit der Regierung getroffen haben.

Am Montag hatten Chirac und Villepin bekannt gegeben, dass sie den CPE zurückziehen, der es Unternehmern erlaubt hätte, junge Arbeiter ohne Begründung zu entlassen. An die Stelle des CPE treten neue Regelungen, darunter staatliche Beihilfen für Unternehmer, die unerfahrene Arbeiter einstellen, und zusätzliche Qualifizierungsmaßnahmen in einer Reihe von Berufszweigen. Sie haben weitgehend symbolischen Charakter: Gerade einmal 160.000 Jugendliche werden von dem Projekt profitieren, das im Jahr 2006 150 Millionen Euro kosten wird.

Die Rücknahme des CPE ist ein blamabler politischer Rückschlag für Chirac und Villepin, die zuvor auf dem Gesetz bestanden und sich höchstens zu Korrekturen bereit erklärt hatten. Wie die gesamte herrschende Elite Frankreichs hatten sie nicht damit gerechnet, dass das Gesetz auf explosiven Widerstand stoßen werde. Villepin hatte es ohne Debatte von der Nationalversammlung verabschieden lassen. Speziell für Villepin bedeutet die Rücknahme des CPE eine politische Niederlage, die ihn seinen Posten als Premierminister kosten könnte und seine Anwartschaft auf die Präsidentschaft mit ziemlicher Sicherheit beendet.

Chirac und Villepin haben einen Rückschlag erlitten, aber die herrschenden Kreise werden ihre Angriffe auf den Sozialstaat und die Nachkriegserrungenschaften der Arbeiter fortsetzen. Weil die Regierung die Massenopposition nicht unter Kontrolle bringen konnte und zunehmend isoliert war, wandte sie sich an die Gewerkschaftsbürokratie und die Sozialistische und Kommunistische Partei, um mit ihrer Hilfe die Streiks und Proteste zu beenden und Zeit für die Vorbereitung neuer Angriffe zu gewinnen, die sie mit schweigender oder offener Unterstützung der Gewerkschaften führen wird.

Die Gewerkschaften und offiziellen "linken" Parteien schüren eine Stimmung der gedankenlosen Euphorie und Selbstzufriedenheit, die die Studenten und Arbeiter unvorbereitet der nächsten Angriffswelle aussetzt.

Nachdem die Regierung den Rückzug des CPE angekündigt hatte, versammelten sich Gewerkschaften und Studentenverbände im Hauptquartier der Gewerkschaft CGT (Confédération Générale du Travail). Die Versammlung war als Pressekonferenz angekündigt, aber CGT-Führer Bernard Thibault sagte, er habe die Studenten und Arbeiterorganisationen zu einer Siegesfeier eingeladen, und offerierte der ganzen Runde Champagner.

Die Gewerkschaften und die offiziellen "linken" Parteien hatten von Anfang zu verhindern versucht, dass sich die Massenbewegung zu einer offenen Konfrontation mit der Regierung und ihrem rechten Programm entwickelt. Nun feierten sie einen "Sieg", und dies obwohl die Regierung weiterhin an Maßnahmen festhält, die die Arbeitsbedingungen untergraben und die Arbeitsplatzsicherheit verschlechtern.

Eine dieser Maßnahmen, der Neue Beschäftigungsvertrag (CNE), erlaubt es kleinen Unternehmern, Arbeiter jeden Alters ohne Begründung in den ersten zwei Beschäftigungsjahren zu entlassen. Das "Gesetz zur Chancengleichheit" umfasst neben dem CPE ein ganzes Bündel weiterer Maßnahmen, die bestehen bleiben, wie die Herabsetzung des Mindestarbeitsalters und die Möglichkeit, Fünfzehnjährige in Nachtarbeit zu beschäftigen.

Studentenführer, die zum Teil enge Beziehungen zur Sozialistischen Partei haben, traten nach dem Rückzug der Regierung für eine Demobilisierung ein. Am Montag rief Julie Coudry von der Studentengewerkschaft Confédération Étudiante dazu auf, die Streiks und Blockaden der Studenten zu beenden. Bruno Julliard, Vorsitzender des größten Studentenverbands UNEF (Union Nationale des étudiants de France), trat dafür ein, dass alle weiteren Demonstrationen die möglichst schnelle Umsetzung der Neuregelung fordern solle, die den CPE ablöst.

Laut offiziellen Zahlen des Erziehungsministeriums war der Betrieb am Dienstag an 27 von 62 Universitäten, die keine Ferien haben, nach wie vor "gestört". Fünf waren ganz geschlossen oder besetzt. Die Studenten standen unter starkem Druck von Seiten der Regierung, der Polizei, der Universitätsleitungen und der Führung der Studentenverbände, die Blockaden rechtzeitig zu den Examen am Semesterende aufzuheben. Diese Frage hat die Studenten vieler Universitäten gespalten.

An der Universität Rennes, die seit Beginn der Anti-CPE-Bewegung im Februar geschlossen war, hielten sich bei einer Abstimmung durch Handaufheben am Montagabend die Stimmen die Waage. Erst die Einzelauszählung ergab ein knappes Ergebnis für ein Ende der Blockade.

Die Haltung der Studentenverbände steht im Gegensatz zur Haltung der Nationalen Studenten-Koordination. Dieses Gremium, dessen Mitglieder an den Mittelschulen und Universitäten gewählt werden, traf sich am Wochenende vor dem Rückzug des CPE. Am Sonntag veröffentlichte es eine Erklärung, die "jedes Manöver der Regierung zurückweist, das den CPE durch eine Neuauflage ersetzt, die weiterhin den Stempel der Arbeitsplatzunsicherheit trägt". Die Erklärung fordert die vollständige Rücknahme des CPE, des CNE und des Chancengleichheitsgesetzes, wie auch der neuen Vorstöße der Regierung zur Einschränkung der Rechte von Immigranten und Asylbewerbern.

Die Nationale Studenten-Koordination rief "die Gewerkschaften und Studentenorganisationen auf, alle Verhandlungen [mit der Regierung] sofort abzubrechen und unverzüglich regionale Demonstrationen und einen Generalstreik auszurufen, bis unsere Forderungen erfüllt sind". Sie ermutigte "Arbeiter und ihre Organisationen", ihre eigenen Delegierten zu wählen, um ein "Gemeinsames Nationales Koordinationskomitee" von Arbeitern und Studenten zu bilden.

Am Montagabend sprach Jasmina Vasseur, Schülerin aus Rennes und Mitglied der Nationalen Studenten-Koordination, mit der World Socialist Web Site über die Haltung der Gewerkschaften und Studentenverbände: "Ich bin enttäuscht", sagte sie. "Die Tatsache, dass sie Champagner trinken, bedeutet, dass sie nicht die gleichen Ziele vertreten wie wir. Sie haben uns nur zum Schein unterstützt."

Sie war besonders erbittert über die UNEF: "Ihre Mitglieder waren auch in der Koordination. Wir haben abgestimmt, dass es keine Verhandlungen geben darf, bis der CPE zurückgezogen und andere Forderungen erfüllt sind, und trotzdem sind sie zu den Treffen mit der Regierung gegangen."

Auf der Demonstration am Dienstag in Paris sprachen WSWS -Reporter mit mehreren Studenten, die sich entschlossen zeigten, den Kampf gegen die Regierung fortzusetzen.

"Wir stehen erst am Anfang", sagte Jasmina Mraizika, eine Sprachstudentin an der Sorbonne. "Wir wissen noch nicht, was in dem neuen Gesetz steht. Außerdem wollen wir die Bewegung ausweiten und gegen das ganze Chancengleichheitsgesetz sowie gegen den CNE richten. Unsere Bewegung tritt für eine andere Welt ein - sie richtet sich gegen eine Entwicklung, die das Leben der Menschen immer unsicherer macht. Was die Fortsetzung des Kampfs angeht, müssen wir zuversichtlich sein. Aber es stimmt, einige ziehen sich zurück."

Julien Lucy, Philosophiestudent an der Sorbonne, wandte sich gegen den von den Gewerkschaften und der Regierung ausgearbeiteten Kuhhandel. "Die Gewerkschaften haben kein Interesse, dass die Bewegung weiter geht. Sie haben die Bewegung mit politischen Manövern ins Leere laufen lassen", sagte er der WSWS. "Die Gewerkschaften wollen keinen Kampf gegen die Regierung führen, und das nützt die Regierung aus."

Neben den Demonstrationen gab es am Dienstag noch eine ganze Reihe weiterer Protestaktionen. Ungefähr einhundert Studenten besetzten eine Mautstation außerhalb von Bordeaux und ließen die Autos ohne Bezahlung durch. In der Nähe von Dünkirchen blockierten Jugendliche die Eisenbahnschienen und stoppten den Hochgeschwindigkeitszug TGV; dann organisierten sie Versammlungen mit den aufgehaltenen Passagieren und erklärten ihnen, warum sie ihre Proteste gegen die Regierung fortsetzten. Studenten besetzten kurzfristig auch die Landebahn des Atlantikflughafens von Nantes, bevor sie vertrieben wurden.

Die Gewerkschaften haben derweil ihre Absicht verdeutlicht, die Zusammenarbeit mit der Regierung und mit Wirtschaftsvertretern zu vertiefen. Gewerkschaftsführer stimmten gestern einem Vorschlag des Unternehmerverbandes Medef zu einem separaten Treffen der "Sozialpartner" zu, um "die Lehren aus der CPE-Krise zu ziehen" und eine Tagesordnung für gemeinsame Gespräche über zukünftige "Marktreformen" zu entwickeln.

Die Rücknahme des CPE hat die Entschlossenheit der französischen und europäischen Elite nicht vermindert, die sozialen Errungenschaften der Arbeiterklasse aus der Nachkriegszeit zu beseitigen und Arbeitsverhältnisse wie in den USA herzustellen. Jean-Claude Trichet, der Präsident der Europäischen Zentralbank und ehemalige Gouverneur der Französischen Nationalbank, sprach für die internationale Bourgeoisie, als er sagte: "Frankreich und andere in Europa setzen die Reformen zu langsam um, und zu langsame Reformen haben einen Preis. In der heutigen Welt ist der Preis sehr hoch."

Die Diskussion in der französischen Presse drehte sich am Dienstag um die Frage, wie die Unterstützung der Gewerkschaften für weitere "Reformschritte" gewonnen werden könne. "Was die Frage der Methode betrifft, so wissen wir jetzt, dass Reformen (wirkliche) nicht gelingen, wenn man alleine in den Kampf zieht", kommentierte die führende rechte Tageszeitung Le Figaro. "Was das Ausmaß der Reformen angeht, so können kleine Fragen, die schlecht gemanagt werden, große Schocks auslösen; das heißt, man sollte eine Vielzahl von Teilreformen vermeiden."

In einem Interview mit Le Figaro betonte Innenminister Nicolas Sarkozy, dass er "keineswegs das Ziel eines ‚Bruchs’ [mit dem bestehenden Sozialmodell Frankreichs] aufgegeben" habe. Sarkozy ist als Spitzenanwärter für die Präsidentschaftskandidatur der regierenden UMP aus der CPE-Krise hervorgegangen. Er hat Villepin wegen seiner Brüskierung der Gewerkschaften kritisiert und seine Absicht erklärt, die liberalen "Reformen" in Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften durchzuführen.

Siehe auch:
Frankreich: Millionen protestieren gegen Erstarbeitsvertrag - Gewerkschaften signalisieren Rückzug
(8. April 2006)
Der Kampf gegen den Erstarbeitsvertrag und die Notwendigkeit einer neuen Führung der Arbeiterklasse
( 29. März 2006)
Olivier Besancenot und LCR: Hilfstruppen der Bürokratie
( 1. April 2006)
Lutte Ouvrière deckt den Verrat der Gewerkschaften
( 11. April 2006)
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