Wissenschaft, Religion und Gesellschaft: The God Delusion von Richard Dawkins

The God Delusion (Deutsch etwa: Der Gotteswahn) von Richard Dawkins, Houghton Mifflin 2006, 416 S. Das Buch wird voraussichtlich im Herbst 2007 bei Ullstein in deutscher Sprache erscheinen.

Das neue Buch von Richard Dawkins, The God Delusion, ist ein Lichtblick. Es geschieht nicht alle Tage, dass ein weltbekannter Biologe ein Buch zur Verteidigung des Atheismus schreibt. Dawkins hat uns damit einen großen Gefallen getan, und sei es nur, weil er verständlich darlegt, warum Religion und Wissenschaft in unversöhnlichem Gegensatz zueinander stehen und dass dabei die Wissenschaft die Oberhand behalten muss.

The God Delusion war schnell ein Bestseller und wurde selbst vom amerikanischen Publikum, das als besonders religiös gilt, begeistert aufgenommen. Dawkins Buch steht seit 24 Wochen auf der Liste der fünfzehn besten Nonfiction-Werke der New York Times. Eine Lesetour durch die Vereinigten Staaten wurde für Dawkins vergangenes Jahr zum großen Erfolg, und selbst ein Bundesstaat wie Kansas, der eher für religiösen Fundamentalismus bekannt ist, brachte ihm große Aufmerksamkeit entgegen.

Die große Resonanz auf Dawkins Buch gilt sicherlich zum Teil dem Autor selbst, dessen Bücher, zum Beispiel The Selfish Gene (Das egoistische Gen), als Standardwerke der Evolutionsbiologie gelten. Unabhängig davon, ob man mit allem übereinstimmt, was er über die Evolutionstheorie zu sagen hat, ist Dawkins jedenfalls ein begnadeter Autor, der die Fähigkeit hat, komplizierte Sachverhalte einfach und leicht verständlich zu erklären.

Das ist aber nicht alles. Hinzu kommt ein regelrechter Hunger nach alternativen Perspektiven, nach Ansichten, die scheinbar allgemein anerkannte Positionen hinterfragen. Offenbar trifft Dawkins Buch den Nerv einer unterschwelligen Opposition, und es zeigt sich, dass jene Art von religiösem Fundamentalismus und Bigotterie, wie sie die britische, die amerikanische und andere Regierungen zunehmend vertreten, auf weit verbreitete und tief empfundene Ablehnung stoßen.

Gegen "Beschwichtigung" in Fragen der Religion

Dawkins Behandlung der Religion weist einige ernste Mängel auf, von denen weiter unten noch die Rede sein soll. Positiv jedoch ist seine Bereitschaft, es nicht nur mit der religiösen Orthodoxie in vielerlei Gestalt aufzunehmen, sondern auch mit jenen Wissenschaftlern, die versuchen, die Wissenschaft mit der Religion auszusöhnen. Dawkins bezeichnet sie scherzhaft als die "Neville Chamberlain Schule für Evolutionisten" [- nach dem britischen Appeasementpolitiker Chamberlain, der 1938 versucht hatte, dem Konflikt mit Adolf Hitler auszuweichen und ihm damit den Weg ebnete]. Diese Experten wollen die Wissenschaft vor jenen Fundamentalisten, die am liebsten die Evolutionslehre aus dem Stundenplan der öffentlichen Schulen streichen würden, dadurch schützen, dass sie sich mit nicht-fundamentalistischen religiösen Tendenzen arrangieren. Deshalb behaupten sie, Religion und Wissenschaft stünden nicht im Konflikt zueinander, sondern würden sich gegenseitig ergänzen oder wenigstens auf unterschiedlichen Fachbereichen operieren.

Der verstorbene Evolutionsbiologe Stephen J. Gould war ein Vertreter dieser Perspektive. Er stellte die Behauptung auf, Religion und Wissenschaft besetzten "nicht-überlappende Lehren", wie er es nannte. Er griff zu einer blumigen Beschreibung, um einen höchst oberflächlichen Gedanken auszudrücken: "Um alte Klischees zu bemühen," wird Gould von Dawkins zitiert, "bestimmt die Wissenschaft das Alter von Felsen, und die Religion den ‚Felsen der Zeitalter’ [ science gets the age of rocks, and religion the rock of ages ]; die Wissenschaft studiert die Bewegung des Himmels, und die Religion, wie man in den Himmel kommt." Dawkins gibt die passende Antwort darauf: "Das hört sich wunderbar an - solange man nicht darüber nachdenkt."

Eine Kernaussage von Dawkins lautet: "Die An- oder Abwesenheit einer erschaffenden Superintelligenz ist eine eindeutig wissenschaftliche Frage, auch wenn sie in der Praxis nicht - oder noch nicht - nachgewiesen ist. So ist es auch mit der Echtheit oder Falschheit jener Wundergeschichten, auf die sich die Religionen stützen, um ihre zahlreichen Gläubigen zu beeindrucken." Mit anderen Worten, wenn Gott existiert und mehr ist als ein nebulöses Konzept, dann muss er/sie/es irgendwelche Auswirkungen auf diese Welt haben. Das glauben sicherlich die meisten religiös eingestellten Menschen, und sie gehen davon aus, dass Gott in die Welt eingreift, Wunder vollbringt, Gebete erhört, und so weiter. Dawkins erwähnt ein Experiment, bei dem sich herausstellte, dass Patienten, für die gebetet wurde, in Wirklichkeit keine Spur schneller gesund wurden als Patienten, für die nicht gebetet wurde. Das hört sich natürlich nach einem ziemlich dummen Experiment an (es wurde von Anhängern der Religion durchgeführt), aber es erhellt einen zentralen Punkt: Wenn es religiöse Phänomene gäbe, so könnte man sie wissenschaftlich überprüfen.

Obwohl diese Feststellung wichtig ist, fehlt in Dawkins Darstellung von Wissenschaft und Religion etwas. Er behandelt die "Gott-Hypothese" auf der Ebene jener exemplarischen Annahme, dass sich ein Teekessel im Orbit um den Planeten Mars befinde. Er zitiert dabei jene berühmte Behauptung von Bertrand Russel, der darauf hinwies, dass auch dann, wenn er praktisch nicht wusste, dass ein solcher Teekessel nicht existiere, er keineswegs verpflichtet sei, deshalb eine agnostische Position einzunehmen. Die Rechtfertigung für seinen Atheismus lautete letzten Endes, es sei sehr wahrscheinlich, dass Gott nicht existiere, genauso wie es sehr wahrscheinlich sei, dass kein Teekessel den Mars umrunde. Dawkins sagt nun analog, die Überlegenheit der Beweise zeige, dass Gott eben nicht existiere. Dieser "Atheismus zu 99 Prozent" öffnet jedoch, fühlt man ihm auf den Zahn, dem Skeptizismus Tür und Tor.

Die Gott-Hypothese ist in Wirklichkeit etwas ganz anderes als die Hypothese mit dem Teekessel. Sie ist eigentlich nicht einmal eine Hypothese, weil sie im Kern die Behauptung enthält, dass der Prozess der wissenschaftlichen Erkenntnis - einschließlich der Überprüfung von Hypothesen - nicht zu einer Wahrheit (oder zumindest nicht zur vollständigen Wahrheit) führen könne. Religion postuliert den Glauben, dass eine Wahrheit außerhalb der Möglichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis existiere. Deshalb ist die Aussage, für religiösen Glauben gebe es keine wissenschaftliche Rechtfertigung, vom Standpunkt des religiösen Individuums unerheblich. Die Frage: "Aber was sind deine wissenschaftlichen Gründe, nicht an die Wissenschaft zu glauben?" - führt zu nichts.

Der Konflikt zwischen Wissenschaft und Religion liegt tiefer, als es Dawkins Empirismus annimmt. Die Basis einer atheistischen Position besteht nicht darin, dass Gott eine unwahrscheinliche Hypothese sei (obwohl diese Hypothese, würde man sie als wissenschaftliche Hypothese annehmen, die unwahrscheinlichste Hypothese wäre, auf die man kommen könnte), sondern dass der Atheismus einer materialistischen Weltsicht entspringt, das heißt, einer philosophischen Position, die davon ausgeht, dass alles, was existiert, aus Materie besteht, die sich gesetzmäßig entwickelt und die unterschiedlichsten Formen annimmt. Da die Materie Gesetzen unterliegt, ist sie wissenschaftlicher Untersuchung zugänglich, und die Wissenschaft geht von der Annahme aus, dass jeder Gegenstand ihrer Untersuchung kausalen Beziehungen folgt. Dieses ist im Grunde genommen der zentrale Konflikt zwischen Religion und Wissenschaft, und es ist auch der Konflikt zwischen Materialismus und Idealismus, zwischen Rationalität und Irrationalität.

Der Beweis für die materialistische Weltanschauung liegt in der gesamten geschichtlichen Erfahrung der Menschheit in ihrer Wechselwirkung mit der Natur, besonders in der außergewöhnlichen Entwicklung wissenschaftlicher Erkenntnis im Verlauf der letzten paar hundert Jahre. Diese historische Praxis ist der Beweis für den Materialismus, denn in dieser Praxis hat die Menschheit nicht nur Hypothesen formuliert, sondern diese Hypothesen in der Veränderung der materiellen Welt realisiert.

Unter den Verfechtern der These, dass zwar an den Schulen Evolutionstheorie unterrichtet werden müsse, dass aber Wissenschaft und Religion kompatibel seien, (deren bekanntester Vertreter wohl Eugenie Scott, Direktor des National Center for Science Education ist), ist es Mode geworden, zwischen einem "Methodologischen Naturalismus" und einem "Metaphysischen Naturalismus" zu unterscheiden. Diese Denker gehen in der Wissenschaft vom "Methodologischem Naturalismus" aus, d.h. von der Annahme, dass bei wissenschaftlichen Experimenten außerhalb der materiellen Welt von Ursache und Wirkung nichts existiert. Das unterscheidet sich jedoch von der Annahme, dass es grundsätzlich außerhalb der materiellen Welt von Ursache und Wirkung nichts gibt.

Obwohl die Leute, die dieses Argument anführen, wissenschaftliche Bildung gerne verteidigen möchten, unterhöhlt es in Wirklichkeit vollkommen das Fundament der Wissenschaft, da es jede feste Verbindung zwischen wissenschaftlicher Untersuchung und Realität abschafft. Es mag einen Gott geben - oder irgendein höheres Wesen -, aber die Wissenschaft kann diese unterschwellige Wahrheit niemals ganz entdecken (was Kant noumena nennen würde), denn Wissenschaft beruht auf der Voraussetzung kausaler Zusammenhänge und natürlicher Prozesse, was wahrscheinlich dem Menschen erlauben wird, irgend wann einmal das Universum ganz zu verstehen - oder auch nicht.

Die Fähigkeit der Wissenschaft, die materielle Welt richtig einzuschätzen und zu verändern, beweist jedoch, dass es nicht nur eine nützliche Methode ist, sondern das Mittel, die reale Welt wirklich zu verstehen. Durch ein strenges System von Beobachtung, vernünftigen Schlüssen, Hypothesen und Experimenten erlaubt uns die Wissenschaft, uns der Wahrheit anzunähern, zu erkennen, wie die Welt " an und für sich ist". Sie ist ein systematisches Mittel, um die Wahrheit unserer Konzepte durch praktische Wechselwirkung mit der Welt auf ihre Richtigkeit zu überprüfen. Durch ihre Vernunft unterscheidet sich die Wissenschaft von der Religion, die auf die eine oder andere Weise auf dem Irrationalem, dem Übernatürlichen, dem "Glauben" beruht.

Religiöser Glaube und Geschichte der Gesellschaft

Nicht eins dieser philosophischen Probleme wird von Dawkins ernsthaft behandelt, und so bleibt seine Verteidigung des Atheismus, obwohl wichtig, letzten Endes oberflächlich und nicht überzeugend. Er widmet einen Großteil seines Buchs der Diskussion der unzähligen Gottes-"Beweise" (dem kosmologischen Argument, dem Argument des intelligenten Designs, etc.), zu denen Dawkins nichts Neues beiträgt, und die schon hundertmal entlarvt worden sind. Die meisten dieser Beweise (so wie die Feststellung, wenn jede Wirkung eine Ursache habe, führe dies letztlich zu einer ersten Wirkung ohne Ursache zurück, nämlich zu Gott) sind für jene, die ohnehin nicht an Gott glauben, sowieso nicht überzeugend, während ihre Entlarvung nicht unbedingt jene überzeugt, die an Gott glauben.

Bei dem oft angeführten Argument des "Intelligenten Designs" betont Dawkins, darauf habe schon Darwin mit seiner Evolutionstheorie geantwortet. Denn diese erklärt ja bereits, wie sich die offensichtlich mit Intelligenz ausgestatteten, komplexen Organismen im Verlauf des langwierigen natürlichen Ausleseprozesses herausgebildet haben.

Die Diskussion um Ursprung und Überlieferung von religiösem Glauben erfordert aber weit mehr als eine Übersicht über die verschiedenen Beweise für die Existenz Gottes. Ein Wissenschaftler muss auch untersuchen, warum diese Glaubensformen entstanden sind und warum sie überliefert wurden. Hier betritt Dawkins fremdes Terrain, und er kommt regelmäßig ins Stolpern, eben weil er praktisch nicht untersucht, welche Rolle die sozialen Beziehungen für die Entstehung und Verbreitung von religiösem Glauben gespielt haben.

Um einen materialistischen, wissenschaftlichen Zugang zu Religion zu schaffen, muss man zuallererst erkennen, dass Religion ganz und gar ein Produkt der Gesellschaft ist. Kultur ist ein soziales, kein individuelles Phänomen. Im Verlauf seiner Entwicklung nimmt das Individuum in der einen oder anderen Weise Ideen aus seinem allgemeinen sozialen Umfeld auf. Deswegen muss eine materialistische Erklärung der Religion in einer materialistischen Herangehensweise an die Gesellschaft wurzeln. Wie allerdings bei vielen anderen Wissenschaftlern, verfolgt auch Dawkins seinen Materialismus nicht bis in die Geschichte der Gesellschaft und der Kultur hinein. So nimmt er am Ende Zuflucht zu verschiedenen idealistischen Erklärungen für religiösen Glauben.

Der historische Materialismus - und das ist der Marxismus - sieht Ideologie, darunter auch Religion, als im Produktionsprozess verwurzelt und somit als Teil der sozialen Beziehungen an, welche Menschen eingehen, um produzieren zu können. So schrieb Marx in seinem berühmten Vorwort Zur Kritik der politischen Ökonomie : "Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt."

Zum einen wird durch die herrschenden Klassen Religion in verschiedenen Stufen der geschichtlichen Entwicklung als Mittel zur Rechtfertigung ihrer jeweils besonderen sozialen Ordnung aufrechterhalten. Beispielsweise war die katholische Kirche im europäischen Mittelalter die wichtigste ideologische Stütze des Feudalismus und gehörte, nebenbei erwähnt, selbst zu den größten Landbesitzern. Mit Hilfe der Kirche konnte die herrschende Klasse durch ihre Kontrolle über die Produktivkräfte Religion durch unzählige Kanäle in der Bevölkerung verankern. Um die zahlreichen Hierarchien zusätzlich zu rechtfertigen, erzählte die Religion den Armen und Ausgebeuteten, die Erlösung liege nicht in dieser, sondern in der nächsten Welt.

Zum anderen wirkt die Religion ständig als "Opium", das heißt, sie gibt den Armen und Ausgebeuteten die beruhigende Gewissheit, dass es in einer anderen Welt Erlösung und ein besseres Leben geben werde. Aus diesem Grund kann religiöse Ideologie großen Einfluss auf weite Teile der Bevölkerung gewinnen. Religion, so schrieb Marx in seinem Buch Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie, ist "der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volkes"(mlwerke.de/me/me01/me01_378.htm).

Selbstverständlich ist die Geschichte der Religion, wie die jeder anderen Ideologie, komplex. Religiöse Ideologien nehmen eine fast unabhängige Existenz an und entwickeln ihre eigene innere Logik. Die Evolution der Religionen folgt ihrer eigenen Entwicklung. So wie die Menschen durch den Prozess der wissenschaftlichen Aufklärung in die Lage kommen, die natürliche Welt zu verstehen, so tendiert das Gotteskonzept dazu, abstrakter zu werden und sich von den konkreten und tagtäglichen Erscheinungen zu lösen. Obwohl nicht auf ganz gradlinige Weise, tendiert Religion dazu, Gebiete menschlicher Erfahrung zu besetzen, die erst noch mit wissenschaftlichem Verständnis durchdrungen werden müssen. Im Allgemeinen jedoch hängen der Vormarsch der Wissenschaft und der Rückzug der Religion vom sozialen Fortschritt ab.

Eine solche Herangehensweise führt dazu, jede Diskussion über Religion auf den sozialen Hintergrund zurückzuführen, der für ihr Verständnis notwendig ist. Dawkins verwirft eine solche Perspektive vollkommen. "Die Darwinisten sind durch politische Erklärungen, etwa von der Art: ´Religion ist ein Werkzeug der herrschenden Klasse, um die Unterklassen zu unterdrücken´, nicht zufrieden zu stellen", schreibt er. "Es ist sicherlich wahr, dass schwarze Sklaven in Amerika mit dem Versprechen auf ein anderes Leben vertröstet wurden, was ihrer Unzufriedenheit mit diesem [Leben] die Spitze nahm und dadurch ihren Besitzern nützte. Die Frage, ob Religion mit Absicht von zynischen Priestern oder Herrschern geschaffen wurde, ist recht interessant, und Historiker sollten sich damit befassen. Es ist jedoch keine wesentlich darwinistische Frage. Die Darwinisten wollen immer noch wissen, warum die Leute für den Charme der Religion anfällig sind und so von Priestern, Politikern und Königen ausgebeutet werden können."

Das Argument ist berechtigt, wenn es um die historischen Ursprünge des religiösen Glaubens in der Evolution des Menschen geht (wenn auch das Gerede von "zynischen Priestern und Herrschern" eine mechanische und einseitige Darstellung der marxistischen Ideologiekritik ist, die Dawkins hier anführt, ohne das Kind beim Namen zu nennen). Hält man sich vor Augen, wie sich religiöser Glaube der unterschiedlichsten Art bei unzähligen Gelegenheiten in jeder Gesellschaft Bahn brach, so ist die Frage sicherlich legitim, ob die Menschheit biologisch für religiöse Konzepte prädestiniert sein könnte. Dies auch dann, wenn man davon ausgeht, dass die weitere Entwicklung des Menschen durch soziale Komponenten bestimmt wurde. Andere Ideologien könnten denselben sozialen Zweck genauso gut erfüllen wie die Religion, und man könnte die Frage stellen, warum sich gerade die Religion immer durchsetzt. Dawkins geht gern auf die Frage ein, was in unserem evolutionären Erbe religiöse Erklärungen so besonders attraktiv macht. Wir werden später auf die Grenzen dieser Herangehensweise zurückkommen. Vorerst aber wollen wir näher auf die Ansicht eingehen, die Dawkins selbst dazu vertritt.

Dawkins stellt in seiner Antwort fest, dass eine evolutionäre Erklärung religiösen Glaubens nicht notwendigerweise einen evolutionären Vorteil der Religion annehmen muss. "Ich gehöre zu einer wachsenden Zahl von Biologen, die die Religion als ein Nebenprodukt von etwas anderem ansieht", schreibt er. "Allgemein gesprochen, bin ich der Meinung, dass wenn wir über die darwinistischen Überlebenswerte spekulieren, wir in `Nebenprodukten´ denken müssen. Wenn wir nach dem Nutzen für das Überleben fragen, so stellen wir vielleicht die falsche Frage."

Dawkins Vorschlag für eine evolutionäre Basis von Religion ist nicht besonders tief. Demnach hätten wir uns entwickelt, indem wir glaubten, was die Alten uns erzählten. Das sei nützlich, so Dawkins, weil allgemein die Älteren Recht haben, und wer glaubt, was man ihm erzählt, könne aus der gesammelten Erfahrung der Alten Nutzen ziehen. Es kann sein, dass das stimmt, doch lässt es die Frage offen, warum denn gerade die Religion, und nicht etwas anderes, von den Alten auf die Jungen überging. Die Tatsache, dass Dawkins diesen offensichtlichen Einwand gegen seine Theorie nicht voraussah, zeigt, dass er diese Frage nicht gründlich durchdacht hat.

Viel versprechender ist die Theorie von Daniel Dennett, Religion sei eine fälschlicherweise untergeschobene Absicht. Menschen entwickelten sich, indem sie gewisse Vorgänge, besonders wenn sie sie nicht verständen, als Aktionen bewusster Handlungsträger interpretierten. Dies erwies sich da als nützlich, wo die frühen Menschen es tatsächlich mit zielgerichteter Absicht zu tun hatten, denn es erlaubte ihnen, das Verhalten von Tieren wie auch das ihrer Mitmenschen besser einzuschätzen (eine besonders nützliche Eigenschaft, sobald sich soziale Beziehungen herausbildeten). Religion ist die Annahme von zielgerichtetem Handeln in der natürlichen Welt: Es ist ein Gott, der den Regen fallen und die Flüsse über die Ufer treten lässt; es ist ein Gott, der Leben und Tod verursacht, etc.

All die verschiedenen Vorschläge sind zwar interessant, aber nicht besonders hilfreich, wenn sie nicht durch wissenschaftliche Beweise, z.B. aus der Archäologie, untermauert werden. Bis jetzt haben Dennett wie auch Dawkins diese Fragen der Evolutionsbiologie größtenteils vom grünen Tisch aus erörtert.

Grundsätzlich tragen Theorien, wie sie von Dawkins und Dennett aufgestellt wurden, nichts zu einem besseren Verständnis der Religionsgeschichte bei, obwohl gerade sie entscheidend für das Verständnis ist, wie und warum sich Religion bis heute behauptet. Wenn wir annehmen, Religion sei dadurch entstanden, dass der unbewussten Natur zielgerichtetes Handeln unterstellt wurde, oder dass Kinder glaubten, was ihnen die Alten sagten, haben wir weder eine Erklärung dafür, warum das auch heute noch so ist, obwohl die Wissenschaft uns doch zeigt, dass solche Absichten nur unterstellt sind, noch können wir erklären, warum man Kinder immer noch mit der Existenz eingebildeter Wesen indoktriniert. Ebenso wenig erklärt es, warum sich Religion in all den Jahren so und nicht anders entwickelt hat.

Um diese Frage in den Griff zu bekommen, greift Dawkins (und auch Dennett) auf die Theorie des "Mem" zurück. Das "Mem" ist in der Kultur ein angebliches Analogon zum Gen in der Biologie. Ein Mem bedeutet eine "Einheit kultureller Überlieferung", wobei bestimmte Meme stärker als andere dazu tendieren, sich auszubreiten, etc. Eine ausführliche Kritik findet sich in James Brookfields Besprechung von Dennetts Buch, Breaking the Spell: Religion as a natural phenomena. Hier reicht es, darauf hinzuweisen, dass die Befürworter der Mem-Theorie, indem sie die Ursache für die Verbreitung einer Ideologie in die Idee selbst verlegen (statt in die Gesellschaft, aus der die Idee entstanden ist und in der sie sich verbreitet), in eine idealistische Geschichtsinterpretation verfallen und die größten Schwierigkeiten haben, zu erklären, wie sich Ideologien entwickeln.

Dawkins gibt zu, dass er Probleme hat, die kulturelle Evolution zu erklären, wenn er über den "moralischen Zeitgeist" schreibt, der, wie er sich ausdrückt, ein "mysteriöser Konsens ist, welcher sich über Jahrzehnte hinweg verändert", und der für Veränderungen der moralischen und religiösen Konzepte verantwortlich sei. Er hat keine echte Erklärung für die Veränderungen in diesem "moralischen Zeitgeist", doch, so schreibt Dawkins: "Es ist nicht meine Aufgabe, das zu beantworten."

Wenn es nur darum ginge, einen logischen Beweis für die Nichtexistenz Gottes zu geben oder Theorien aufzustellen, warum Religion in der frühen Entwicklung der menschlichen Gesellschaft entstand, so könnten wir diese Aussage akzeptieren. Aber in Wirklichkeit hat Dawkins größere Ziele. Er will aktuelle soziale und politische Positionen ins Wanken bringen, und in Ermangelung einer tragfähigen Basis zur Erklärung, warum Religion immer noch besteht, gerät er ins Schleudern. Dabei führt ihn sein Weg oftmals zu äußerst reaktionären Schlussfolgerungen.

Religion und Politik

Das Problem, mit dem sich Dawkins und auch andere konfrontiert sehen, wenn sie Veränderungen in der Religion und in der Ideologie erläutern wollen, liegt daran, dass sie die marxistische Theorie ausdrücklich zurückweisen. Dawkins bezieht sich auf Marx nur einmal im Vorübergehen, während er sich mit der Klassentheorie nur in dem oben zitierten Absatz beschäftigt. Für Dawkins hat Religion keinerlei soziale oder politische Dimension. Er behandelt sie rein als Idee, die keinerlei echte Verbindungen zu den materiellen Bedingungen des Lebens hat.

Er schreibt, um ein Beispiel zu nennen: "Die afghanischen Taliban und die amerikanischen Taliban [damit meint er christliche Fundamentalisten in den Vereinigten Staaten] sind gute Beispiele dafür, was geschieht, wenn Leute ihre Schriften wortwörtlich und ernst nehmen." Mit Sicherheit spielen die religiösen Schriften eine Rolle, doch sind die afghanischen Taliban wie die "amerikanischen Taliban" die Produkte tiefgehender sozialer Beziehungen in ihren jeweiligen Gesellschaften. Im Grunde führen die Unterschiede zwischen diesen Gesellschaften zu recht unterschiedlichen Wesenszügen in ihrer jeweiligen Ideologie.

Diese Herangehensweise an die Religion hat konkrete politische Konsequenzen. Am Anfang des Buches diskutiert Dawkins den Fall der islamfeindlichen Karikaturen, die in der dänischen Zeitung Jylland Posten veröffentlicht wurden. Diese riefen im Februar 2006 scharfe Proteste hervor. Auf der ganzen Welt verleumdeten Presse und Regierungen diese Proteste als Angriff auf die Redefreiheit und verteidigten jene, die sich entschieden, diese bigotten Zeichnungen als Ausdruck der Meinungsfreiheit zu veröffentlichen.

Dawkins akzeptiert diese Darstellung der Ereignisse vollständig. Man braucht kein Unterstützer des islamischen Fundamentalismus zu sein, um zu erkennen, dass es dabei nicht um die Verteidigung der Meinungsfreiheit einer dänischen Zeitung ging, sondern um eine kalkulierte Provokation, um in Europa und weltweit anti-islamische Stimmungen anzustacheln. Die Proteste dagegen spiegelten eine Empörung wider, die über Religion weit hinausging. Sie drückten die unterschwellige Ablehnung der Regierungen der Vereinigten Staaten und Europas und ihrer Politik gegenüber den Ländern mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung aus.

Die Tatsache, dass Unzufriedenheit in vielen Teilen des Nahen Ostens und auch in anderen Gebieten häufig religiösen Charakter annimmt, ist vor allem ein Produkt historischer und sozialer Faktoren. Die Perspektive der säkularen bürgerlich-nationalistischen Bewegungen (die Baath-Parteien) hat vollständig versagt, säkulare sozialistische und internationale Bewegungen wurden systematisch vom Stalinismus verraten, und die Vereinigten Staaten und andere Mächte haben lange Zeit daran gearbeitet, säkulare Bewegungen aller Couleurs zu untergraben, da sie diese Bewegungen als größere Gefahr für ihre Interessen ansahen als religiöse Strömungen. Osama bin Laden und die Taliban sind beide zum Teil das Produkt der amerikanischen Intervention in Afghanistan in den 1980er Jahren, als die USA einen Stellvertreterkrieg gegen die UdSSR anzettelten, in dem extreme Islam-Fundamentalisten großzügig unterstützt wurden. Andererseits sind Bewegungen wie die Hamas- die sich grundlegend von al-Qaida unterscheiden - in den palästinensischen Gebieten attraktiv, weil sie wichtige soziale Leistungen anbieten, die es sonst nirgendwo gibt. Das gilt speziell für heute, da die Palästinensische Befreiungsorganisation PLO ständig nach rechts geht und sich dabei selbst an den amerikanischen Imperialismus anpasst.

Dawkins Blindheit gegenüber den sozialen und politischen Wurzeln von Religion leiten ihn direkt zu äußerst reaktionären Standpunkten. Er geht sogar so weit, dass er zustimmend die Meinung von Patrick Sookhdeo, dem Direktor des Institute for the Study of Islam and Christianity zitiert, der schrieb: "Könnte es sein, dass der junge Mann, der Selbstmord beging, weder zum Rand der islamischen Gesellschaft in Britannien gehörte, noch einer exzentrischen und extremen Interpretation ihres Glaubens folgte, sondern aus dem eigentlichen Zentrum der muslimischen Gemeinschaft stammte und von einer allseits akzeptierten Interpretation des Islam motiviert wurde?"

Man reibt sich unwillkürlich ungläubig die Augen, wenn man Dawkins diese Worte unkritisch wiederkäuen sieht. Das Institute for the Study of Islam and Christianity ist ein evangelikaler Verein, dessen Hauptziel in der Verbreitung von anti-islamischem Chauvinismus besteht, was auch genau der Zweck von Sookhdeos oben zitiertem Satz ist. Man mag Dawkins zugute halten, dass er möglicherweise jemanden zitiert, ohne genau zu wissen, wen er da zitiert. Doch ungeachtet dessen ist es unglücklich, dass Dawkins, ein erklärter Gegner des Kriegs gegen den Irak und ein Gegner der christlichen wie auch der islamischen Ideologie, seine Autorität solch einer widerwärtigen Perspektive leiht. Doch das sind die Konsequenzen, die man tragen muss, wenn man blind bleibt gegenüber den sozialen und politischen Problemen, die hinter den religiösen Fragen stehen. Weil Dawkins diese Fragen von einer idealistischen Perspektive aus angeht, gerät er allzu leicht zu der Schlussfolgerung, dass die islamischen Fundamentalisten einfach nur das Produkt des Islam als Religion sind, und das bringt ihn dann in die Nachbarschaft von solch ausgemachten Reaktionären wie Sookhdeo.

Es gibt eine Tendenz bei den Vertretern des Atheismus - und das zeigt sich womöglich am deutlichsten in den Arbeiten von Sam Harris, der von Dawkins bei verschiedenen Gelegenheiten wohlwollend zitiert wird -, sich eine verächtliche Haltung gegenüber der religiös beeinflussten Bevölkerung zu eigen zu machen, die immer noch einen Grossteil der weltweiten Arbeiterklasse ausmacht. Wenn die Religion einzig als ideologisches Phänomen verstanden wird, so ist es im Grunde die Bevölkerung selber, die für ihren Glauben an die Religion und für religiös motivierte Politik verantwortlich gemacht werden muss. Dies führt nicht nur in den meisten Fällen zu politisch rechts gerichteten Positionen, es macht es auch unmöglich, Wege zu zeigen, wie der Einfluss der Religion geschmälert werden kann.

Auch die Marxisten wollen den Einfluss religiöser Bewegungen schmälern, im Nahen Osten, in den Vereinigten Staaten und auf der ganzen Welt. Religion ist an und für sich unwissenschaftlich. Sie verhüllt die wahre Natur der Gesellschaft wie auch der Unterdrückung und dient nur allzu oft als ideologischer Puffer für soziale Reaktion und Militarismus.

Um dieses Ziel jedoch zu erreichen, ist es zu allererst nötig, die tatsächlichen sozialen und politischen Fundamente des religiösen Glaubens zu verstehen. Marx drückte diese Aufgabe in dem oben bereits erwähnten Band so aus: "Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glücks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glücks. Die Forderung, die Illusionen über einen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertals, dessen Heiligenschein die Religion ist...Die Kritik des Himmels verwandelt sich damit in die Kritik der Erde, die Kritik der Religion in Kritik des Rechts, die Kritik der Theologie in die Kritik der Politik. "

Anders ausgedrückt: der Kampf für ein wissenschaftliches Bewusstsein in der Masse der Bevölkerung, und damit für eine materialistische Weltanschauung, muss verbunden sein mit dem steten Versuch, den Menschen die wahre Natur der Gesellschaft und der Unterdrückung zu erklären. Es muss mit dem politischen Kampf und einer sozialistischen Bewegung verbunden sein.

Siehe auch:
Ein Briefwechsel zu "Hundert Jahre seit Albert Einsteins annus mirabilis "
(18. August 2005)
Dennett’s dangerous idea
(6. November 2006)
Loading