Wie weiter im Streik der Ärzte und Krankenpfleger in Polen?

Die wochenlangen Streiks und Proteste der Ärzte und Krankenpfleger in Polen drohen in einer Niederlage zu enden. Nachdem die letzte hungerstreikende Schwester ins Krankenhaus eingeliefert werden musste, ohne dass die Regierung auf die Forderungen der Beschäftigten ernsthaft eingegangen wäre, hat die gewerkschaftliche Leitung beschlossen, die Proteste hinter die Sommerpause zu verschieben und das Protestcamp vor dem Regierungssitz in Warschau abzureißen.

Hunderte Krankenschwestern und -pfleger hatten im Schichtwechsel vier Wochen in den Zelten ausgeharrt, um eine angemessene Bezahlung für ihre Arbeit zu fordern. Die Ärzte, die sich seit neun Wochen im Streik befinden, haben zwar angekündigt, ihre Streiks fortzusetzen, erscheinen durch die Entscheidung der Schwestern-Gewerkschaft aber zunehmend isoliert.

Das Krankenhauspersonal forderte die Verbesserung des heruntergekommenen polnischen Gesundheitssystems und eine deutliche Erhöhung ihrer Löhne. ZurZeit verdient eine Krankenschwester nach über 30 Dienstjahren nicht einmal 300 Euro im Monat. Junge Ärzte verdienen oft nur wenig mehr und kommen dann auf 340 Euro. Das sind auch in Polen Löhne, von denen man kaum leben, geschweige denn eine Familie ernähren kann. Das Durchschnittseinkommen liegt bei etwa 660 Euro. In den letzten Jahren sind bereits Tausende Mediziner und Krankenpfleger nach England, Schweden oder andere EU-Staaten ausgewandert, weil sie dort oft das Vielfache eines polnischen Lohns erhalten.

Im letzten Jahr hatte die Kaczynski-Regierung angesichts der Proteste der Arbeiter einer 30-prozentigen Lohnerhöhung im Gesundheitsbereich zugestimmt. Diese wurde aber nicht direkt an die Beschäftigten, sondern an das Management der Krankenhäuser ausgezahlt, das das Geld frei einsetzen konnte und es deshalb häufig zur Sanierung der maroden Infrastruktur oder zur Tilgung von Schulden verwendet hat. Zudem erklärten die Beschäftigten zurecht, dass die Erhöhung eines jämmerlichen Lohns um ein Drittel noch lange keine angemessene und menschenwürdige Entlohnung bedeutet.

Die Krise der Gesundheitsversorgung in Polen

Die Lage im polnischen Gesundheitsbereich ist symptomatisch für die wirtschaftliche Situation im gesamten Land, fast 20 Jahre nach der Restauration des Kapitalismus. Während sich eine schmale Elite in best ausgestatteten Privatkliniken versorgen lässt, ist die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung auf eines der schlechtesten Gesundheitssysteme Europas angewiesen. Mit knapp 4 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) wendet Polen so wenig Geld für die Gesundheitsversorgung auf, wie kein anderer Staat innerhalb der EU.

Es ist an der Tagesordnung, dass Patienten monatelang auf eine Behandlung teilweise tödlicher Krankheiten warten müssen, weil schlichtweg zu wenig Krankenhausbetten zur Verfügung stehen. Diese fatale Situation zwingt Patienten dazu, die zuständigen Ärzte mit allem zu bestechen, was ihnen zur Verfügung steht, um in den Wartelisten einige Plätze aufrücken zu können. Das Überleben vieler Patienten ist so direkt an den Inhalt ihrer Geldbörsen gebunden.

Diese erschreckende Tatsache ist das unmittelbare Produkt der rücksichtslosen kapitalistischen Transformation Polens während der letzten 20 Jahre. Bis zum Fall es Stalinismus im Jahr 1989 sicherte die Verfassung von 1952 jedem Polen das Recht auf eine umfassende und kostenlose medizinische Versorgung zu - auch wenn es für Arbeiter ohne Verbindungen zur Bürokratie zuletzt immer schwieriger wurde, dieses Recht auch uneingeschränkt wahrzunehmen.

Nach der Wiedereinführung des Kapitalismus, während der das Staatseigentum in den Besitz der neuen Eliten transferiert wurde, folgte eine Kürzung im Gesundheitswesen auf die andere. Das Land sollte für den Beitritt zur EU fit gemacht werden und musste dementsprechend auf Geheiß Brüssels nicht nur Landwirtschaft und Bergbau demontieren, sondern auch das Haushaltsdefizit senken. Die Zahl der Krankenhausbetten pro 1.000 Einwohner ist infolge der Kürzungen seit 1980 von 6,7 auf 4,6 im Jahr 2002 zurückgegangen. Allein 1991 fielen 2.500 Krankenhausbetten und beinahe 100 Kliniken und Polikliniken dem Rotstift zum Opfer.

1999 wurde die kaputt gesparte staatliche Gesundheitsversorgung dann von der konservativen Regierung der "Wahlaktion Solidarnosc" (AWS) durch regional-organisierte Pflichtversicherungen ersetzt, in die jeder Pole 7,5 Prozent seines Einkommens einzahlen musste. Die Krankenhäuser wurden nicht mehr direkt durch den Staat, sondern über Abrechnung mit den Krankenkassen finanziert. Das Resultat war eine drastische Versorgungskrise und ein weiteres Sinken der Löhne der Beschäftigten.

2001 ersetzte die nunmehr poststalinistische Regierung der SLD die regionalen Kassen wiederum durch den Nationalen Gesundheitsfonds (NFZ), der im Prinzip ähnlich funktioniert und die Krise nur verschärfte. Die Krankenhäuser werden im Grunde wie Privatunternehmen behandelt und müssen mit der Regierung eine bestimmte Menge Behandlungen aushandeln, die sie bezahlt bekommen und den Patienten dann kostenfrei anbieten müssen. Wie sie die kargen Finanzmittel einsetzen, bleibt ihnen überlassen. Dies war ein wichtiger Schritt hin zur Privatisierung des Gesundheitssystems. Gleichzeitig boomen die privaten Kliniken. Der Sprecher von Medicover, einem privaten Anbieter medizinischer Versorgung, Bartosz Maciejewski, erklärte etwa, dass seine Firma bereits 280.000 Kunden habe und die Zahl weiter steige.

Die massiven Proteste der Ärzte und Krankenpfleger drücken nicht nur deren Missmut über die menschenunwürdige Bezahlung, sondern über die ganze Entwicklung im Gesundheitssystem aus. Menschen, die sich zumeist dem Lindern von Leid verschrieben haben, mussten in den letzten Jahren mit ansehen, wie ihnen diese Arbeit immer weiter erschwert wurde.

Das ist auch der Grund, weshalb es eine breite Solidarität innerhalb der Bevölkerung mit dem medizinischen Personal gibt. Laut einer Umfrage unterstützen 75 Prozent der Bevölkerung die Forderungen der Ärzte und Krankenpfleger. Schwestern im Protestcamp der Streikenden berichteten von zahllosen wildfremden Menschen, die ihnen Getränke und Lebensmittel an die Zelte gebracht hätten. Als die Polizei gewaltsam gegen protestierende Krankenschwestern vorging ist, solidarisierten sich spontan Tausende Berg- und Bahnarbeiter und fuhren nach Warschau, um die Schwestern vor der Polizeibrutalität zu schützen.

Bergleute, Lehrer und Bahnarbeiter, die selbst dabei sind, Streiks vorzubereiten, sind im Krankheitsfall selbst mit der katastrophalen Gesundheitsversorgung konfrontiert und spüren die Folgen der kapitalistischen Restauration täglich am eigenen Leib. All diese Berufsgruppen waren massivem Lohnverlust und Massenentlassungen ausgesetzt und treiben jetzt auf eine Konfrontation mit der Kaczynski-Regierung zu.

Die Reaktion der Regierung

Die Regierung Kaczynski ist sich über die Bedeutung der Proteste als Ausdruck des fundamentalen Widerspruchs der Bedürfnisse der Arbeiter mit der Logik des Kapitalismus sehr bewusst. Nachdem sie die Arbeiter vor einem Jahr noch mit der dreißigprozentigen Lohnerhöhung zu beschwichtigen versuchte, geht sie nun in die Offensive.

Sie erklärte, die Forderungen der Ärzte würden 2,7 Milliarden Euro kosten und damit allein schon das zugelassene Budgetdefizit überschreiten, das Polen einhalten müsse, um in die Euro-Zone aufgenommen werden zu können. Premierminister Kaczynski sagte, dass ein Nachgeben der Regierung "das Vertrauen der anderen EU-Staaten in das Land massiv untergraben würde".

Diese Aussage ist an Zynismus kaum zu übertreffen. Wenn es um ihre eigenen Interessen geht, spielen die Gebrüder Kaczynski die nationalistische, antieuropäische Karte aus. Wenn es aber um die Löhne der Ärzte geht, solidarisieren sie sich mit der EU und ihren Budgetbegrenzungen.

Der Premier verstieg sich schließlich sogar zu der Äußerung: "Die seit mehreren Wochen streikenden Ärzte und Krankenschwestern werden von ausländischen Kräften manipuliert." Und in gewohnter religiöser Einfalt fügte er hinzu: "Die Teufel bleiben aktiv." Sein Parteifreund Tadeusz Cymanski präzisierte diese Aussage in einem späteren Interview. Es gehe um den "Kampf mit den Mächten des Schlechten, den Mächten der Finsternis", gab der Sejm-Abgeordnete zu Protokoll.

Dass solcherlei Aussagen weder Lapsus noch bloße Rhetorik sind, machte die Regierung deutlich, als sie eine völlig friedliche Demonstration von Krankenschwestern auf einer Verkehrsstraße brutal auflöste. "Sie haben uns wie Kriminelle behandelt", sagt die Präsidentin der polnischen Krankenschwesternvereinigung, Izabella Szczepaniak, "wie Hooligans in einem Stadion." Mehrere Frauen mussten ins Krankenhaus eingeliefert werden. Kaczynski und sein Gesundheitsminister Religa haben mehrfach deutlich gemacht, dass sie die gesamten Proteste der Pfleger und Ärzte für illegal halten und der Einsatz der Polizei daher prinzipiell legitim sei.

In den letzten zwei Jahren hat sich die Regierung auf eine solche Konfrontation mit den Arbeitern vorbereitet. Die Kaczynskis haben im gesamten Staatsapparat wichtige Posten mit ihren Leuten besetzt, die staatlichen Medien unter ihre direkte Kontrolle gestellt und mit der Gründung des "Zentralen Antikorruptionsbüros" (CBA) eine Institution geschaffen, die einzig dem Premier unterstellt ist und polizeiliche wie geheimdienstliche Befugnisse in sich vereint.

Erst kürzlich wurde die CBA benutzt, um dem Chef des Koalitionspartners "Samoobrona" (Selbstverteidigung), Andrzej Lepper, einen Korruptionsskandal anzudichten und ihn so unter Druck zu setzen und auf Linie zu bringen. Der rechtspopulistische Bauernführer hatte mit Blick auf die miesen Umfragewerte seiner Partei Verständnis für die streikenden Krankenhausbeschäftigten geäußert.

In den Medien wurde verbreitet, dass 30 kranke Patienten wegen des Streiks evakuiert werden mussten. Bilder von Angehörigen, die Ärzte anschrieen und verunglimpften, flimmerten über die Bildschirme. In Wirklichkeit haben die Streikenden in allen Krankenhäusern eine Notversorgung organisiert.

Gleichzeitig zur repressiven und medialen Kampagne gegen die Streikenden plant die Regierung weitere Angriffe auf das Gesundheitssystem, indem sie dessen Privatisierung forciert. Regierungschef Jaroslaw Kaczynski hat bereits angekündigt, ein nationales Referendum über die Frage der Privatisierung der Krankenhäuser durchzuführen. Diese Frage müsse diskutiert werden, weil ansonsten die öffentlichen Finanzen angesichts der Lohnforderungen der Beschäftigten ruiniert würden. "Das wäre absolut unverantwortlich."

Der parteilose Gesundheitsminister Zbigniew Religa, der eigentlich der oppositionellen, neoliberalen Bürgerplattform (PO) näher steht, hatte sich schon zu Beginn seiner Amtszeit vor zwei Jahren den Aufbau einer privaten Krakenversicherung zum Ziel gesetzt. Polnische Bürger sollten sich mit einer privaten Krankenversicherung eine bessere Gesundheitsversorgung sichern. So verspricht er sich Mehreinnahmen für die Kliniken, denen es zur Zeit verboten ist, Patienten privat abzurechnen. Außerdem solle so die Korruption in den Krankenhäusern bekämpft werden.

In Wirklichkeit bedeutet das nur die Legalisierung der Bestechungspraxis. Wer genug Geld hat, sich privat zu versichern oder den Aufenthalt aus eigener Tasche zu bezahlen, kommt ganz nach oben auf die Warteliste, kann in einem komfortablen Zimmer wohnen und erhält beste ärztliche Versorgung. Dem Rest bleibt nur übrig, ewig als Pauschalpatient auf ein mieses Zimmer mit schlechter Versorgung zu warten - oder zu sterben.

Auch die von Kaczynski vorgeschlagene vollständige Privatisierung der Krankenhäuser bedeutet für die Mehrheit der Bevölkerung, von der 12,8 Prozent von weniger als 100 Euro im Monat leben müssen, eine weitere Verschlechterung der Gesundheitsversorgung. Sollte dieser Bereich direkt dem Profitstreben der herrschenden Elite untergeordnet werden, führt das automatisch zu einer Orientierung am Geldbeutel der Menschen und nicht an ihrer Gesundheit und Bedürftigkeit.

Dass es der Regierung bei ihren Plänen nicht um die Interessen der Pfleger und Ärzte geht, von denen nur ein kleiner Teil von der Privatisierung profitieren würde, zeigt auch ihre Reaktion auf die Abwanderung von Krankenhausbeschäftigten ins europäische Ausland. Dieser Entwicklung soll nicht durch ausreichende Lohnerhöhungen, sondern durch die Integration von Spezialkräften aus den ehemaligen Sowjetrepubliken entgegengewirkt werden.

Die Perspektive der Gewerkschaften

Die Gewerkschaften haben dem Frontalangriff der Regierung nicht das geringste entgegenzusetzen. Sie haben die Proteste schon zu Beginn entwaffnet, indem sie den Streik aus seinem Zusammenhang gerissen und als isolierten ökonomischen Kampf dargestellt haben. Der Vizevorsitzende der Ärztegewerkschaft OZZL, Tomasz Underman, betonte mehrfach, dass es sich keinesfalls um einen politischen Streik handle. Die OZZL erklärte sich prinzipiell sogar mit der Privatisierung von Kliniken einverstanden.

Als die Regierung Lohnerhöhungen für die Ärzte ausschloss und die Streiks für illegal erklärte, reagierte die Gewerkschaft beschwichtigend. Der Präsident Lech Kaczynski sei einfach nicht über die Situation in den Krankenhäusern informiert gewesen. Kaczynski werde die Forderungen der Ärzte in Zukunft sicherlich unterstützen. Nun hat die Gewerkschaft der Krankenpfleger ihre Proteste bereits ohne Ergebnisse zurückgefahren und ausgesetzt.

Indem die Gewerkschaftsführer die Angriffe der Regierung verharmlosen und den Streik von den politischen Fragen trennen, mit denen die Umstrukturierung des Gesundheitswesens verbunden ist, führen sie den Streik direkt und bewusst in eine Niederlage. Sollte am Ende eine Lohnerhöhung von einigen Prozenten herauskommen, sind es solche "Erfolge", mit denen die Straße zur Privatisierung gepflastert wird, die sowohl für die Mehrheit der Krankenhausbeschäftigten als auch die polnischen Arbeiter insgesamt katastrophale Folgen hätte.

Die beschwichtigende und zurückhaltende Position der Gewerkschaften hat aber auch schon Arbeiter des Gesundheitssektors zu einem Ausbruch aus der bürokratischen Zwangsjacke veranlasst. 200 Ärzte einer großen Warschauer Klinik besetzten in einem wilden Streik eine Straße in der Nähe ihres Arbeitsplatzes, ohne dies mit der OZZL abzusprechen. Der Leiter des Streikkomitees der Klinik, Maciej Jedrzejowski, erklärte später, dass die Aktion ein Ausdruck der Verzweiflung und Frustration der Ärzte gewesen sei.

Auch wenn solch militante Aktionen und ein organisatorischer Bruch mit den Gewerkschaften zu begrüßen sind, reichen sie doch nicht aus, die vereinten Kräfte der polnischen Regierung, des Staates und der Medien herauszufordern. Die Kaczynski-Regierung wurde nur von einem Bruchteil der Wahlberechtigten gewählt und hält sich nur in einer instabilen Koalition mit rechtsextremen Parteien an der Macht. Umfragen zeigen, dass die ohnehin geringe Unterstützung der Regierung immer weiter schrumpft.

Die Regierung kann sich nur an der Macht halten, weil jede ernsthafte Opposition fehlt. Millionen von Arbeitern haben nur Verachtung für die Kaczynskis übrig, aber sie erinnern sich auch mit Grausen an die Politik ihrer Vorgänger - der poststalinistischen SLD.

Eine ernsthafte Bewegung gegen die Regierung muss eine Bilanz der kapitalistischen Restauration - und insbesondere der Rolle, die Solidarnosc bei der Vorbereitung dieser Restauration spielte - ziehen. Sie muss die Machenschaften der Poststalinisten ebenso aufdecken, wie die Politik ihrer Helfershelfer in den Gewerkschaften. Die Arbeiter im Gesundheitssystem müssen eine breite politische Bewegung aufbauen und sich anderen Gruppen von Arbeitern zuwenden, um in Kooperation mit ihren europäischen und internationalen Kollegen einen Kampf gegen Privatisierung und zur Verteidigung der Gesundheits- und Sozialsysteme aufzunehmen. Eine solche Bewegung kann nur auf sozialistischer Grundlage aufgebaut werden.

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